3 / 2016

Dr. Alexander Verhoeven, Frankfurt a. M.

Zum Olympia-Jahr 2016: Krise in Brasilien – neue Chancen für deutsche Unternehmen?

Die Insolvenz der brasilianischen OGX-Gruppe hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Dies liegt zum einen in der drastischen und rasanten Wertvernichtung für den – deutschstämmigen – Hauptaktionär Eike Batista begründet. Zum anderen sind zahlreiche deutsche Unternehmen und Investoren in Brasilien engagiert – und fragen sich, was im Rahmen von Insolvenzen bzw. Sanierungen in Brasilien zu beachten ist.

I. Überblick

Nicht zuletzt nach den erneuten Insolvenzen im Zusammenhang mit dem angeschlagenen Petrobras-Konzern rückt dabei immer mehr das 2005 durch das Nova Lei de Falências e de Recuperação de Empresas (LFR) in das brasilianische Recht eingeführte Verfahren zur gerichtlichen Sanierung, die sog. Recuperação Judicial in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (vgl. zuletzt die Entscheidung der brasilianischen Justiz auch die Verfahren über die beiden internationalen Gesellschaften der OGX-Gruppe, OGX International GMBH und OGX Austria GMBH – beide mit Sitz in Wien – in Brasilien zu eröffnen, dazu Campana Filho, Revista Comercialista, Ano 4, Volume 13, 28 ff.). Ähnlich dem deutschen sog. „Schutzschirmverfahren” nach § 270b InsO (dazu Vallender, GmbHR 2012, 450 ff.) ist dieses in erster Linie ein Sanierungsverfahren unter dem Schutz des Insolvenzgerichts. Deutsche Unternehmen können hier mit Tochtergesellschaften selbst bzw. als Gläubiger involviert sein oder am Zukauf von Gesellschaften aus einem krisenbefangenen Konzernverbund interessiert sein.

II. Der Ablauf der Recuperação Judicial

Das Verfahren teilt sich in drei Phasen auf:

1. In der ersten Phase (Fase Postulatória) hat das Unternehmen dem Gericht zusammen mit dem Antrag auf Verfahrenseröffnung eine detaillierte Begründung seines Antrags und des Nutzens des Verfahrens im vorliegenden Fall beizufügen. Als Nachweis der Gründe der finanziellen Krise gehören zu den mit dem Antrag einzureichenden Dokumenten u.a.:

  • die aktuellen Bilanz(en), die auch einen aktuellen Liquiditätsstatus (mitsamt Prognose für die Zukunft) enthalten sollten;

  • sämtliche Informationen und Dokumente über die einzelnen Gesellschaften des Unternehmens sowie ihre Eigentümer bzw. Anteilseigner;

  • jeweils eine Liste der Gläubiger und der Angestellten zum Zeitpunkt des Antrags.

Das Gericht geht die mit dem Antrag eingereichten Unterlagen detailliert durch und entscheidet daraufhin, ob es dem Antrag stattgibt oder nicht. Eine Frist für diese Entscheidung des Gerichts gibt es nicht. Das Gericht kann zwar für seine Entscheidungsfindung u.a. die Erstellung von Sachverständigengutachten zur Klärung streitiger Sachverhalte oder sogar die Staatsanwaltschaft zur weiteren Aufklärung von potentiell kriminellen Hintergründen mit einschalten (vgl. Art. 187 LFR), doch liegt nach den bisherigen Erfahrungen mit diesem 2005 eingeführten Institut des brasilianischen Insolvenzrechts der durchschnittliche Zeitablauf bis zur gerichtlichen Entscheidung bei fünf Tagen.

Sollte das Gericht zu einer negativen Einschätzung gelangen, schließt sich sofort danach ein normales Insolvenzverfahren über das Unternehmen an. Gibt das Gericht dagegen dem Antrag statt, bestellt es zeitgleich den für die Überwachung des Verfahrens zuständigen Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter (Administrador Judicial), der auch eine juristische Person sein kann. Zudem beginnt mit der Stattgabe eine feste Frist von 180 Tagen, innerhalb derer das Verbot der Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner gilt (Art. 52 LFR).

