18 / 2018

Dr. Jens-Uwe Hinder, LL.M.

Die digitale Betriebsstätte – Digitalisierung des internationalen Steuerrechts?

I. Einleitung

Untersuchungen der Europäischen Kommission zufolge beträgt der effektive Ertragsteuersatz von Unternehmen der sog. digitalen Wirtschaft im Durchschnitt lediglich die Hälfte dessen, was Unternehmen der „traditionellen“ Wirtschaft zahlen (Factsheet Europäische Kommission „Fair Taxation for the Digital Economy“; Fehling, IStR 2014, 638 [639]). Dies ist maßgeblich auf die Konzeption der Einkommensverteilung im internationalen Steuerrecht zurückzuführen, die vor etwa 100 Jahren entwickelt wurde (Cloer/Gerlach, FR 2018, 105 [107]), wonach die beschränkte Steuerpflicht grundsätzlich an das Vorliegen einer Betriebsstätte anknüpft. Unter einer solchen Betriebsstätte ist eine ortsfeste physische Einrichtung zu verstehen, die der steuerlich relevanten Tätigkeit dient (§ 12 AO, für DBA-Zwecke gilt eine abweichende Definition, zu den Unterschieden Gersch in Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 12 Rz. 19).

Mit dem Aufkommen digitaler Geschäftsmodelle sind zunehmend Gesellschaften entstanden, die ihre Tätigkeit weltweit ausüben, ohne in den meisten Ländern eine solche physische Präsenz inne zu haben – nämlich rein digital über das Internet. Vor diesem Hintergrund wird seit einiger Zeit intensiv diskutiert, ob der Begriff der Betriebsstätte im Zeitalter der Digitalisierung noch ein taugliches Kriterium der Besteuerung darstellt, oder ob dieser nicht in gleicher Weise wie das Geschäftsmodell um eine digitale Komponente erweitert werden muss (Englisch, IStR 2016, 717 [721]).

Da manche Staaten nicht auf internationale Lösungen warten wollten und deshalb bereits nationale Regelungen geschaffen haben, ist der Handlungsdruck in dieser Frage zuletzt deutlich gestiegen (z.B. Großbritannien mit der diverted profits tax, ausführlich hierzu Oppel, IStR 2015, 333 ff.).


II. Begriff und Auswirkungen


1. Konzept der signifikanten digitalen Präsenz

a) International vertreten Fiskalpolitiker die Ansicht, dass auch ohne Bestehen einer physischen Präsenz unter bestimmten, näher zu definierenden Voraussetzungen, allein durch digitale Tätigkeiten eine Betriebsstätte – und damit die Begründung einer beschränkten Steuerpflicht – in einem Staat entstehen soll. Eine solche auf die digitale Tätigkeit abstellende Betriebsstätte wird als „signifikante digitale Präsenz“ oder als „digitale Betriebsstätte“ bezeichnet. Es sind derzeit verschiedene Institutionen (OECD, EU und die Nationalstaaten) mit der Prüfung dieses Konzepts beschäftigt. Auf Ebene der OECD wird eine entsprechende Berücksichtigung im DBA-Musterabkommen in Betracht gezogen, ohne dass insoweit bereits eine Einigung hätte erzielt werden können (es existiert nur ein Interim Report 2018: Inclusive Framework on BEPS, dazu auch Rasch, FR 2018, 441 [442]).

Digitale Dienstleistungen, die zu einer Betriebsstätte führen sollen, werden insbesondere bei Vorliegen der folgenden Charakteristika angenommen: In die Wertschöpfungskette ist kein physisches Element eingebunden (mit Ausnahme von Servern und IT-Tools), der Vertragsabschluss erfolgt über das Internet oder Telefon und die Kundenbeziehung wird ausschließlich über eine Webseite begründet (Geyer in Lüdicke, BEPS-Herausforderungen für die Unternehmen, Digitized Economy, 2015, C.II.). Alternativ soll es auch genügen, dass ein Unternehmer mehrseitige Geschäftsmodelle betreibt, die auf der Ausnutzung personenbezogener Daten basieren und die dafür erforderlichen Daten im Wege einer systematischen Überwachung von Internet-Nutzern in diesem Land gewonnen werden. Zur Begründung einer signifikanten digitalen Präsenz soll es außerdem erforderlich sein, dass die digitale Tätigkeit in dem Staat einen bestimmten Mindestumfang überschreitet (Geyer in Lüdicke, BEPS-Herausforderungen für die Unternehmen, Digitized Economy, 2015, C.II.).

