Vorläufige Übersetzung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GEORGES COSMAS

vom 17. Dezember 1998 (1)

Rechtssache C-272/97

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Bundesrepublik Deutschland

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Mit Gründen versehene Stellungnahme — Kollegialprinzip — Richtlinie 90/605/EWG — Nicht ordnungsgemäße Umsetzung in innerstaatliches Recht"

I — Einleitung

1. Mit der vorliegenden, aufgrund von Art. 169 EG-Vertrag erhobenen Klage beantragt die Kommission, festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 90/605/EWG des Rates v. 8.11.1990 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs(2) verstoßen hat, daß sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist alle Maßnahmen erlassen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen.

II — Sachverhalt und Verfahren

2. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 90/605 haben die Mitgliedstaaten vor dem 1.1.1993 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um dieser Richtlinie nachzukommen, und die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen.

3. Nachdem die Kommission bis zum Ablauf der genannten Frist keine Mitteilung oder andere Informationen über den Erlaß von Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 90/605 in innerstaatliches Recht durch die deutschen Behörden erhalten hatte, richtete sie am 12.3.1993 ein Mahnschreiben an die deutsche Regierung. Diese teilte der Kommission in ihrem Antwortschreiben vom 2.6.1993 mit, daß das Verfahren zur Umsetzung der Richtlinie 90/605 begonnen habe. Mangels näherer Informationen über die Umsetzung der Richtlinie richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die deutsche Regierung, in der sie diese aufforderte, binnen zwei Monaten die notwendigen Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der Richtlinie zu treffen. Da eine Antwort der deutschen Regierung auf die mit Gründen versehene Stellungnahme innerhalb der genannten Frist ausblieb, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben. Mit dieser beantragt sie, festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist alle Maßnahmen erlassen hat, um der Richtlinie 90/605/EWG des Rates nachzukommen, und der Bundesrepublik Deutschland die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die deutsche Regierung beantragt dagegen, die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

III — Zur Zulässigkeit der Klage

4. Die deutsche Regierung trägt vor, die Klage sei unzulässig, weil die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 13.6.1994 unter Verstoß gegen das in Artikel 163 EG-Vertrag und Art. 16 der Geschäftsordnung der Kommission(3) verankerte Kollegialprinzip zustande gekommen sei. Es sei nicht auszuschließen, daß die mit Gründen versehene Stellungnahme im Wege der Ermächtigung erlassen worden sei. In diesem Fall sei die erlassene Entscheidung jedoch aus zwei Gründen fehlerhaft: Erstens seien das besondere Verfahren und die Publizitätsanforderungen, die für die Ermächtigung vorgesehen seien, nicht eingehalten worden; zweitens könne die mit Gründen versehene Stellungnahme als Grundsatzentscheidung keinesfalls aufgrund einer Ermächtigung, sondern nur von der als Kollegium handelnden Kommission erlassen werden. Das Kollegialprinzip verlange, daß die Entscheidungen gemeinsam getroffen würden, was voraussetze, daß den Mitgliedern des Kollegiums — hier: der Kommission — in der Sitzung sowohl der Tenor des Beschlusses als auch seine Begründung bekannt seien. Aus den in der Verhandlung der Rechtssachen C-191/95 und C-186/97 zutage getretenen Umständen ergebe sich, daß den Kommissionsmitgliedern als Entwurf einer Entscheidung über die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme nur ein Verwaltungsschriftstück vorgelegt worden sei, in dem lediglich die Nummer der fraglichen Richtlinie, der Name des den Vertrag verletzenden Staates und der aus einem Wort bestehende Vorschlag der zuständigen Dienststellen unterbreitet worden sei, eine Entscheidung über die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme zu treffen. Infolgedessen hätten die Kommissionsmitglieder in der fraglichen Sitzung den vollen Inhalt und die Begründung der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht gekannt und keinen Kollegialbeschluß darüber fassen können. Die Stellungnahme sei erst nach der Sitzung der Kommission ausformuliert worden. Das gemäß dem Gesagten angewandte Verfahren verstoße unmittelbar gegen Art. 16 der Geschäftsordnung der Kommission. Zwar bezeichne der darin verwendete Begriff "Beschluß" nur Rechtsakte nach Art. 189 EG-Vertrag, doch sei richtigerweise anzunehmen, daß auch die mit Gründen versehene Stellungnahme wegen ihrer besonderen Bedeutung in den Anwendungsbereich der betreffenden Vorschrift falle. Demnach könnten die wesentlichen Verfahrensverstöße bei der Beschlußfassung über die mit Gründen versehene Stellungnahme nur zur Unzulässigkeit der Klage führen.

