04 / 2018

Dr. Benjamin Wagner, LL.M.

Prozessrisikoanalyse: Ein Mittel zur Gewinnung rationalerer Entscheidungen in Unternehmen?

GmbH-Geschäftsführer sind aufgrund der sie treffenden Sorgfaltspflichten gehalten, Forderungen der Gesellschaft gegen Dritte geltend zu machen. Die Geschäftsführung darf Ansprüche grundsätzlich weder verjähren lassen noch auf sie verzichten (OLG Koblenz v. 12.5.1999 – 1 U 1649/97, GmbHR 1999, 1201). Anders verhält es sich freilich dann, wenn es für einen (teilweisen) Verzicht im Einzelfall vernünftige Gründe gibt, etwa weil der Anspruch erkennbar fraglich, die Zahlungsfähigkeit des Schuldners zweifelhaft oder die Durchführung eines Prozesses langwierig ist (Fleischer in Münch.Komm.GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 43 Rz. 101). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass gerade in komplexeren Angelegenheiten die Unternehmensführung von ihrer Rechtsabteilung oder von ihren externen Rechtsberatern einen klaren und eindeutigen Ratschlag erwartet, ob Forderungen der Gesellschaft notfalls gerichtlich durchgesetzt werden sollen. Mit allgemeinen Floskeln auf Basis eines anwaltlichen Bauchgefühls („wir haben gute Chancen“) oder einer nebulösen „Es-kommt-drauf-an“-Empfehlung ist ihr dabei nicht geholfen.

Wie sich Prozesschancen und Prozessrisiken in einem geordneten Verfahren erfassen, strukturieren und bewerten lassen, erläutern nun Risse und Morawietz äußerst anschaulich und verständlich in ihrem jüngst erschienenen Handbuch (Risse/Morawietz, Prozessrisikoanalyse. Erfolgsaussichten vor Gericht bestimmen, 2017). Danach erfolgt die Prozessrisikoanalyse im Wesentlichen in drei Schritten (instruktiv auch Hagel, SchiedsVZ 2011, 65 ff.): Zunächst werden die maßgeblichen Weichenstellungen des jeweiligen Falles in einem sog. Entscheidungsbaum abgebildet. Sodann wird für jede Weichenstellung (Entscheidungsknoten) die Eintrittswahrscheinlichkeit beziffert. Schließlich wird in einem dritten Schritt die Werthaltigkeit der Forderung (Gesamterwartungswert) in Euro und Cent ermittelt.


I. Erstellung eines Entscheidungsbaums

Der erste Schritt der Prozessrisikoanalyse besteht darin, (ggf. unter Einsatz entsprechender Software) einen Entscheidungsbaum zu erstellen. Hierzu muss der Unternehmensjurist oder der anwaltliche Berater zunächst prüfen, welche Sach- und Rechtsfragen für den jeweiligen Fall entscheidungserheblich sind, also den Ausgang eines möglichen Rechtsstreits beeinflussen werden. Insoweit unterscheidet sich die Prozessrisikoanalyse nicht von der klassischen Herangehensweise an die Begutachtung eines juristischen Sachverhalts.

Sind sämtliche entscheidungsrelevanten Punkte durch saubere Subsumtion des Sachverhalts unter die entsprechend einschlägigen Rechtsnormen ermittelt, lassen sie sich jetzt in einen Entscheidungsbaum umsetzen, indem sie dort als Entscheidungsknoten abgebildet werden. Dazu formuliert der Ersteller der Prozessrisikoanalyse jeden anspruchsrelevanten, voraussichtlich umstrittenen Punkt als direkte Frage (z.B.: „Ist der Kaufgegenstand mangelhaft?“, „Hat der Anspruchsgegner den Schaden verursacht?“, „Ist der Anspruch verjährt?“ usw.).

Diese Weichenstellungen werden mit den jeweiligen Ausgangsalternativen pro Anspruchsvoraussetzung als Entscheidungsknoten in ein Flussdiagramm, den Entscheidungsbaum, eingetragen. Wichtig ist hierbei, dass sämtliche Entscheidungsknoten/Fragen eine echte Weggabelung im Sinne einer Entweder-Oder-Entscheidung darstellen, also die gestellte Frage nicht mit einem „Sowohl als auch“ beantwortet werden kann. Zudem darf es keinen dritten Weg außerhalb der angebotenen Entscheidungsalternativen geben.

