23 / 2017

Prof. Dr. Christoph Teichmann

Der Fall „Polbud“: Formwechsel in die Briefkastengesellschaft

Der grenzüberschreitende Formwechsel erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Auch in Deutschland sind zahlreiche Fälle bekannt geworden, in denen ausländische Gesellschaften die Rechtsform der GmbH annahmen, oder in denen deutsche Gesellschaften in eine ausländische Rechtsform wechselten. Der Sache nach ergibt sich aus dem Formwechsel ein Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts. Der Vorteil gegenüber der grenzüberschreitenden Verschmelzung (§§ 122a ff. UmwG) besteht in der Identitätswahrung. Der formwechselnde Rechtsträger ist vorher wie nachher derselbe. Er muss sich nicht auflösen und es findet keine Vermögensübertragung statt. Diese Kontinuität aller vertraglichen und sonstigen rechtlichen Beziehungen ist der wesentliche Pluspunkt des Formwechsels.


I. Formwechsel und Niederlassungsfreiheit

Eine gesetzliche Regelung für den grenzüberschreitenden Formwechsel existiert zwar nicht. Der EuGH hat jedoch in seinen Entscheidungen Sevic (EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03, GmbHR 2006, 140 m. Komm. Haritz), Cartesio (EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06, GmbHR 2009, 86 m. Komm. W. Meilicke) und Vale (EuGH v. 12.7.2012 − Rs. C-378/10, GmbHR 2012, 860 [LS]) deutlich gemacht, dass grenzüberschreitende Umwandlungen unter dem Schutz der Niederlassungsfreiheit stehen. Sie sind durch sukzessive Anwendung der beteiligten Rechtsordnungen zu vollziehen (ausführlich zum Verfahren Knaier/Pfleger, GmbHR 2017, 859 ff.). Die beteiligten Mitgliedstaaten müssen also konstruktiv zusammenwirken, um den Gesellschaften ihre unionsrechtlich zugesprochene Bewegungsfreiheit zu gewähren. Das ist nicht selbstverständlich. So manches deutsche Handelsregister konnte erst durch das zuständige OLG davon überzeugt werden, einen grenzüberschreitenden Formwechsel einzutragen. Und wer angesichts des „Brexit“ seine englische Gesellschaft in eine deutsche umwandeln möchte, steht vor einem noch größeren Problem: Das englische Companies House hat unlängst einen deutschen Notar davon in Kenntnis gesetzt, dass es einen grenzüberschreitenden Formwechsel nicht eintragen wird (s. www.heckschen-vandeloo.de/cdn/user_upload/content/pdf/rechtsprechung/schreiben-companies-house-08-02-2017.pdf).


II. Zankapfel „Sitzaufspaltung“

Der nächste logische Schritt wäre der Erlass einer EU-Sitzverlegungsrichtlinie, um alle Unwägbarkeiten hinsichtlich des Formwechselverfahrens zu beseitigen und um die unionsrechtlich geforderte Zusammenarbeit der nationalen Registerbehörden sekundärrechtlich zu verankern. Die Europäische Kommission allerdings zögert. Sie hat dafür nachvollziehbare politische Gründe. Ihre gesellschaftsrechtlichen Vorschläge der jüngeren Vergangenheit wurden von den Mitgliedstaaten und vom Europäischen Parlament bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt. Und eine Sitzverlegungsrichtlinie würde ähnlich kontroverse Diskussionen auslösen.

Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage der „Sitzaufspaltung“. Soll es einer Gesellschaft gestattet werden, im Zuge des Formwechsels ihren Registersitz von demjenigen der wirtschaftlichen Tätigkeit zu trennen? Viele Interessengruppen, allen voran die Gewerkschaften, sind dagegen. Denn die Sitzaufspaltung ermöglicht eine Umgehung gesellschaftsrechtlich anzuknüpfender Schutznormen. Zu diesen gehört in Deutschland die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Ein Unternehmen, das von einer ausländischen Gesellschaft geführt wird, unterliegt nicht der deutschen Mitbestimmung, selbst wenn alle Arbeitnehmer in Deutschland tätig sein sollten. Etwa hundert Fälle sind bekannt, in denen sich ein Unternehmen, dessen wirtschaftlicher Hauptsitz in Deutschland liegt, durch Gründung einer ausländischen Gesellschaft der Mitbestimmung entzogen hat. Eine Richtlinie, die einen grenzüberschreitenden Formwechsel mit Sitzaufspaltung zuließe, würde die Flucht aus der Mitbestimmung noch einmal deutlich erleichtern. Die politischen
Erfolgsaussichten eines solchen Vorschlags tendieren gegen Null.