5. Die Kommission macht dagegen geltend, die betreffende mit Gründen versehene Stellungnahme sei von ihr als Kollegium beschlossen worden. Die Kommissionsmitglieder hätten ihre Entscheidung zwar ohne einen ausformulierten Text des letzten Entwurfs der mit Gründen versehenen Stellungnahme, aber auf der Grundlage des "Zuwiderhandlungsbogens" (fiche d'infraction) getroffen, auf dem in tabellarischer Form alle erforderlichen Informationen und die Begründung für die zum Erlaß vorgeschlagene Entscheidung aufgeführt gewesen seien. Demgemäß hätten ihre Mitglieder kollegial eine "Grundsatzentscheidung" getroffen, die von den zuständigen Dienststellen unter der Verantwortung und der Aufsicht des zuständigen Kommissionsmitglieds ausgeführt worden sei. Die administrative Ausführung der entsprechenden Grundsatzentscheidung stelle keine Ermächtigung eines Kommissionsmitglieds nach Art. 11 Abs. 1 der Verfahrensordnung und keine Beauftragung nur eines Kommissionsmitglieds mit der Erarbeitung des endgültigen Textes gemäß Art. 11 Abs. 2 der Verfahrensordnung dar. Das angewandte Verfahren sei durch die Arbeitsbelastung und das weite Ermessen der Kommission gerechtfertigt.

6. Ferner trägt die Kommission vor, die mit Gründen versehenen Stellungnahmen seien nur vorbereitende Handlungen ohne bindende Wirkung. Folglich lasse sich die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Erlaß von Rechtsakten mit bindender Wirkung nicht auf das Verfahren für die Abgabe von mit Gründen versehenen Stellungnahmen übertragen. Außerdem gelte auch nicht Art. 16 Abs. 1 der Geschäftsordnung für mit Gründen versehene Stellungnahmen. Auch wenn ein Verfahrensfehler im Stadium der Erstellung der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgestellt werde, führe dieser Fehler nicht automatisch zur Abweisung der Klage wegen Unzulässigkeit. Für den Fall, daß der Gerichtshof die vorliegende Klage aus den von der deutschen Regierung angeführten Gründen für unzulässig erklärt, beantragt die Kommission vorsorglich, die zeitlichen Wirkungen seines Urteils zu beschränken. Dazu sollte erstens für alle Verfahren, in denen schon ein Urteil mit der Feststellung einer Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ergangen sei, und zweitens für die anhängigen Verfahren, in denen keine der hier von Deutschland erhobenen Einrede entsprechende Einrede der Unzulässigkeit vorgebracht worden sei, eine Wiederholung ausgeschlossen werden.

IV — Meine Ansicht zur Unzulässigkeit der Klage

7. Mit den von der deutschen Regierung und der Kommission vorgebrachten Ansichten hat sich der Gerichtshof schon in der Rechtssache C-191/95 befaßt, in der vor kurzem das Urteil des Gerichtshofes(4) ergangen ist. In dieser Rechtssache hatte ich zweimal Schlußanträge vorzutragen(5), deren wesentliche Punkte ich gleich anschließend zusammenfassend wiedergeben werde.

8. Meines Erachtens ist Ausgangspunkt für die richtige Behandlung des sich stellenden Problems das Verständnis der Stellung, die der Grundsatz des kollegialen Tätigwerdens der Kommission in der Gemeinschaftsrechtsordnung einnimmt, und der Bedeutung der mit Gründen versehenen Stellungnahme im Rahmen der durch Art. 169 EG-Vertrag getroffenen Regelung. Zum Grundsatz des kollegialen Tätigwerdens ist zu bemerken, daß seine Einhaltung nicht nur die Adressaten der getroffenen Entscheidung, auf deren Rechtsstellung diese sich unmittelbar auswirkt, sondern auch die ordnungsgemäße Tätigkeit der Kommission als Gemeinschaftsorgan berührt; er betrifft somit nicht lediglich die Ausarbeitung der vollziehbaren Verwaltungsakte, sondern sämtliche Entscheidungen, die den endgültigen politischen und rechtlichen Willen der Kommission zum Ausdruck bringen.(6) Als eine solche Entscheidung ist auch die mit Gründen versehene Stellungnahme anzusehen, deren rechtliche Bedeutung sich nicht aus den unmittelbaren Folgen, die ihre Zustellung zu Lasten ihres Adressaten bewirkt, sondern aus den Rechtswirkungen ergibt, die sie im Rahmen des Verfahrens nach Art. 169 entfaltet, indem sie die Kommission im Hinblick auf den Inhalt und den Umfang der Rügen bindet, sie die vor Gericht erheben kann, und damit den Umfang der gerichtlichen Kontrolle einschränkt. Mit anderen Worten ist die Formulierung der mit Gründen versehenen Stellungnahme, was die politische Bedeutung und die Rechtswirkungen angeht, der wichtigste Beitrag der Kommission im Verfahren des Art. 169; der Umstand, daß sie keinen vollziehbaren Verwaltungsakt darstellt, bedeutet daher nicht, daß sie automatisch in die zweite Kategorie gehört und damit auf die Formstrenge verzichtet werden kann, die Handlungen der Kommission auszeichnen muß.(7)

