EuGH 28.6.2018, C‑203/16 P

Sanierungsklausel stellt keine unzulässige Beihilfe dar

Sowohl die EU-Kommission als auch das Gericht der Europäischen Union haben den selektiven Charakter der "KStG, Sanierungsklausel" anhand eines fehlerhaft bestimmten Referenzsystems beurteilt. Sie haben zu Unrecht allein die Regel des Verfalls von Verlusten als maßgebliches Referenzsystem eingestuft und die allgemeine Regel des Verlustvortrags von diesem Referenzsystem ausgenommen.

Der Sachverhalt:
Die Heitkamp BauHolding GmbH (HBH) ist eine Körperschaft, die seit 2008 von Insolvenz bedroht war. Im Februar 2009 hatte ihre Muttergesellschaft die Anteile von HBH erworben, um die beiden Gesellschaften zu verschmelzen und HBH dadurch zu sanieren. Zum Zeitpunkt dieses Erwerbs erfüllte HBH die Voraussetzungen für die Anwendung der Sanierungsklausel. Dies war in einer verbindlichen Auskunft des Finanzamtes aus November 2009 festgestellt worden. Außerdem erhielt HBH am 29.4.2010 einen Vorauszahlungsbescheid zur Körperschaftsteuer 2009, in dem die gemäß dieser Klausel vorgetragenen Verluste berücksichtigt wurden.

Mit Schreiben vom 24.2.2010 unterrichtete die EU-Kommission die Bundesrepublik Deutschland über ihren Beschluss, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf die streitige Maßnahme einzuleiten. In Art. 1 des streitgegenständlichen Beschlusses stellte die Kommission fest, dass die auf der Grundlage von § 8c (1a) [KStG] gewährte staatliche Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei. In Art. 4 gab sie der Bundesrepublik auf, alle im Rahmen der in Art. 1 des Beschlusses genannten Beihilferegelung gewährten unvereinbaren Beihilfen von den Begünstigten zurückzufordern. Nach Art. 6 hatte Deutschland der Kommission u.a. eine Liste dieser Begünstigten zu übermitteln.

Mit BMF-Schreiben vom 30.4.2010 wies das Ministerium die deutsche Finanzverwaltung an, die Maßnahme nicht mehr anzuwenden. Im Dezember 2010 wurde der Vorauszahlungsbescheid vom 29.4.2010 ersetzt. Die Sanierungsklausel fand keine Anwendung mehr. Im Januar 2011 erhielt HBH u.a. Vorauszahlungsbescheide zur Körperschaftsteuer für die folgenden Jahre, ebenfalls ohne Anwendung der Sanierungsklausel. Im April 2011 erhielt HBH einen Bescheid über die Körperschaftsteuer 2009. Aufgrund der Nichtanwendung von § 8c Abs. 1a KStG war HBH nicht in der Lage, die am 31.12.2008 bestehenden Verluste vorzutragen.

Am 19.4.2011 hob das Finanzamt die verbindliche Auskunft auf. Am 22.7.2011 übermittelte die Bundesrepublik der Kommission eine Liste der Unternehmen, die durch die streitige Maßnahme begünstigt worden waren. Sie übermittelte ferner eine Liste der Unternehmen, bei denen verbindliche Auskünfte über die Anwendung der Sanierungsklausel aufgehoben worden waren. In dieser Liste war HBH genannt.

Das EuG wie die Klage des Insolvenzverwalters der HBH auf Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/527/EU der Kommission vom 26.1.2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands "KStG, Sanierungsklausel" ab (Urt. v. 4.2.2016, T‑287/11). Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel des Insolvenzverwalters war vor dem EuGH erfolgreich.

Die Gründe:
Die Nrn. 2 und 3 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 4.2.2016 (T‑287/11) werden aufgehoben. Der Beschluss 2011/527/EU der Kommission vom 26.1.2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands "KStG, Sanierungsklausel" wird für nichtig erklärt.

Es genügte der Hinweis, dass aus den in den Rn. 82 bis 107 des vorliegenden Urteils genannten Gründen der erste Teil des ersten Klagegrundes von HBH begründet ist, da mit ihm gerügt wird, dass die Kommission fälschlich allein die Regel des Verfalls von Verlusten als das für die Beurteilung des selektiven Charakters der streitigen Maßnahme maßgebende Referenzsystem angesehen habe. Da der selektive Charakter der streitigen Maßnahme von der Kommission somit anhand eines fehlerhaft bestimmten Referenzsystems beurteilt wurde, ist der streitgegenständliche Beschluss für nichtig zu erklären.

Wie auch der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, geht aus der in den Rn. 90 bis 93 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Selektivität einer steuerlichen Maßnahme anhand eines Referenzsystems, das aus einigen Bestimmungen besteht, die aus einem breiteren rechtlichen Rahmen künstlich herausgelöst wurden, nicht zutreffend beurteilt werden kann. Durch den Ausschluss der allgemeinen Regel des Verlustvortrags von dem im vorliegenden Fall maßgebenden Referenzsystem hat das Gericht somit dieses System offensichtlich zu eng definiert.

Soweit das Gericht diese Schlussfolgerung darauf gestützt hat, dass die streitige Maßnahme ihrem Wortlaut nach eine Ausnahme von der Regel des Verfalls von Verlusten sei, ist darauf hinzuweisen, dass die verwendete Regelungstechnik, wie bereits in Rn. 92 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kein für die Bestimmung des Referenzsystems ausschlaggebender Gesichtspunkt sein kann.

Nach alledem ist der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes von HBH begründet, ohne dass insoweit die übrige zu seiner Stützung vorgebrachte Argumentation geprüft zu werden braucht. Ferner ist festzustellen, dass das Gericht auf der Grundlage seiner rechtsfehlerhaften Würdigung, wonach die Kommission mit ihrer Feststellung, dass das im vorliegenden Fall für die Beurteilung des selektiven Charakters der streitigen Maßnahme maßgebende Referenzsystem allein aus der Regel des Verfalls von Verlusten bestehe, keinen Fehler begangen habe, das weitere Vorbringen von HBH geprüft hat, mit dem zum einen das Fehlen eines prima facie selektiven Charakters der streitigen Maßnahme und zum anderen ihre Rechtfertigung mit der Natur und dem Aufbau des Steuersystems dargetan werden sollte.

Wie sich aus der in den Rn. 83 und 86 bis 89 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung ergibt, führt aber ein Fehler bei der Bestimmung des Referenzsystems, anhand dessen der selektive Charakter einer Maßnahme zu beurteilen ist, zwangsläufig dazu, dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist. Unter diesen Umständen ist dem Rechtsmittel stattzugeben, und die Nrn. 2 und 3 des Tenors des angefochtenen Urteils sind aufzuheben, ohne dass der zweite und der dritte Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes oder der erste Rechtsmittelgrund geprüft zu werden brauchen.

Linkhinweis:

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.07.2018 11:13
Quelle: InfoCuria - Rechtsprechung des Gerichtshofs

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