III. Freie nachträgliche Rechtswahl

In diesem Umfeld war die Polbud-Entscheidung des EuGH v. 25.10.2017 – Rs. C-106/16, in diesem Heft m. Komm. Bochmann/Cziupka, GmbHR 2017, 1261 – in dieser Ausgabe – mit Spannung erwartet worden. Sie beantwortet nämlich die grundsätzliche Frage, ob sich eine Gesellschaft überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann, wenn sie einen Formwechsel plant, der in die Sitzaufspaltung führt. Im Ausgangsfall (ausführlich Oplustil/Sikora, EWS 2017, 134 ff.) hatte eine Gesellschaft polnischen Rechts beschlossen, ihren Satzungssitz nach Luxemburg zu verlegen. Das Ziel bestand in einem Wechsel des anwendbaren Gesellschaftsrechts, aus der polnischen sollte also eine luxemburgische Gesellschaft werden. Eine wirtschaftliche Aktivität in Luxemburg war nicht geplant, auch die Hauptverwaltung des Unternehmens sollte in Polen bleiben. Dies war jedenfalls der Sachverhalt, von dem der Gerichtshof auf Basis des Vorabentscheidungsersuchens auszugehen hatte. Das polnische Oberste Gericht legte ihm explizit die Frage vor, ob die europäische Niederlassungsfreiheit einen grenzüberschreitenden Formwechsel auch dann schützt, wenn nur der Satzungssitz verlegt wird, während die Hauptverwaltung im Ursprungsland verbleibt.

Im Verfahren vor dem EuGH hatten Deutschland und andere Mitgliedstaaten auf die Missbrauchsgefahren einer solchen „isolierten Satzungssitzverlegung“ hingewiesen (zum Diskussionsstand Stiegler, Grenzüberschreitende Sitzverlegungen nach deutschem und europäischem Recht, 2017, S. 157 ff.). Sie ermöglicht die freie Wahl des anwendbaren Gesellschaftsrechts – und zwar nicht nur, was weithin anerkannt ist, im Zeitpunkt der Gründung, sondern auch in einem späteren Stadium, wenn die Gesellschafter möglicherweise feststellen, dass ihnen das ursprünglich gewählte Gesellschaftsrecht zu restriktiv erscheint.

Wenn mit der Wahl eines anderen Gesellschaftsrechts auch eine Tätigkeit im Zielstaat verbunden ist, lässt sich dagegen wenig einwenden. Die freie Standortwahl mit allen dazugehörenden auch rechtlichen Rahmenbedingungen ist der Kern der Niederlassungsfreiheit. Wenn allerdings das fremde Gesellschaftsrecht nur deshalb gewählt wird, weil das Gesellschaftsrecht des Staates, in dem das Unternehmen aktiv ist und bleiben will, unerwünscht erscheint, dann klingt das nach „Rosinenpicken“. Und das geht, wie die Kanzlerin weiß, in Europa gar nicht.

Der EuGH hat nun in der Polbud-Entscheidung das Rosinenpicken erlaubt. Seiner Ansicht nach erfasst die Niederlassungsfreiheit auch eine Satzungssitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat, bei der die Gesellschaft ohne Verlegung des tatsächlichen Sitzes in eine Gesellschaftsform des Zielstaats umgewandelt werden soll. Er weicht damit von den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott ab, die bei einer solchen Gestaltung den Vorgang der Niederlassung vermisst (dazu Stiegler, GmbHR 2017, 650 f.). Denn „Niederlassung“ bedeutet im Sinne der ständigen EuGH-Rechtsprechung eine auf Dauer angelegte tatsächliche Aktivität im Aufnahmestaat. Von einer Niederlassung in Luxemburg kann allerdings nach dem zugrundeliegenden Sachverhalt keine Rede sein. Es wird dort weder die Hauptverwaltung noch eine sonstige Aktivität der Gesellschaft angesiedelt. Es entsteht, mit anderen Worten, eine sog. Briefkastengesellschaft.

Offenbar nimmt der EuGH eine andere Perspektive ein als die Generalanwältin (näher Teichmann/Knaier, GmbHR 24/2017 – erscheint demnächst): Er setzt bei der Autonomie der Mitgliedstaaten an, die über ihre Gründungsregeln und über das Anknüpfungselement für Gesellschaftsrecht frei entscheiden dürfen. Immerhin hatte sich Luxemburg bereits dafür entschieden, die bislang polnische Gesellschaft in seine Rechtsordnung aufzunehmen. Diese Entscheidung ist zu respektieren, so wird man das Urteil lesen dürfen. Der EuGH deutet in seinem Leitsatz an, dass die Satzungssitzverlegung ihre Legitimation im Grunde nicht aus der Niederlassungsfreiheit bezieht, sondern aus dem Umstand, dass sich die Gesellschaft „unter Einhaltung der dort geltenden Bestimmungen“ in eine Gesellschaftsform des Zielstaates umwandeln wollte und vom Ursprungsstaat daran (in unverhältnismäßiger Weise) gehindert worden war.