9. Bezüglich dieser Handlungen habe ich der Pflicht, die Einhaltung des Kollegialprinzips zu bestätigen, besondere Bedeutung beigemessen: Die Kommission als Kollegialorgan ist an spezielle Verfahrensregeln gebunden, die sich aus dem Kollegialprinzip ergeben und die gewährleisten sollen, daß dieses Prinzip gewahrt worden ist. Dessen Einhaltung muß leicht und zuverlässig nachweisbar sein. Die einzige sichere Art des Nachweises ist die Aufnahme des Inhalts der getroffenen Entscheidung in einem Text, der das Ergebnis der gemeinsamen Erörterung der Sache durch das Kommissionskollegium wiedergibt und den Umfang der kollegialen Verantwortung der daran beteiligten Kommissionsmitglieder festlegt. Der Grundsatz des kollegialen Tätigwerdens als eines der Fundamente des gemeinschaftlichen Verwaltungssystems ist mit anderen Worten untrennbar mit dem Grundsatz der Verkörperung des wirklichen Willens des Kommissionskollegiums in einem Text verbunden, der die wesentlichen Punkte, die Gründe und den verfügenden Teil der getroffenen Entscheidung enthalten muß.(8)

10. Nach alledem hatte ich geltend gemacht und bin weiterhin der Ansicht, daß die Praxis der Kommission, in gemeinsamer Sitzung nur eine aus einem Wort bestehende "Grundsatzentscheidung" über die Abgabe einer mit Gründen versehenen Stellungnahme zu treffen und die Ausformulierung der mit Gründen versehenen Stellungnahme den Verwaltungsdienststellen zu überlassen, der oben genannten Pflicht zur Aufnahme des Inhalts der getroffenen Entscheidung in einem schriftlichen Text zuwiderläuft; sie verstößt auch gegen die Regel, wonach der verfügende Teil und die Gründe eines Gemeinschaftsrechtsakts von dem entscheidungsbefugten Organ (hier: vom Kommissionskollegium) gleichzeitig beschlossen werden müssen.

11. Der Gerichtshof ist dieser Argumentation jedoch nicht gefolgt und hat anerkannt, daß die oben beschriebene Praxis der Kommission bei der Erstellung von mit Gründen versehenen Stellungnahmen voll und ganz mit dem Kollegialprinzip und dem Gemeinschaftsrecht im allgemeinen im Einklang steht. Der Gerichtshof kann sich daher erneut für das Ergebnis entscheiden, zu dem er in der Rechtssache C-191/95 gelangt ist(9), und die vorliegende Klage für zulässig erklären. Meinerseits bleibe ich bei den Ansichten, die ich in der genannten Rechtssache C-191/95 dargelegt habe.

V — Zur Begründetheit

A — Das maßgebliche Gemeinschaftsrecht

12. Die Richtlinie 90/605(10) erweitert den Anwendungsbereich der Vierten Richtlinie 78/660(11) und der Siebenten Richtlinie 83/349(12). Bis zu der letztgenannten Rechtsänderung betrafen die Richtlinien 78/660 und 83/349 in Deutschland nur folgende Gesellschaftsformen: Aktiengesellschaft, Kommanditgesellschaft auf Aktien und Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Zweck der Richtlinie 90/605 ist es, in den Regelungsbereich der Vierten und der Siebenten Richtlinie bestimmte Kategorien von Personengesellschaften aufzunehmen, deren unbeschränkt haftende Gesellschafter auch Kapitalgesellschaften sind. Nach den Art. 1 und 2 der Richtlinie 90/605 gelten die durch die Richtlinien 78/660 und 83/348 vorgeschriebenen Maßnahmen der Koordinierung auch für die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gesellschaften der — in Deutschland — Rechtsformen offene Handelsgesellschaft und Kommanditgesellschaft. Die Anwendbarkeit der Richtlinie 90/605 setzt voraus, daß alle unbeschränkt haftenden Gesellschafter der oben genannten Personengesellschaften die Rechtsform einer der in den Richtlinien 78/660 und 83/349 aufgeführten Kapitalgesellschaften(13) haben oder Gesellschaften sind, die nicht dem Recht eines Mitgliedstaats unterliegen, deren Rechtsform jedoch den Rechtsformen der Richtlinie 68/151(14) vergleichbar ist.

