03 / 2017

Wolfgang Dötsch, Richter am Oberlandesgericht, Köln

Führende elektronische Akte in EHUG-Sachen?


I. Verordnung über elektronische Aktenführung

In GmbHR 16/2015, R 241 f. wurde vorgestellt, dass in den beim LG Bonn konzentrierten EHUG-Verfahren nach §§ 335, 335a HGB die Justiz in einem Leuchtturmprojekt zaghaft erste Schritte in die neue Welt des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Aktenführung wagt. Zusammen fiel dies mit dem Aufbau eines zentralen IT-Betriebs unter der Ägide des beim OLG Köln eingerichteten zentralen IT-Dienstleisters der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen (ITD).

Anlass der Berichterstattung war seinerzeit der „Erlass der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den ordentlichen Gerichten in Beschwerdeverfahren gemäß § 335a Handelsgesetzbuch (ERVVO EHUG)” vom 17.11.2014 (GV.NRW 2014, 762), mit der basierend auf § 335a Abs. 4 HGB i.V.m. § 110a Abs. 1 OWiG der elektronische Rechtsverkehr eröffnet wurde. Seitdem ist – wie man in Köln so schön sagt – viel Wasser den Rhein hinuntergegangen. Es ist auch im e2hug-Projekt – das so heißt, weil in „EHUG”-Verfahren die elektronische und ergonomische (= zweimal „e”) Aktenführung erprobt wird und das Projekt wegen der Vielzahl der Beteiligten nur im Einvernehmen machbar war (deswegen trotz § 184 GVG „hug”) – einiges passiert: Die Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs hat zwar erwartungsgemäß noch wenige elektronische Eingänge von außen „produziert”. Das hat der Pilotierung keinen Abbruch getan, zumal das – und das war wichtiger – Bundesamt für Justiz selbst elektronische Akten führt und so das LG Bonn bei der Aktenübersendung nach § 335a Abs. 4 S. 1 HGB i.V.m. § 110d Abs. 3 OWiG (auch) durch Übermittlung von elektronischen Dokumenten bedienen kann. Damit konnte seit dem Pilotstart am 27.5.2015 in zuletzt sieben Kammern für Handelssachen erfolgreich die durchgehende elektronische Aktenführung getestet werden – mit rechtlich führender Papierakte, aber in heute fast 5000 Verfahren (zum Pilotbetrieb auch Sczech, NJW-Beil. Nr. 4/2016, 107 ff.).

Doch damit ist es seit dem 12.12.2016 in allen neu eingehenden Verfahren vorbei: Die „Verordnung über die elektronische Aktenführung bei den ordentlichen Gerichten in Beschwerdeverfahren gemäß § 335a des Handelsgesetzbuches” vom 21.11.2016 (EAktVO EHUG) hat von der Verordnungsermächtigung in § 335a Abs. 4 S. 1 HGB i.V.m. § 110b OWiG Gebrauch gemacht und die führende elektronische Aktenführung angeordnet. Zugleich wurde der Pilotbetrieb ausgedehnt, so dass nunmehr alle EHUG-Kammern auf dem gleichen (elektronischen) Stand arbeiten.


II. „Neuland eAkte”

In IT-Projekten geht es zum einen um eine größtmögliche Ergonomie der IT-Systeme und das Erreichen der Akzeptanz (fast) aller User. Das ist nur durch gute und in Dialog mit der Fachlichkeit entwickelte Softwarelösungen machbar, und hier schneidet die in NRW entwickelte Rahmenanwendung „e2A” gut ab. Der 1 1/2jähige Pilotbetrieb hat eine Fülle von Anpassungswünschen mit sich gebracht, die teilweise schon umgesetzt werden konnten.

Auch mit Blick auf die Akzeptanzfrage ist in § 3 EAktVO EHUG zudem nur angeordnet, dass Entscheidungen und Verfügungen in elektronischer Form erlassen werden „sollen” – also nicht zwingend müssen. Angesichts dieser Soll-Regelung konnte die Streitfrage dahinstehen, ob eine verbindliche Einführung die richterliche Unabhängigkeit verletzen würde (so Assmann in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 298a Rz. 6). Es ist aber zu hoffen, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen vollelektronisch arbeiten. Denn die Papierverfügung bzw. der -beschluss müsste in die elektronische Form überführt werden, und nach h.M. fallen vom Gericht selbst erzeugte Papier-Originale nicht unter die Transferregelung in § 110b OWiG (Gürtler in Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 110b Rz. 3; vgl. auch BT-Drucks. 15/4667, S. 47 ff.). Diese Lücke wurde durch § 4 Abs. 2 EAktVO EHUG geschlossen, der pragmatisch eine Übertragung durch Scannen anordnet – doch was passiert dann mit dem Papieroriginal, muss es dafür eine „Hybrid-Akte” geben?

