Peter M. Wiesner,
Rechtsanwalt, Brüssel

Sitzverlegung: Wartet der EuGH auf die 14. EU-Richlinie?

Bei Stichworten wie Europa-AG, grenzüberschreitende Sitzverlegung oder gesellschaftsrechtliche Mobilitätshindernisse im Binnenmarkt haben wir uns angewöhnt, in Zeitspannen von mehreren Jahrzehnten zu denken. So hat fast ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten der Römischen Verträge, die uns die Niederlassungsfreiheit auch für Gesellschaften und damit die Freizügigkeit für Unternehmen im Binnenmarkt in Aussicht stellten, immer noch der wenig ermutigende Lutter`sche Lehrsatz seine Gültigkeit, daß wegziehende deutsche Unternehmen zwar ihre Sitzverlegung in das europäische Ausland beschließen können, dort aber nie ankommen, weil sie an der Grenze liquidiert werden (s. z.B. Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl. 1996, S. 41 f.). Inzwischen bestreitet kaum noch jemand, daß es höchste Zeit wird, diesen evident vertragswidrige Zustand schnell zu beseitigen (s. zuletzt Meilicke, GmbHR 2000, 693; Stieb, GmbHR 2000, R 213). Zwei Ereignisse bringen endlich Bewegung:

Folgeentscheidung des EuGH zum "Centros-Urteil"

Zum einen wird die mit Spannung erwartete Folgeentscheidung zum "Centros-Urteil" des EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, GmbHR 1999, 474 gegen Jahresende hoffentlich Licht in das Dunkel des Theorienstreits und der kaum noch zu überblickenden Literaturmenge bringen. Zwar könnte sich das Verfahren, das dem Vorlagebeschluß des BGH v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98, GmbHR 2000, 715 zugrunde liegt, durch einen scheinbar bevorstehenden Vergleich der Parteien schon bald erledigen. Auch das niederländische Kantonengerecht Groningen hat seinen Vorlageantrag v. 27.10.1999 zurückgezogen. Dem EuGH bleibt eine Interpretation seiner "Centros-Entscheidung" indessen nicht erspart. Zum Antrag des AmtsG Heidelberg v. 3.3.2000 – HRB 831 - SNH, ZIP 2000, 1617 ist inzwischen ein weiterer, am 4.12.2000 beim EuGH eingegangener Vorlagebeschluß des Landesgerichts Salzburg v. 27.11.2000 hinzugekommen. Das österreichische Gericht sieht sich als Registergericht durch nationales Kollisionsrecht gehindert, eine nach britischem Recht errichtete Gesellschaft ("Holto Limited"), die dort keinerlei Geschäftstätigkeit entfaltet, in das Firmenbuch einzutragen. Ebenso wie dort wird in Wissenschaft und Praxis noch immer gerätselt, ob sich der EuGH nun von der Sitztheorie verabschiedet hat oder nicht.

Weg frei für die 14. EU-Sitzverlegungs-Richtlinie?

Zum anderen wäre nach dem Nizza-Kompromiß zur Europa-AG (dazu Wiesner, GmbHR 1999, R 301 sowie zum neuesten Stand GmbHR 2001, Heft 7 – erscheint demnächst) jetzt der Weg eigentlich frei für die 14. gesellschaftsrechtliche Richtlinie über die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften. Damit hätten wir auch das sekundärrechtliche Instrumentarium, das der EuGH in der "Daily Mail"-Entscheidung (EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87, NJW 1989, 2186) für die grenzüberschreitende Sitzverlegung noch vorausgesetzt hatte. Die Europa-AG hatte wegen der Mitbestimmungsängste bekanntlich einen ganzen Konvoi von gesellschaftsrechtlichen Folgeprojekten blockiert, der jetzt zu Wasser gelassen werden könnte. Auch der Vorschlag einer gesellschaftsrechtlichen 10. Richtlinie über die grenzüberschreitende Fusion und drei zusätzliche supranationale Rechtsformen wie die Europäische Genossenschaft warten auf ihre Verwirklichung.

Die gesellschaftsrechtliche Überarbeitung des kommissionsinternen Vorentwurfs der 14. Richtlinie aus dem Jahre 1997 (dazu Neye, GmbHR 1997, R 181) ist dabei sicher das kleinere Problem. Schon im Vorfeld besteht fast einmütiger Konsens, daß der Anwendungsbereich der Richtlinie auf Kapitalgesellschaften begrenzt werden sollte, weil hier die Mobilität und Typengleichheit der Gesellschaftsformen in der Union am größten sind.

Was machen wir aber mit der Mitbestimmung? Sie war schließlich die Hauptursache für die jahrzehntelangen Mobilitätshindernisse im Binnenmarkt. Und nichts fürchtet die Bundesregierung – wie alle ihre Vorgänger – mehr als eine etwaige Mitbestimmungsflucht. Deshalb war ausgemacht, die 14. Richtlinie und die anderen Vorhaben an den Beschluß über die Europa-AG anzupassen. Aber wie?

Das Herzstück des Nizza-Modells ist die Verhandlungslösung, nach der es den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern der an der Gründung der Europa-AG beteiligten Unternehmen zunächst erlaubt wird, nach einer passenden Mitbestimmungslösung zu suchen. Bei der grenzüberschreitenden Sitzverlegung gibt es aber nichts zu verhandeln. Die Gesellschaft unterstellt sich nach ihrem Wegzug nur einer anderen Rechtsordnung, behält aber ihre Identität. Soll sie deshalb – ähnlich wie beim Rechtsformwechsel – das deutsche Paritätsmodell mit nach London oder Rom nehmen? Das wäre sicher ganz nach dem Geschmack mancher Befürworter der Sitztheorie, die jeden Mitbestimmungsverlust mit Hinweis die fundamentalen Macht- und Sozialfragen unterbinden wollen. Was machen wir dann aber mit zuziehenden Gesellschaften aus Ländern ohne jede Mitbestimmungstradition? Die müßten, wenn sie wie die wegziehenden Unternehmen ihre Kultur- und Sozialgemeinschaft mitnehmen sollen, mitbestimmungsfrei bleiben.

Man darf sicher sein, daß den Beteiligten in den Brüsseler Institutionen noch einiges einfallen wird, grenzüberschreitenden Sitzverlegungen auch künftig wirksame Hürden in den Weg zu legen. Der EuGH wird auch darüber zu wachen haben, daß sie nicht unüberwindlich und nicht diskriminierend ausfallen.

Klarheit über die 14. EU-Richtlinie werden wir erst haben, wenn nach der Verabschiedung des Richtlinienvorschlags durch die Kommission auch das Brüsseler Gesetzgebungsverfahren sein Ende gefunden hat. Und das nimmt oft Jahre in Anspruch. Wird man den EuGH mit dieser Prognose auf einen künftigen sekundären Rechtsakt zufrieden stellen oder wird er die identitätswahrende Sitzverlegung in das europäische Ausland unmittelbar aus dem Vertrag ableiten, weil er die Anwendung der Gründungstheorie gebietet?
 

Zurück