13. Ferner dehnt die Richtlinie 90/605 den Anwendungsbereich der Richtlinien 78/660 und 83/349 auch auf offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften aus, sofern alle deren unbeschränkt haftenden Gesellschafter eine Rechtsform i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Unterabs.2 der Richtlinie 78/660 in der durch die Richtlinie 90/605 geänderten Fassung haben. Mit anderen Worten: Eine offene Handelsgesellschaft oder eine Kommanditgesellschaft, deren unbeschränkt haftende Gesellschafter alle andere offene Handelsgesellschaften oder Kommanditgesellschaften sind, deren unbeschränkt haftende Gesellschafter alle Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Kommanditgesellschaften auf Aktien sind, unterliegt den Richtlinien 78/660 und 83/349 des Rates.

VI — Meine Ansichten zur Begründetheit der Klage

14. Meines Erachtens ist die Bundesrepublik Deutschland den Verpflichtungen aus der Richtlinie 90/605 nicht nachgekommen.

15. Wie die Kommission zu Recht vorträgt, zieht die deutsche Regierung die Begehung eines Rechtsverstoßes — zumindest teilweise — nicht in Zweifel. Die Anerkennung der unterlassenen Durchführung der Richtlinie ergibt sich aus drei Punkten: Erstens räumt die deutsche Regierung zwar ein, daß keine besonderen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie 90/605 erlassen worden sind, macht aber geltend, daß das deutsche Recht großen Teilen der fraglichen Richtlinie Rechnung trage; a contrario folgt daraus, daß das geltende deutsche Recht der Richtlinie nicht insgesamt Rechnung trägt. Zweitens gibt die Bundesrepublik Deutschland zu verstehen, daß sie die Umsetzung der fraglichen Richtlinie in innerstaatliches Recht sogleich nach Erlaß des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache C-191/95 in Angriff nehmen werde. Sie verweist ferner auf die Schwierigkeiten, die für die Einarbeitung der Richtlinie dadurch entstünden, daß die zuständigen Behörden und die interessierten Kreise in Deutschland sich noch nicht über die innerstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen geeinigt hätten, die zur Anpassung des deutschen Rechts an den Inhalt der Richtlinie 90/605 notwendig und geeignet seien.

16. Das oben wiedergegebene Vorbringen kommt einem unmittelbaren Eingeständnis der zur Last gelegten Untätigkeit gleich. Der Gerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die Mitgliedstaaten, an die eine Richtlinie gerichtet ist, aufgrund der Art. 189 Abs. 3 und 5 Abs. 1 EG-Vertrag verpflichtet sind, alle Ziele der Richtlinie innerhalb der festgesetzten Frist so zu verwirklichen, daß die Bestimmungen der Richtlinie innerhalb der Umsetzungsfrist ihre vollen Wirkungen entfalten. Das Vorbringen, das geltende innerstaatliche Recht genüge jedenfalls zu einem großen Teil den gemeinschaftlichen Zielen der umzusetzenden Richtlinie, ist als unbegründet zurückzuweisen.(15) Zurückzuweisen ist auch das Vorbringen eines Mitgliedstaats, daß mit der Umsetzung einer Richtlinie zugewartet werden dürfe, bis der Gerichtshof im Rahmen einer Untätigkeitsklage gegen diesen Staat eine andere Bestimmung derselben Richtlinie ausgelegt habe. Undenkbar ist es auch, daß sich ein Mitgliedstaat auf glaubhaft gemachte eigene Unterlassungen, derentwegen er beim Gerichtshof verklagt worden ist, zur Rechtfertigung dafür beruft, daß er die Umsetzung anderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften mit ähnlichem Inhalt aufschiebt. Ohne Belang ist es schließlich, ob man auf der Ebene des innerstaatlichen Rechts deshalb mit der Umsetzung der Richtlinie in Verzug ist, weil gegensätzliche Ansichten über die Erforderlichkeit und die Geeignetheit der nationalen Umsetzungsmaßnahmen geäußert worden sind. Bekanntlich(16) kann sich ein Mitgliedstaat nicht unter Berufung auf innerstaatliche Umstände den Verpflichtungen entziehen, die sich für ihn aus einer Richtlinie ergeben.