Um den Entscheidungsbaum übersichtlich zu gestalten, empfiehlt es sich, in das Diagramm zunächst die Entscheidungsknoten einzuzeichnen, die entweder auch bei einer klassischen juristischen Anspruchsprüfung zuerst erörtert werden und/oder bei denen eine Beantwortungsalternative zur Verneinung des Anspruchs führt und so weitere Verästelungen erübrigt.


II. Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der einzelnen Entscheidungsknoten

In einem zweiten Schritt ist nun für jeden einzelne Entscheidungsknoten anhand von Eintrittswahrscheinlichkeiten zu bestimmten, ob es dem Unternehmen gelingen wird, das Gericht nach den einschlägigen Regeln der Darlegungs- und Beweislast vom Vorliegen der einzelnen Anspruchsvoraussetzungen zu überzeugen. Maßgeblich ist insofern allein die Perspektive des Entscheiders; bei der gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen also die des Richters. Wie der Analyst selbst die Frage in tatsächlicher bzw. rechtlicher Hinsicht beurteilt, ist unerheblich.

Um die Eintrittswahrscheinlichkeiten festzulegen, stehen verschiedene Methoden zur Verfügung (subjektive Einschätzung durch einen Fachmann, Gruppenbeurteilung, neutrale Einschätzung durch externen Experten, Umfrage bei sachkundigen Personen etc.). Regelmäßig wird die Wahl der Methode vornehmlich davon abhängen, mit welchem Aufwand (Zeit, Kosten) der Fall analysiert werden soll. Wichtig ist allerdings, dass in der Prozessrisikoanalyse die Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht willkürlich geschätzt, sondern strukturiert ermittelt werden. So liegt es z.B. nahe, Rechtsfragen von Juristen und Sachverhaltsfragen von kompetenten Sachverständigen (zur Vermeidung von Kosten ggf. auch aus der Fachabteilung des Unternehmens) beurteilen zu lassen.

Die so geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass eine Anspruchsvoraussetzung dargelegt und bewiesen werden kann oder eben nicht, wird als Prozentzahl in den Entscheidungsbaum eingetragen und visualisiert. Hierbei ist es ratsam, die geschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit kurz schriftlich zu begründen, um sie für den Leser der Prozessrisikoanalyse leichter nachvollziehbar zu machen und eine nachträgliche Anpassung der Analyse zu ermöglichen, falls sich die Umstände oder Erkenntnismöglichkeiten später ändern.


III. Ermittlung des Gesamterwartungswerts

Nachdem die einzelnen Eintrittswahrscheinlichkeiten ermittelt worden sind, berechnet der Analyst im dritten Schritt der Prozessrisikoanalyse den Gesamterwartungswert der geltend zu machenden Forderung. Gemeint ist hiermit der Geldwert, den eine einzuklagende Forderung unter Berücksichtigung der erkannten Prozessrisiken aktuell hat, also den Wert, zu dem ein Dritter die Forderung vom Gläubiger übernehmen würde (Hagel, SchiedsVZ 2011, 65 [66]). Voraussetzung für eine solche Berechnung ist natürlich, dass die denkbaren Prozessausgänge in Geldwerten ausgedrückt werden können. Andernfalls ist die Ermittlung eines in Geld bezifferten Erwartungswerts nicht möglich. Die Prozessrisikoanalyse bleibt dann auf die Berechnung der Eintrittswahrscheinlichkeiten beschränkt.

Die Ermittlung eines in Geld bezifferten Gesamterwartungswerts geschieht, indem der Analyst zunächst für jeden einzelnen Ast des Entscheidungsbaums die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der das Ergebnis dieses Asts eintreten wird. Dazu werden die Einzelwahrscheinlichkeiten für jeden zum jeweiligen Ast gehörenden Entscheidungsknoten multipliziert. Hier zeigt sich, dass die Prozesschancen einer Partei keineswegs gut sind, wenn z.B. an vier aufeinanderfolgenden Entscheidungsknoten jeweils eine Wahrscheinlichkeit des Obsiegens von 75 % besteht. Tatsächlich folgt daraus eine Prozesschance von lediglich knapp 32 % (0,75 x 0,75 x 0,75 x 0,75).