Nicht nur an solchen kafkaesken Fragen sieht man: Der Übergang in die eAkte ist für die Anwender – tief verhaftet im papiergesteuerten Justizbetrieb – ein Quantensprung. Er bringt nicht nur Lästigkeiten, sondern neue Rechtsfragen mit sich: Von der fast absurd anmutenden Problematik der elektronischen Behandlung eines Erlassvermerks nach § 38 Abs. 3 S. 3 FamFG wurde in GmbHR 16/2015, R241 f. berichtet: Der in der Papierwelt so einfache Erlassvermerk auf dem Beschluss wird analog § 315 Abs. 3 S. 2 u. 3 ZPO in einem eigenen elektronischen Dokument von der Servicekraft festgehalten, qualifiziert elektronisch signiert und „untrennbar” mit dem gerichtlichen Beschluss – den der Richter zuvor signiert haben muss – verbunden. Ein Manko bleibt nicht nur dabei der sperrige Umgang mit Signaturkarten zum Ersetzen der Unterschrift: Die gesetzlichen Vorgaben gehen von der – in Massenverfahren hinderlichen – Einzel-Signatur aus, doch erlaubt die im Pilotbetrieb eingesetzte Software eine Stapelsignatur, mit der mit einer PIN-Eingabe am Kartenleser bis zu 99 Dokumente gleichzeitig signiert werden. So kann quasi in eine „Unterschriftenmappe” gearbeitet werden, und die Unterschriften (= qualifiziert elektronische Signaturen) werden „in einem Rutsch” gesetzt. Die rechtliche Zulässigkeit einer Stapelsignatur ist freilich nicht gesichert. Auf den ersten Blick scheint das vergleichbar mit dem Fertigen massenhafter Unterschriften mittels Durchschlagpapiers (Kohlepapier). Insofern bestehen Bedenken, ob ein Durchschlag eine eigenhändige Unterschrift darstellt, weil die Möglichkeit von Fälschungen besteht (so BPatG v. 5.6.2002 – 7 W [pat] 43/01 BeckRS 2013, 00192; a.A. LAG Schleswig-Holstein v. 14.4.1983 – 2 [3] Sa 668/82, BeckRS 1983, 30819905). Bei genauerem Hinsehen hinkt der Vergleich aber, weil bei der Stapelsignatur nicht eine Unterschrift „kopiert” wird, sondern technisch mit einer PIN-Eingabe ein „Bündel” selbständiger Signaturen erstellt wird.

Im e2hug-Piloten finden elektronisch erlassene gerichtliche Entscheidungen ihren Weg zu den Adressaten, an die eine Bekanntgabe (§§ 40 f. i.V.m. § 15 FamFG) erfolgen muss, aus technischen Gründen noch nicht in elektronischer Form, sondern in Papier. Die gesetzlichen Vorgaben regeln diese ungewöhnliche und bei führender eAkte ungewollte Konstellation nicht; es ist ein Aktenausdruck nach § 110d OWiG zum Zwecke der Zustellung zu fertigen. Zuzustellen ist nach h.M. eine beglaubigte Abschrift (Brinkmann in Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 5. Aufl. 2016, § 15 Rz. 15; Sternal in Keidel, FamFG, 18. Aufl. 2014, § 15 Rz. 13; a.A. für Ausfertigung Abramenko in Prütting/Helms, FamFG, 3. Aufl. 2014, § 41 Rz. 3), und man hat zu prüfen, ob der sog. Transfervermerk nach § 110d Abs. 1 S. 2 OWiG i.V.m. § 298 Abs. 2 ZPO), der (unzureichend wenige) Informationen über die Signatur erhält, mit auszudrucken und auszufertigen ist – was in dem Massengeschäft erheblichen Aufwand macht, zur ZPO-Zustellung aber der h.M. entspricht (Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 317 Rz. 5). Ein Trost mag sein, dass bei Zustellung einer einfachen statt einer beglaubigten Abschrift über § 189 ZPO Heilung eintritt (BGH v. 22.12.2015 – VI ZR 79/15, NJW 2016, 1517) und Entsprechendes hier gelten dürfte; doch müssen u.U. die gesetzlichen Vorgaben nach Erkenntnissen aus den eAkten-Piloten der Revision unterzogen werden.