Aber auch wenn man unabhängig von dem Gesagten annehmen wollte, daß die deutsche Regierung die ihr von der Kommission zur Last gelegte Untätigkeit insgesamt bestreitet, erweisen sich ihre Ausführungen zur Vollständigkeit des geltenden innerstaatlichen Rechts in bezug auf die Umsetzung der fraglichen Richtlinie als unzureichend. Die deutsche Regierung weist auf §6 Abs. 1 HGB hin, wonach die offene Handelsgesellschaft und die Kommanditgesellschaft Kaufleute seien und damit dem Ersten Abschnitt des Dritten Buchs des HGB (§§238 bis 261) unterlägen. Die fraglichen Vorschriften stellten eine Umsetzung all dessen dar, was die Richtlinie 78/660 bestimme. Die deutsche Regierung führt in ihren Erklärungen in einer ausführlichen Tabelle die Vorschriften der Richtlinie an, die ihrer Ansicht nach in den Ersten Abschnitt des Dritten Buchs des HGB eingearbeitet worden sind.

17. Tatsächlich scheint der Inhalt der oben genannten nationalen Vorschriften des Ersten Abschnitts des Dritten Buchs des HGB, die sich auf die Aufstellung der kaufmännischen Abschlüsse und die kaufmännischen Daten beziehen, mit den Bestimmungen der Richtlinie 78/660 im Einklang zu stehen; dies bedeutet jedoch nicht, daß sie auch eine Umsetzung der Richtlinienbestimmungen in das nationale Recht darstellen. Wie die Kommission zu Recht vorträgt, sind mit der Richtlinie bestimmte strenge Voraussetzungen über die Gliederung und den Inhalt der Jahresabschlüsse, der Lageberichte, der Bewertungsmethoden und der Publizität dieser Dokumente speziell für die Kapitalgesellschaften aufgestellt worden. Auf dieselben Gesellschaften bezog sich die Richtlinie 83/349, die das besondere Problem der konsolidierten Abschlüsse berührte. Die genannten Rechtsquellen des gemeinschaftlichen Handelsrechts stellen nicht nur fragmentarische Vorschriften für die Handelsabschlüsse auf, sondern stellen ein einheitliches detailliertes Ganzes von Anforderungen und Voraussetzungen für die Tätigkeit der Kapitalgesellschaften dar, d. h., durch sie wird eine selbständige Regelung getroffen. Diese besondere Regelung ist in einem separaten Teil des nationalen Rechts, dem ausdrücklich die Kapitalgesellschaften betreffenden Zweiten Abschnitt des Dritten Buchs des HGB, ad hoc in das deutsche Recht eingearbeitet worden. Dieser Teil des HGB ist in sechs Unterabschnitte untergliedert, von denen der erste den Jahresabschluß und den Lagebericht der Kapitalgesellschaft, der zweite die konsolidierten Abschlüsse, der vierte die Anforderungen an die Offenlegung und der sechste die Ahndung der Nichteinhaltung der vorangehenden Unterabschnitte betrifft. Ich möchte nicht auf die Frage eingehen, ob der Zweite Abschnitt des Dritten Buchs des HGB eine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinien 78/660 und 83/349 darstellt; diese Frage geht über den vorliegenden Rechtsstreit hinaus. Fest steht jedoch, daß die Umsetzung der fraglichen Richtlinien in deutsches Recht im Zweiten Abschnitt und nicht im Ersten Abschnitt des Dritten Buchs des HGB zu suchen ist. Daß der Erste Abschnitt des Dritten Buchs des HGB Vorschriften zu enthalten scheint, die inhaltlich den durch die genannten Richtlinien aufgestellten Anforderungen entsprechen, bedeutet keineswegs, daß dieser Teil des deutschen Rechts auch eine Umsetzung dieser Richtlinien darstellt, erstens weil diese Richtlinien nicht nur fragmentarische Vorschriften enthalten, sondern ein einheitliches Regelungssystem aufstellen und zweitens weil sich ein anderer Teil des deutschen Rechts ratione materiae mit dem Gegenstand der fraglichen Richtlinien deckt.

