Jürgen Hahn,
Rechtsanwalt, Bonn

"Kleine AG": Unternehmerischer Erfolg einer rechtspolitischen Idee

"Ein kleines AG-Schwesterchen", dies wünschte der Autor zum 100sten Geburtstag der GmbH, als dieser am 18.5.1992 feierlich vom Verlag Dr. Otto Schmidt KG auf dem Bonner Petersberg begangen wurde (GmbHR 1992, 432). Das "Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechtes" ist dann 1994 in Kraft getreten. Initiiert wurde das Rechtsetzungsvorhaben schon im Juli 1985 unter dem Schlagwort "Kleine AG". Ausgangspunkt war der zu behebende Eigenkapitalmangel im Mittelstand, offen aber der richtige Weg dazu.

Während damals vom Gesetzgeber erstmalig zugelassene Unternehmensbeteiligungsgesellschaften nur selbst an die Börse gehen durften, blieb dem Mittelständler in der Rechtsform der GmbH dieser Weg verschlossen. Für den Unternehmer, der zunächst Herr im eigenen Hause bleiben will, bedurfte es einer Alternative, die die Vorzüge der GmbH mit denen der AG vereint, nämlich eine überschaubare innerer Gestaltung und Verwaltung auf der einen Seite und andererseits die freie Übertragbarkeit der Gesellschaftsanteile sowie die spätere Option eines Börsengangs.

Auf über 8.000 AGs mehr als verdreifacht

Daß die Durchsetzung der "Kleinen AG" nicht einfach war, zeigte sich schon daran, daß auf erste Veröffentlichungen hierzu dem Autor von namhafter Stelle vorgeworfen wurde, er wolle eine "neue Periode des Aktienschwindels" einleiten, dies unter Anspielung auf die Gründerzeit. Haltbar war derartige Kritik schon deshalb nicht, weil weder Gesellschafter- noch Gläubigerrechte durch die "Kleine AG" geschmälert wurden. Auch der spätere "Neue Markt" besteht, selbst bei der derzeitigen Krise, auf strengen Börsen- und Publizitätsregeln. Genauso widerlegt der Erfolg der "Kleinen AG" damalige Skeptiker. Während im Jahre 1975 es nur noch knapp über 2.000 Aktiengesellschaften gab – im Zuge der Wiedervereinigung wurden es 1991 dann 2.682 –, so sind es nach einer Zählung des Deutschen Aktieninstituts jetzt schon ca. 8.200.

Eine Vielzahl hiervon werden sogar gleich direkt als "Kleine AG" gegründet. Stellt man in der Beratungspraxis einem "New Economy"-Gründer alternativ AG und GmbH vor, so greift dieser nach Abwägung oft gleich zur AG. In der Gewichtung sind die Gründe zunächst erwartetes besseres Image der AG im Geschäftsverkehr, insbesondere im Hinblick auf erhoffte internationale Tätigkeit und den US-Markt (er kann sich dann auch "C.E.O." nennen). Ein späterer Weg zur Börse, von dem mittlerweile angesichts der Erfolge des "Neuen Marktes" jeder Jungunternehmer träumt, ist ohne weitere Umwandlung erreichbar. Die Belastungsseite mit einem doppelt so hohen Grundkapital und entsprechend höheren Gründungskosten schlägt angesichts vergleichbarer Handhabbarkeit von GmbH und "Kleiner AG" weniger zu Buche.

Mitbestimmungsfreiheit für "Kleine AGs"

Eine der wesentlichen Weichenstellungen für die "Kleine AG" war auch die Abschaffung der Mitbestimmungspflicht für neugegründete Gesellschaften unter 500 Beschäftigten. Zuvor galt nach § 76 Abs. 1 BetrVG 1952 , daß der Aufsichtsrat jeder AG drittelparitätisch mitbestimmt zu sein hatte. Dagegen waren GmbHs und sog. Familien-Aktiengesellschaften hiervon befreit. Bei einer Entscheidung für GmbH oder AG mag auch diese Erleichterung psychologisches Moment sein.

Gerade der "New Economy"-Unternehmer hat ohnehin eigene und andere Vorstellungen über das Verhältnis zu Arbeitnehmern als die Generation zuvor. Das Kapital moderner Dienstleistung sind nicht Maschinenpark, Grundstücke und Gebäude, sondern eben Arbeitswille, Kreativität und das Know How der Mitarbeiter, die "ihr Unternehmen" quasi als eigenes betrachten und deshalb bleiben. Gerade hierfür bietet die "Kleine AG" das geeignete Instrument, denn nur über Aktien lassen sich Mitarbeiterbindung und -beteiligung in moderner Form gestalten. Hierzu gehören auch die vor einiger Zeit eingeführten sog. "Stock-Option-Programme", bei denen nur bedauerlich ist, daß sich die Fiskalverwaltung hieran zu schwer tut. Arbeitnehmerbeteiligung über direkten Aktienbesitz ist schlichtweg moderner.

Deshalb erschrecken auch derzeitige Bastelversuche am System der Betriebsverfassung, die im Gegensatz zu dem mit der "Kleinen AG" erreichtem Fortschritt bei gesetzgeberischem Handeln Tendenzen der 70er Jahre restaurativ wieder aufnehmen. Bemühungen der letzten Legislaturperiode unter dem Stichwort "Standort Deutschland" und "Entbürokratisierung" wirken hier zumindest wie vergessen.