Sodann wird der Einzelerwartungswert des jeweiligen Asts errechnet, der sich aus dem Produkt der Eintrittswahrscheinlichkeit des Asts mit dem Ergebnis des Asts ergibt (z.B. für den Fall des vollständigen Obsiegens die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Falles mit dem Wert der durchzusetzenden Forderung). Gleichermaßen verfährt man mit allen anderen Ästen des Entscheidungsbaums.

Der Gesamterwartungswert der Forderung ist schließlich die Summe der so errechneten Einzelerwartungswerte.


IV. Vorteile und Schwächen der Prozessrisikoanalyse; Fazit

Ob die Prozessrisikoanalyse ein geeignetes Analysetool ist, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern hängt vom jeweiligen Einzelfall ab.

Ein wesentlicher Vorteil dieser analytischen Herangehensweise liegt jedenfalls darin, dass Konflikte strukturell erfasst und die entscheidungsrelevanten Aspekte in dem Entscheidungsbaum in leicht verständlicher Form sichtbar gemacht werden. Die Komplexität des Rechtsstreits wird nicht künstlich zu einer vagen Gesamtaussage reduziert, sondern durch die Zerlegung des Konflikts in seine Einzelteile organsiert (Risse/Morawietz, Prozessrisikoanalyse, 2017, S. 101). Der Anwender zwingt sich hierdurch, sich mit den Argumenten und Gegenargumenten hinsichtlich des Vorliegens der relevanten Anspruchsvoraussetzungen und ihren Rechtsfolgen und damit den Stärken und Schwächen der eigenen Sachverhaltsdarlegung und Rechtsauffassung auseinanderzusetzen (Steinbrecher in Vaagt/Groß [Hrsg.], Beck’sches Formularbuch für die Rechtsabteilung, 2017, S. 654). Die Prozessrisikoanalyse trägt somit zu einer Verbesserung des Risikobewusstseins bei und zeigt, welche Punkte des Rechtsstreits vornehmlich aufgearbeitet werden müssen und bei welchen Punkten eine weitere Aufarbeitung (z.B. durch Einholung aufwändiger Privatgutachten) wirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Auch erleichtert die Visualisierung des Streitstoffes die Kommunikation über den Konflikt (Eidenmüller, ZZP 2005, 5 [14]). Schließlich vereinfacht die Prozessrisikoanalyse durch einen Vergleich des errechneten Gesamterwartungswerts mit den geschätzten Kosten der streitigen Austragung des Konflikts auch die Entscheidung, ob sich die gerichtliche Geltendmachung einer Forderung lohnt oder ob besser der Verhandlungsweg beschritten oder die Forderung gleich ganz abgeschrieben werden soll.

Was die Prozessrisikoanalyse hingegen nicht leisten kann und auch nicht leisten soll, ist eine mathematisch exakte Prognose des Prozessausgangs. So hilft die Prozessrisikoanalyse auch nicht darüber hinweg, dass Annahmen über Wahrscheinlichkeiten gerichtlicher Entscheidungen immer bis zu einem gewissen Grade spekulativ sind (Elsing, BB 2017, 2644; dies einräumend auch Risse/Morawietz, Prozessrisikoanalyse, 2017, S. 113). Gleichwohl bietet die Prozessrisikoanalyse durch ihre strukturierte und systematische Herangehensweise einen interessanten Weg, die Rationalität von Entscheidungen zu erhöhen. Fundierter als das herkömmliche „Über-den-Daumen-Peilen“ des Anwalts oder des mit der Sache betrauten Unternehmensjuristen ist sie allemal. Ob sich der nicht zu unterschätzende Zeit- und Kostenaufwand für eine Prozessrisikoanalyse allerdings rechnet, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser spannenden Thematik und dem äußerst anschaulichen und eingängigen Buch von Risse und Morawietz lohnt so oder so.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 07.02.2018 11:29