2. Die zweite Phase (Fase Deliberativa) beginnt ab dem Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntgabe der Eröffnungsentscheidung. Der Schuldner und seine Berater haben sodann 60 Tage Zeit, um den Gläubigern und dem Gericht den eigentlichen Plan zur finanziellen Restrukturierung zur Abstimmung vorzulegen (Art. 53 LFR). Sollte es innerhalb dieses Zeitraums nicht zur Planvorlage kommen, beginnt das normale Insolvenzverfahren. Eine Möglichkeit zur Verlängerung dieser Frist gibt es nicht.

Kommt es zur fristgerechten Planvorlage, haben die Gläubiger 30 Tage Zeit (gezählt von der durch den Insolvenzrichter veranlassten Veröffentlichung des Erhalts des Sanierungsplans an, vgl. Art. 55 LFR), um dem Gericht eventuelle Bedenken gegen den Plan mitzuteilen. Werden innerhalb der Frist von 30 Tagen keine Bedenken gegenüber dem Planinhalt geäußert, dann wird dieser in Vollzug gesetzt (Art. 58 LFR), und es beginnt Phase drei. Sollte es Gegenstimmen von Seiten der Gläubiger geben (eine einzige reicht aus), dann setzt das Gericht eine außerordentliche Versammlung der Gläubiger des Unternehmens an (vgl. Art. 41 – 45 LFR). Diese Versammlung darf nicht später als 150 Tage nach Verfahrenseröffnung liegen. Die teilnehmenden Gläubiger werden nach Rangklassen (I – III) eingeteilt. Zur Annahme des Plans durch die Versammlung braucht es in den Klassen I und II zum einen:

  • die Summenmehrheit, also die Mehrheit nach den jeweiligen Forderungsbeträgen der abstimmenden Gläubiger;

  • die einfache Mehrheit der Anwesenden nach Köpfen (diese reicht für Gläubiger der Klasse I, vgl. Art. 45 § 2 LFR).

3. Die dritte Phase (Fase Executória) betrifft die Ausführung des Planinhalts und die Erfüllung der dort getroffenen Bestimmungen. Der Schuldner bleibt im Sanierungsverfahren, bis alle im Plan vorgesehenen Bestimmungen erfüllt sind. Nach zwei Jahren muss dieser Prozess abgeschlossen sein. Werden bis spätestens zum Ablauf der zwei Jahre nicht alle Vorgaben erfüllt oder kommt es innerhalb dieser Frist zu Verstößen gegen die im Plan festgelegten Vorgaben, dann geht das Verfahren automatisch in ein Insolvenzverfahren über. In einem solchen Folge-Insolvenzverfahren werden die Rechte der Gläubiger wieder so behandelt, wie sie vor der Regelung durch den Sanierungsplan bestanden haben.

Die Überwachung der Einhaltung der Planvorgaben durch den Schuldner erfolgt durch den Insolvenzverwalter und die Gläubiger (Art. 22, 27 LFR). Der Insolvenzverwalter muss dem Gericht einen monatlichen Bericht über die Aktivitäten des Schuldners vorlegen und sämtliche Auffälligkeiten und Unregelmäßigkeiten im Verfahrensverlauf melden. Zudem hat er zu jeder Zeit den Gläubigern auf Antrag Einsicht in Verfahrensunterlagen zu ermöglichen oder sonst zu informieren. Sowohl die Gläubiger (einzeln oder in Form der Gläubigerversammlung oder des Gläubigerausschusses) als auch der Insolvenzverwalter sind im Rahmen ihrer Überwachungstätigkeit berechtigt bei dem Gericht die Auflösung des Sanierungsverfahrens und sofortige Eröffnung eines normalen Insolvenzverfahrens zu beantragen, wenn der Schuldner von den Vorgaben des Plans abweicht.

III. Unterschiede zum Schutzschirmverfahren nach deutschem Insolvenzrecht

Trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeit zum Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO – zu nennen ist hier vor allem die Tatsache, dass beide Verfahren keine Option für die in Praxis und Literatur immer wieder geforderte außergerichtliche Sanierung darstellen (vgl. u.a. Bork, ZIP 2011, 2035 ff.) – bestehen einige beachtenswerte Unterschiede im Rahmen des Regelungswerks der Recuperação Judicial.