Gesetzgeber muß Wettbewerb der Möglichkeiten anbieten

Was ist nun das richtungsweisende an der Rechtsetzung der "Kleinen AG", das diese von anderen Gesetzesvorhaben unterscheidet, so daß diese Vorbildfunktion für die Zukunft entfalten kann?

Für die gewerbliche Wirtschaft hat die "Kleine AG" die Initialzündung für ein Umdenken von kreditfinanziertem Wirtschaften zur Eigenkapitalorientierung gegeben. Sie ist damit erstes Glied in einer Kette, die den Durchbruch für eine neue Unternehmergeneration bis hin zur Schaffung des "Neuen Markts" mit vorbereitete. Insofern ist die "Kleine AG", wie die Zahlen des Zuwachses mit fast einer Vervierfachung der Aktiengesellschaften belegen, schlichtweg ein Erfolg für die unternehmerische Praxis.

Soweit gesetzgeberisches Handeln angesprochen ist, wäre die "Kleine AG"-Reform ein deutliches Beispiel dafür, daß Entbürokratisierung möglich und realisierbar ist. In der Regel steht doch Rechtsvereinfachung, lang erörtert in Kommissionen und hierfür eingerichteten Gesellschaften vor dem Dilemma, zunächst mühsam Beispiele zu suchen und dann festzustellen, daß doch gewichtige dogmatische Hemmnisse einer Realisierung entgegenstehen. Den Rest besorgen dann oft Vertreter von Interessen, die irgendwo entdecken, daß Umdenken irgendwie ungewohnt und deshalb schädlich sein muß. Zu verweisen ist auch auf das erwähnte Beispiel bei der "Kleinen AG", daß große Industrieverbände zunächst erbitterten Widerstand leisteten.

Wie risikoloses "Auf und Durch" auch für Gesetzgebung realisiert werden könnte, auch dafür wäre die "Kleine AG"-Reform ein Beispiel. Wäre die GmbH durch die "Kleine AG" ersetzt, also GmbH-Gesetz aufgehoben und dafür Vorschriften für die private AG eingeführt worden, so ständen wir vor einem gravierenden Problem. Fehlte uns die GmbH, so könnten wir zu recht die Frage stellen, was falsch gemacht wurde mit der Abschaffung der beliebtesten Rechtsform Deutschlands, zu der im Laufe ihrer Geschichte mehr als 815.000 Unternehmer gefunden haben (s. zuletzt Hansen, GmbHR 1999, 24).

Und doch wäre auch dieser Reformansatz realistisch. Gerade die angelsächsische Praxis kennt mit der "Public Limited" die AG als Kapitalmarktvariante, mit der "Private Limited" die geschlossene, also die GmbH-Form. Der deutsche Gesetzgeber hat sich aber "weiser" entschieden. Er hat mit GmbH und "Kleine AG" zwei konkurrierende Rechtsformen zugelassen, und der Unternehmer wird sich für die für ihn richtige entscheiden können. Damit hat der Gesetzgeber nicht mehr ausschließlich "Numerus clausus"-mäßig regelnd eingegriffen, sondern, und dies ist auch das Besondere an der "Kleine AG", er macht Angebote an die Praxis, die sich im Wettbewerb der besseren Lösung beim Normadressaten bewähren können.

Umdenken gilt auch für den Gesetzgeber

Dieses Umdenken, daß der Gesetzgeber für vergleichbare Interessenlagen alternative Gestaltungsmöglichkeiten anbieten könnte, wäre auch ein Ausweg für andere unlösbar erscheinende Dilemmen jüngster deutscher und europäischer Rechtsgeschichte. Wenngleich hier nicht anzusprechen, wäre es doch eine gewaltige Vereinfachung der Besteuerung von Kursgewinnen bei Wertpapieren, daß z.B. in Ergänzung der bisherigen Vorschriften auch für eine Abgeltungssteuer alternativ optiert werden könnte. Vom Ergebnis der Annahme bei den Betroffenen ließe sich dann risikolos ableiten, ob nicht die Alternative gerade die richtige Lösung war.

Für das Unternehmensrecht bleibt die Frage, ob nicht der "Kleine AG"-Gedanke damit weitergeführt werden sollte, daß zumindest eine in allen europäischen Staaten einheitliche private europäische AG ("Kleine Europa-AG") alternativ angeboten wird, mitbestimmungsfrei ausgestaltet, wenn jetzt die durch das Nadelöhr eines Einigungszwanges gepreßte Europa-AG Charakterzüge eines bizarren Rechtswesens zu tragen scheint (EU-Sozialrat am 20.12.2000). Genauso wäre für die Verwirklichung eines tatsächlichen Binnenmarkts die identitätswahrende Sitzverlegung über die Grenze endlich zuzulassen, was mit dem Angebot der "Europäisierung" nationaler Rechtsformen und deren Fusion nach jeweils nationalem Recht auch Alternativen zur Europa AG schaffen könnte, in dieser Zeitschrift früher schon als "Europabürgerschaft für Unternehmen" propagiert.
 

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