In diesem Zusammenhang ein Wort zur EAktVO EHUG: Zwar liegt zwischenzeitlich – in Anlehnung an ihr Gegenstück zur Eröffnung des elektronischen Rechtsverkehrs – eine Musterrechtsverordnung für die Einführung einer eAkte vor, doch wurde für e2hug bewusst eine schlank gehaltene Verordnung erlassen, die – wichtig für eine Pilotierung – Spielräume lässt. Der Verzicht auf Papier klingt für den Außenstehenden zwar wenig spannend – haben viele Unternehmen schon lange elektronische Akten. Für die Justiz ist es dennoch ein schwieriger Schritt, und das e2hug-Projekt ist bundesweit vorne mit dabei. Aus e2hug wird sich bald Anpassungsbedarf für rechtlich-organisatorische Vorgaben (Aktenordnung, Geschäftsordnung etc.) ergeben. In EHUG-Sachen sind zudem die gesetzlichen Grundlagen in § 335a Abs. 4 HGB nicht glücklich: Die Verweisung im HGB auf einzelne (nur) „entsprechend” anzuwendende Vorschriften des OWiG ist eingeführt worden, nachdem man im Jahre 2007 in § 335 HGB a.F. zunächst nur für das behördliche Verfahren eine Rechtsgrundlage für die elektronische Akte schaffen wollte. Dies wiederum war ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drucks. 16/6627, S. 8) geschehen, weil dem Gesetzgeber „zweifelhaft” erschien, ob die im HGB nicht ausdrücklich in Bezug genommenen Rechtsvorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes die Voraussetzungen einer sicheren Rechtsgrundlage in diesem Bereich erfüllen. Dem Gesetzgeber erschienen die Bestimmungen des OWiG im Hinblick auf den „besonderen Charakter des Ordnungsgeldes” zudem „besser geeignet.” Als man im Jahre 2009 in § 335 Abs. 5a HGB a.F. elektronischen Rechtsverkehr und Aktenführung (auch) bei Gericht ermöglichen wollte, hat man – ohne Problembewusstsein (BT-Drucks. 16/12407, S. 92) – auch dafür auf die OWiG-Regelungen verwiesen. Näher gelegen hätte es, auf die sonst über § 335a Abs. 1 HGB anwendbaren Vorschriften des FamFG abzustellen, also auf § 14 FamFG, der selbst auf die Bestimmungen der ZPO Bezug nimmt.


III. Rechtsfragen eines zentralen IT-Betriebs

Rechtsfragen hat zudem der zentrale IT-Betrieb aufgeworfen, nachdem man zunächst geklärt hatte, dass eine zentrale IT für die Justiz nicht unter dem Dach der Exekutive aufzubauen ist (Bertrams, NWVBl 2010, 209 ff.). Da die zentrale Datenhaltung und -verarbeitung als Datenverarbeitung kraft Auftrags einzuordnen ist, war eine gesetzliche Grundlage und/oder eine den Anforderungen des in Rechtssachen einschlägigen § 11 BDSG genügende (Verwaltungs-)Vereinbarung vonnöten. Eine solche wurde für e2hug bilateral zwischen der Präsidentin des LG Bonn als datenschutzrechtlich verantwortliche Stelle und dem ITD getroffen. Um das für einen landesweiten Einsatz in NRW praktikabel zu machen, hat das Justizministerium inzwischen mit dem ITD eine Rahmenvereinbarung getroffen, der die zu zentralisierenden Gerichte formularmäßig beitreten können. Das Regelungskonzept ist den Vorgaben u.a. der § 11 Abs. 2 BDSG, § 11 Abs. 1 S. 4 DSG NRW genügend auf Basis eines IT-Sicherheitskonzepts erstellt, in Abstimmung mit dem Landesbeauftragten für Datenschutz (§ 22 Abs. 3 DSG NRW) konzeptioniert und so für andere behördliche und/oder gerichtliche IT-Zentralisierungsprojekte wegweisend. Dass datenschutzrechtlichen Vorgaben zu beachten sind, muss für die Justiz selbstverständlich sein – zumal eine unzulässige Datenübermittlung und ein Löschungsanspruch droht, wenn die Privilegierung aus § 3 Abs. 8 BDSG für Auftragsdatenverarbeiter mangels Beachtung der Vorgaben nicht greift.


IV. Ausblick

Der erste Schritt in die führende elektronische Gerichtsakte ist auch in Nordrhein-Westfalen gemacht. Im e2hug-Pilot ist ein weiterer Meilenstein erreicht und die nächsten Monate werden spannende Erkenntnisse mit sich bringen, von denen andere IT-Projekte nur profitieren können. Zum Schluss eines: Alles beim Alten bleibt es im EHUG-Rechtsbeschwerdeverfahren: Sowohl elektronischer Rechtsverkehr als auch elektronische Aktenführung sind dort (noch) nicht eröffnet. Nach § 110d OWiG erfolgt die Aktenübersendung zum OLG Köln durch Übermittlung von „Aktenausdrucken.” Das ist in Ordnung, Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut!

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Wolfgang Dötsch ist Richter am OLG Köln und war bis zum 31.12.2016 in dem für EHUG-Sachen zuständigen 28. Zivilsenat sowie als IT-Dezernent tätig.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 23.02.2017 08:55