IV. Auslandsregister auf Kaperfahrt

Mit diesem Hinweis auf die autonome Entscheidung des Zielstaates, eine Gesellschaft dem eigenen Recht zu unterwerfen, ist allerdings ein zweites Problem verbunden. Luxemburg hatte den Formwechsel eingetragen, ohne sich vorher mit dem polnischen Handelsregister abzustimmen. Einen ähnlichen Fall hatte kürzlich das OLG Frankfurt a. M. zu entscheiden (OLG Frankfurt a. M. v. 3.1.2017 – 20 W 88/15, GmbHR 2017, 420; dazu Stiegler, GmbHR 2017, 392 ff.). Dort hatte eine GmbH den Formwechsel nach Italien angestrebt und das italienische Register hatte den Vorgang schnurstracks eingetragen, während das deutsche Handelsregister noch mit der Prüfung der Formalien beschäftigt war. Das ist ein grober Verstoß gegen die unionsrechtliche Rücksichtnahmepflicht und widerspricht dem gängigen Verfahren bei grenzüberschreitenden Strukturmaßnahmen: Zuerst stellt das Herkunftsland eine Bescheinigung aus, welche die Beachtung der inländischen Verfahrensschritte bestätigt, anschließend kann der Zielstaat nach Prüfung seiner eigenen Rechtsregeln den Vorgang mit konstitutiver Wirkung eintragen (vgl. § 122k UmwG für die grenzüberschreitende Verschmelzung sowie Art. 8 Abs. 8 SE-VO für die Sitzverlegung einer SE). Völlig verfehlt ist daher die Entscheidung des OLG Frankfurt, auf die Ausstellung einer inländischen Bescheinigung zu verzichten und stattdessen alle in Deutschland aufgetretenen Verfahrensmängel kraft der italienischen Eintragung für geheilt zu erklären (krit. Teichmann, ZIP 2017, 1190 ff.).

In Deutschland wird man sich die Frage stellen müssen, wie auf derartige Auswüchse der grenzüberschreitenden Formwechselfreiheit zu reagieren ist. Wenn sich Staaten wie Luxemburg oder Italien auf Kaperfahrt begeben und deutsche Gesellschaften entführen, muss man dem nicht tatenlos zusehen und schon gar nicht auf eine in den Sternen stehende EU-Richtlinie warten. Der erste Schritt wäre eine autonome Regelung des grenzüberschreitenden Formwechsels im deutschen Umwandlungsgesetz. Die unionsrechtlich passende Blaupause dafür ist das Verfahren für die grenzüberschreitende Verschmelzung. Das macht der EuGH in einer Nebenbemerkung deutlich, wenn er darauf hinweist, dass der Schutz der Gläubiger durch Sicherheitsleistung gewährleistet werden könne (weshalb die vom polnischen Recht vorgesehene Auflösung unverhältnismäßig ist).


V. Regelungsprogramm für Deutschland

Das Umwandlungsgesetz sollte deutschen Handelsregistern die klare Vorgabe machen, dass sie ihre Prüfung auf die Ausstellung einer Bescheinigung auszurichten haben, die anschließend der ausländischen Registerbehörde vorgelegt werden kann. Die Antragsteller eines grenzüberschreitenden Formwechselverfahrens hätten dadurch Rechtssicherheit gewonnen. Ihnen würde aber auch verdeutlicht, dass sie sich vor Ausstellung der inländischen Bescheinigung nicht an das ausländische Register zu wenden brauchen. Denn eine vorauseilende Eintragung im Ausland muss Deutschland nicht anerkennen. Und eine Doppelnationalität der Gesellschaft läge gewiss nicht im Interesse ihrer Gesellschafter.

Die größte Herausforderung besteht in einer Regelung der Mitbestimmungsfrage. Man sollte darüber nachdenken, ob die Mitbestimmung weiterhin am Vorliegen einer inländischen Rechtsform anknüpfen muss. In der Erzberger/TUI-Entscheidung (dazu Meier, GmbHR 2017, R264 f.) zählt der EuGH die Mitbestimmung zu den Arbeitsbedingungen, die sich grundsätzlich nach dem Recht des Arbeitsorts richten. Darauf könnte der deutsche Gesetzgeber aufbauen, um die Mitbestimmung für grenzüberschreitende Sachverhalte so zu regeln, dass den innerhalb Deutschlands tätigen Arbeitnehmern ihre Mitwirkungsrechte nicht entzogen werden (eingehend Teichmann, ZIP 2016, 899 ff.). Sollte dasselbe Unternehmen auch im Ausland Arbeitnehmer beschäftigen (was bei einer klassischen Briefkastengesellschaft nicht der Fall ist), müsste man allerdings diesen Arbeitnehmern ebenso Mitwirkungsrechte zugestehen. Nur dann wird man vor dem Unionsrecht den Eingriff in die Organisationsstruktur einer ausländischen Rechtsform rechtfertigen können.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 30.11.2017 13:02