Ich komme nunmehr zur Untersuchung des besonderen rechtlichen Rahmens der vorliegenden Klage. Die Richtlinie 90/605 ist auf die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinien 78/660 und 83/349 auf Gesellschaften gerichtet, die zwar scheinbar als Personengesellschaften in Erscheinung treten, in Wirklichkeit aber nicht aus natürlichen Personen, sondern aus anderen Kapitalgesellschaften bestehen; es handelt sich also zumindest auf dem Gebiet, das die Richtlinie 90/605 betrifft, um "Kapitalgesellschaften kraft Fiktion". Der einzige annehmbare Weg, die Richtlinie 90/605 ordnungsgemäß in deutsches Recht umzusetzen, besteht darin, den Anwendungsbereich des Zweiten Abschnitts des Dritten Buchs des HGB von den Kapitalgesellschaften, auf die er sich zur Zeit bezieht, auf die "Kapitalgesellschaften kraft Fiktion" i.S.d. Richtlinie 90/605 auszudehnen.(17)

Was schließlich abschließend die Publizitätsanforderungen angeht, die durch die Vierte und die Sechste Richtlinie aufgestellt werden, ist das Vorbringen der deutschen Regierung zurückzuweisen, daß das Publizitätsgesetz 1969(18) für die Umsetzung der entsprechenden Gemeinschaftsrechtsvorschriften in deutsches Recht ausreiche. Wie die Kommission vorträgt, ist der Kreis der durch das Publizitätsgesetz erfaßten Gesellschaften weitaus enger als derjenige, auf den sich die durch das Gemeinschaftsrecht aufgestellten Publizitätsanforderungen beziehen; er umfaßt nur 1% aller Gesellschaften. Infolgedessen stellt das betreffende nationale Recht keine ordnungsgemäße vollständige Umsetzung der fraglichen Gemeinschaftsbestimmungen dar.

VIII — Entscheidungsvorschlag

Nach alledem schlage ich unter dem dargelegten Vorbehalt hinsichtlich der Zulässigkeit vor,

1. der Klage stattzugeben und anzuerkennen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 90/605/EWG des Rates vom 8.11.1990 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs verstoßen hat, daß sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist alle Maßnahmen erlassen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen,

2. der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.
 
 
 
 
 
 
 
 

1 Originalsprache: Griechisch.

2 ABl. L 317 v. 16.11.1990, S. 60.

3 Es handelt sich um die Geschäftsordnung v. 17.2.1993 (ABl. L 230, S. 15), die zur Zeit der Abgabe der fraglichen mit Gründen versehenen Stellungnahme galt.

4 Urt. v. 29.9.1998 (Kommission/Deutschland, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), GmbHR 1998, 1078.

5 Schlußanträge v. 5.6.1997 (ZIP 1997, 1130 = GmbHR 1998, 798 [LS] und v. 17.2.1998.

6 Nr. 18 meiner Schlußanträge v. 17.2.1998 -- Rs. C-191/95.

7 Nrn. 28 und 32 der genannten Schlußanträge.

8 Nrn. 17 und 21 der genannten Schlußanträge.

9 Das oben genannte Urt. v. 29.9.1998.

10 S. oben, Fn. 1.

11 Richtlinie des Rates v. 25.7.1978 über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222 v. 14.8.1978, S. 11).

12 Richtlinie des Rates v. 13.6.1983 über den konsolidierten Abschluß (ABl. L 193 v. 18.7.1983, S. 1).

13 Es handelt sich also um die Gesellschaften, die im ursprünglichen Wortlaut des Art. 1 der Richtlinie 78/660 und des Art. 4 der Richtlinie 83/349 aufgeführt waren.

14 Erste Richtlinie des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65 v. 14.3.1968, S. 8).

15 S. Urt. v. 28.5.1998 -- Rs. C-298/97 (Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-3301).

16 S. z. B. die Urt. v. 2.10.1997 -- Rs. C-208/96 (Kommission/Belgien, Slg. 1997, I-5375, Rn. 9) und v. 19.2.1998 -- Rs. C-135/96 (Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-823, Rn. 8).

17 Unabhängig davon, ob der fragliche Teil des deutschen Rechts in vollem Maß eine ordnungsgemäße Umsetzung der Vierten und der Sechsten Richtlinie darstellt.

18 Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen, BGBl. I 1969, 1189, und BGBl. I 1970, 1113.
 
 

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