Die wohl auffälligsten Unterschiede liegen zum einen in der fehlenden Pflicht zur Antragstellung (da im brasilianischen Insolvenzrecht keine offiziellen Insolvenzgründe normiert werden). Zum anderen ist das brasilianische Sanierungsverfahren, wie zu Zeiten der Konkursordnung, als eigenes vom Insolvenzverfahren unabhängiges Verfahren ausgestaltet.

Genau diese beiden Punkte haben auch in Deutschland die Diskussionen in der Genese des nationalen Sanierungsrechts (von der Einführung der InsO bis hin zum ESUG und den zwei weiteren Stufen zur Modernisierung des Insolvenzrechts) mitbestimmt. Die starre Grenze für die Insolvenzauslösung ist auch nach Einführung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und des Schutzschirmverfahrens noch immer prominenter Kritik ausgesetzt; vor allem wegen des vermeintlichen Widerspruchs zur Sanierungspflicht der Geschäftsleitung eines in die Krise geratenen Unternehmensträgers (s. hierzu vor allem K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 64 Rz. 131 ff.). Zudem hat es auch in neuerer Zeit immer wieder Stimmen gegeben, welche die Wiedereinführung eines zweigleisigen Insolvenzverfahrens-Systems gefordert haben; dies vor allem vor dem Hintergrund, dass ein spezielles Sanierungsverfahren unabhängig von der mit negativer Konnotation belegten Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durchgeführt werden sollte (vgl. Paulus, DB 2008, 2523 ff.).

IV. Was deutsche Unternehmen beachten sollten

1. Nach Art. 48 LFR kann der Antrag auf Eröffnung des Sanierungsverfahrens ausschließlich vom Schuldner selbst gestellt werden. Die fehlende Antragsverpflichtung führt dabei grundsätzlich zu mehr Flexibilität für das krisenbefangene Unternehmen und potentielle Investoren; z.B. beim Versuch einer außergerichtlichen übertragenden Sanierung (Zukauf aus der Krise).

2. Nach Ablauf des 180-Tage-Zeitraums für das Verbot von Vollstreckungsmaßnahmen können alle anhängigen Sachen wieder aufgenommen oder/und neue Maßnahmen gegen den Schuldner eingeleitet werden. Kosten, die den Gläubigern durch die Teilnahme am Verfahren der Recuperação Judicial entstehen, können nicht gelten gemacht werden.

3. Die Ansprüche der Gläubiger gegen die Schuldnerin zum Zeitpunkt des Beginns des Verfahrens werden vom Insolvenzverwalter festgestellt. Hierfür untersucht dieser zum einen die Unterlagen des Schuldners (wobei die Gläubiger jederzeit einen Anspruch auf Auskunft und Information gegen den Insolvenzverwalter haben), zum anderen können aber auch die Gläubiger diesen Prozess durch Einreichung eigener Unterlagen zu ihren Ansprüchen verkürzen. Eine solche Anmeldung der Ansprüche braucht mindestens:

  • Namen und Adresse, unter der die Kommunikation in diesem Verfahren erhalten und bearbeitet werden kann

  • Höhe, Ursprung und Klasse des Anspruchs;

  • alle beim Gläubiger etwa vorhandenen Dokumente zum Nachweis des auf diese Weise geltend gemachten Anspruchs.

4. Der Insolvenzverwalter hat 45 Tage Zeit um eine Gläubigerliste zu fertigen und alle Beteiligten darauf hinzuweisen, wo er diese zur Prüfung durch die Gläubiger auslegt. Sodann haben die Gläubiger 10 Tage Zeit, um diese Liste zu prüfen und eventuell einen Einspruch gegen Form und/oder Höhe der Berücksichtigung ihrer Ansprüche beim Gericht einzulegen.

5. Die Gläubiger werden in der Gläubigerversammlung vertreten (Assembléia-Geral de Credores), können aber auch die Einrichtung eines Gläubigerausschusses, der mit Vertretern der einzelnen Rangklassen besetzt wird, beantragen (Comitê de Credores). Um in der Gläubigerversammlung stimmberechtigt zu sein, müssen sich die Gläubiger in eine Liste eintragen lassen. Jeder Gläubiger kann sich in der Versammlung und bei Abstimmungen auch vertreten lassen.

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Rechtsanwalt, WELLENSIEK Rechtsanwälte PartG mbB.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 20.09.2016 14:37