Als Rechtfertigung für diesen mit Einführung einer digitalen Betriebsstätte vorhandenen Systembruch mit den etablierten Grundsätzen des internationalen Steuerrechts wird der Markt als Wertschöpfungsfaktor und dem deshalb besteuerungsrelevanten Nachfrageort angegeben (Übersicht hierzu Cloer/Gerlach, FR 2018, 105 [108]). Es ist fraglich, ob der auf das produzierende Gewerbe abstellende Begriff der Wertschöpfung der Maßstab einer internationalen Steuerabgrenzung bei der Digitalwirtschaft sein kann. Dies gilt umso mehr, wenn für die Ertragsberechnung nicht auf den Gewinn, sondern auf den Umsatz abgestellt wird. Zudem stellt das Sammeln von Daten, welches eine digitale Betriebsstätte begründen würde, noch keine Wertsteigerung dar, da hierzu regelmäßig die Verknüpfung mit weiteren Daten im Ansässigkeitsstaat erforderlich ist (Fehling, IStR 2015, 797 [801]).

b) Ungeachtet etwaiger Bedenken hat die EU-Kommission im März 2018 zwei Richtlinienvorschläge unterbreitet (COM [2018]147 final sowie COM [2018]148 final). Der erste beinhaltet die Einführung einer signifikanten digitalen Präsenz. Diese soll gegeben sein, wenn digitale Dienste über eine digitale Schnittstelle zur Verfügung gestellt werden und außerdem eine bestimmte Umsatzschwelle an solchen digitalen Diensten überschritten wird. Von diesem Konzept der digitalen Betriebsstätte wären z.B. die online-Bereitsteller von Speicherplatz sowie Suchmaschinen- und Wetterdienstwebseiten-Betreiber betroffen (COM [2018]147 final Anhang II [e], [p], [s] i.V.m. Art. 3 Abs. 5 f] des Entwurfs).

Da die Kommission davon ausgeht, dass die Implementierung dieser Richtlinie einige Zeit in Anspruch nehmen wird, hat sie zusätzlich einen zweiten Richtlinienentwurf erarbeitet, der als Übergangslösung bis zur Implementierung der vorgenannten Richtlinie eine neue Steuer zur Besteuerung der Datensammlung bei Nutzern einführen soll („digital services tax“). Der Steuersatz ist mit drei Prozent auf den (letztlich) aus den digitalen Diensten generierten Umsatz veranschlagt, was zu einem erwarteten Steueraufkommen für alle EU-Mitgliedstaaten von etwa 5 Mrd. € pro Jahr führen soll (Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 21.3.2018). Eine Schätzung unter Berücksichtigung der wegen des Systemwechsels zu erwartenden Steuerausfälle liegt bisher nicht vor.

c) Wie auch bei regulären Betriebsstätten müsste ein Prinzip zur Zuordnung von Gewinnen zu diesen „digitalen“ Betriebsstätten geschaffen werden, um den Umfang der Besteuerung zu klären. Wegen der Besonderheiten des Rechtsinstituts der digitalen Betriebsstätte wären die bisherigen Verteilungsschlüssel des Art. 7 OECD-MA (Personalfunktion, Wirtschaftsgüter und Risiken) nicht zielführend, da diesen digitalen Betriebsstätten kein, bzw. fast kein Gewinn zuzuordnen wäre (Cloer/Gerlach, FR 2018, 105 [110]; OECD, Addressing the Challenges of the Digital Economy, Final Report, 2015, Rz. 285; Fehling, IStR 2015, 797 [799]). Lösungsansätze könnten eine pauschale Gewinnzuordnung sein, die aber die Gefahr der Besteuerung von Verlusten mit sich bringen würde, oder die Einführung einer einzelfallabhängigen und vorab bestimmten Verteilungsformel (Cloer/Gerlach, FR 2018, 105 [110]; OECD, aaO, Rz. 287 – 290). Der EU-Richtlinienentwurf will an den bestehenden Verteilungsschlüsseln festhalten, diese aber dahingehend anpassen, dass nicht mehr die Personalfunktion, sondern die über die Schnittstelle erfolgende Geschäftstätigkeit in Bezug auf Daten und Nutzer das maßgebliche Kriterium zur Bestimmung der Funktion sind (Art. 5 Abs. 3 RL-E; Eilers/Oppel, IStR 2018, 361 [368 f.]).

d) Das Konzept der digitalen Betriebsstätte stößt in abkommensrechtlicher Sicht an seine Grenzen, denn es ist in den bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen nicht vorgesehen. Die rein nationale Einführung eines solchen Konzepts ist mit DBA-Staaten ohne deren Mitwirkung an einer Abkommensänderung nur dann möglich, wenn ein treaty override in Kauf genommen wird (Fehling, IStR 2015, 797 [802]; Kofler/Mayr/Schlager, BB 2017, 1815 [1816]).


2. Risiken der Einführung einer signifikanten digitalen Präsenz

Mit dem Konzept der signifikanten digitalen Präsenz gehen erhebliche Risiken einher. Diese betreffen zum einen die zu befürchtenden Reaktionen derjenigen Staaten (insbesondere USA), deren bei ihnen ansässige Unternehmen eine zu erwartende Doppelbesteuerung hinnehmen müssten. Zum anderen könnte ein solcher Systembruch der Präzedenzfall zu einer allgemein stärkeren Berücksichtigung des Absatzmarkts – auch außerhalb der digital arbeitenden Wirtschaft – sein, wie sie von einigen Staaten seit einiger Zeit gefordert wird. Auch eine bloße physische Direktlieferung könnte dann eine Steuerpflicht begründen (dazu Eilers/Oppel, IStR 2018, 361 [370]; zu dieser Ungleichbehandlung auch Geyer in Lüdicke, BEPS-Herausforderungen für die Unternehmen, Digitized Economy, 2015, C.II.). Deutschland als Exportland könnte im Ergebnis deutlich größere Nachteile durch Doppelbesteuerung erleiden, als durch die Etablierung der signifikanten digitalen Präsenz an neuen Steuereinnahmen generiert werden könnte (Cloer/Gerlach, FR 2018, 105 [113]). Jedenfalls erscheinen die Folgen der Änderung eines über viele Jahre gewachsenen Systems schwer vorhersagbar.


3. Alternative Lösungsmodelle

Es bestehen alternative Ansätze zur Lösung des Wunschs der Fiskalpolitik an einer größeren Teilhabe an dem Steueraufkommen der digitalen Wirtschaft. Diese umfassen z.B. die Überprüfung der bestehenden Verrechnungspreisgrundsätze. Konzerninterne Übertragungen von IP könnten danach steuerlich unbeachtet bleiben, wenn hinter diesen Verlagerungen kein wirtschaftlicher Gehalt steht (Commission Expert Group on Taxation of the Digital Economy Report vom 29.5.2014, S. 46; Pinkernell, IStR-LB 2014, 57 [59]). Außerdem könnte auch die Betriebsstättendefinition des Art. 5 OECD-MA dahingehend ausgeweitet werden, dass auch bestimmte, bisher als Vorbereitungs- und Hilfstätigkeiten angesehene Tätigkeiten, wie Auslieferungslager, als Kernfunktion angesehen werden und unter den „traditionellen“ Betriebsstättenbegriff subsumiert werden (Geyer in Lüdicke, BEPS-Herausforderungen für die Unternehmen, Digitized Economy, 2015, C.I.; Fehling, IStR 2014, 638 [642]; Englisch, IStR 2016, 717 [722]; Art. 12 ff. OECD-MLI beinhalten ähnlich gelagerte Regelungen).


III. Fazit

Mit dem Konzept der digitalen Betriebsstätte gehen erhebliche fiskalpolitische Risiken einher. Auch aus rechtlicher Sicht ist ein solcher Systembruch schwer zu vermitteln und es ist außerdem unklar, ob diese Regeln WTO-konform sind (hierzu hinsichtlich des zweiten EU-Richtlinienvorschlags [„digital services tax“] BT-Drucks. 19/2803, S. 6 [Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage]; die US-Regierung geht von einem Verstoß aus, Berichterstattung des Handelsblatts vom 16.4.2018, S. 7; Rasch, FR 2018, 441 [443]). Da auch andere Lösungsmöglichkeiten im Bereich der Verrechnungspreise denkbar sind, bleibt zu hoffen, dass die genannten Bedenken dazu führen, dass das Konzept der digitalen Betriebsstätte noch einmal grundlegend überdacht wird. Ein Systembruch dieser Größenordnung darf nur als ultima ratio für den Fall zur Anwendung kommen, dass sich alle alternativen Ansätze als weniger geeignet erweisen, die fiskalischen Ziele zu erreichen, die mit Einführung der digitalen Betriebsstätte verfolgt werden.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 12.09.2018 13:47