Stephan Stieb,
Rechtsanwalt, Bonn/Estoril

Aussitzen wird bestraft ! EuGH wird jetzt über Sitzverlegung entscheiden

Mit Beschl. des BGH v. 30.3.2000 -- VII ZR 370/98 (GmbHR 2000, 715 -- in diesem Heft) wird dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art. 43, 48 des EG-Vertrags verbietet, die Rechts- und Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates wirksam gegründet worden ist, nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in den die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt hat und gegebenenfalls dieser Gesellschaft durch Verneinung der Rechts- und Parteifähigkeit versagt, Ansprüche gerichtlich gelten zu machen. Hinter diesem Vorlagebeschluß steht die Frage, ob die Rechts- und Parteifähigkeit aus dem Grundsatz der Niederlassungsfreiheit nur nach dem Recht des Gründungstaates zu beurteilen ist. Der EuGH wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob in den Mitgliedstaaten die Gründungs- oder die Sitztheorie bei der Beurteilung der Rechtsfähigkeit von Auslandsgesellschaften anzuwenden ist.

Sitztheorie führt zur Rechtsabschneidung ...

Aus der Fragestellung des BGH wird deutlich, daß er die in der überwiegenden Rechtsprechung und Lehre vertretene Sitztheorie in ihren extremsten Auswirkungen, nämlich der Rechtsabschneidung, auf den Prüfstand des EU-Rechts stellt. Dem Vorlagebeschluß liegt die Revision einer niederländischen GmbH (BV) zugrunde, die aus einem Bauvertrag einen erheblichen Betrag zur Mängelbeseitigung geltend macht. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen, da die klagende Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland habe und deshalb nicht rechtsfähig und damit auch nicht parteifähig sei. Der beschließende Senat des BGH macht in seinem Vorlagebeschluß deutlich, daß er an der bisherigen Rechtsprechung des BGH und damit an der Sitztheorie festhalten will. Die Anknüpfung an den tatsächlichen Verwaltungssitz führt dazu, daß eine im Ausland wirksam gegründete, in Deutschland zunächst als rechtsfähig anerkannte Gesellschaft ihre Rechtsfähigkeit verliert, wenn sie ihren ständigen Verwaltungssitz in Deutschland installiert. Während die Sitztheorie insbesondere die Gläubiger der Gesellschaft schütze, liege die Schwäche der Gründungstheorie darin, daß sie Interessen des Sitzstaates nicht berücksichtige und daß sich in Deutschland im "Wettbewerb der Rechtsordnungen" gerade die Rechtsordnung mit dem schwächsten Schutz dritter Interessen durchsetzen könnte. Nach Auffassung des BGH ist die Vorlage auch deshalb erforderlich, weil der EuGH weder im Fall "Daily Mail" (EuGH v. 27.9.1988 -- Rs. 81/87, NJW 1989, 2186) noch im Fall "Centros" (EuGH v. 9.3.1999 -- Rs. C-212/97, GmbHR 1999, 474) entschieden habe, daß die Sitzanknüpfung mit dem Niederlassungsrecht unvereinbar sei.

... und verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit

Zunächst ist dem BGH für seine Initiative zu danken, denn lange genug hat die deutsche Rechtsprechung sich beharrlich und fast trotzig geweigert, die von ihr entwickelte und zur herrschenden Meinung deklarierte Sitzheorie und deren Folgen zu überdenken. Im August 1998 wurde ausdrücklich noch entschieden, daß bei der Anwendung der Sitztheorie keine Veranlassung zur Vorlage an den EuGH bestehe (BayOBLG v. 26.8.1998 -- 3Z BR 78/98, GmbHR 1999, 299 [LS]). Die Chancen, daß der EuGH die Sitztheorie "kippen" wird, weil sie gegen die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit verstößt, stehen gut (vgl. Meilicke, GmbHR 2000, 693 -- in diesem Heft; Behrens, EuZW 2000, 385), nicht zuletzt auch deshalb, weil das Centros-Urteil als "Unmutsreaktion auf die langwierigen und nicht immer erfolgreichen Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Rechtsharmonisierung" (so Neye, EWiR Art. 52 EGV 1/99, 260) zu verstehen ist. Spätestens nach dem Daily Mail-Urteil aus dem Jahr 1988 (!) war der Gesetzgeber zum Handeln aufgerufen (Stieb, GmbHR 1992, R 25 und GmbHR 1999, R 257; Wiesner, EuZW 1998, 621; Freitag, EuZW 1999, 270). Nichts ist bisher geschehen!

Hätten die Gerichte in den letzten zehn Jahren die Sitztheorie und ihre Vereinbarkeit mit EU-Recht kritisch geprüft oder wenigstens vom EuGH überprüfen lassen, gäbe es heute möglicherweise nicht das ungute Gefühl, daß die Sitztheorie mit ihrer rechtsabschneidenden Wirkung in einem offenen Europa, ja in einer globalisierten Welt keinen Platz hat. Wie kann man demjenigen, der berechtigte Ansprüche geltend macht, erklären, daß er in Deutschland kein Recht findet? Die in den Niederlanden sitzende GmbH kann nicht gegen ihren Vertragspartner auf Mängelbeseitigung klagen, weil die tatsächliche Verwaltung dieser Gesellschaft in Deutschland erfolgt. Die auf den Kanalinseln sitzende Holding, die gegen den unehrlichen, in Deutschland wohnenden Darlehensnehmer klagt, muß froh sein, daß sie wenigstens rechtsmittelbefugt ist, hat aber mangels Parteifähigkeit keinen Anspruch auf einen Titel.

Gläubigerschutz für wen?

Von den Gerichten wird geradezu gebetsmühlenartig als eines der Hauptargumente für die Sitztheorie vorgebracht, daß sie den "größtmöglichen Schutz der Gläubigerinteressen" biete (OLG München v. 21.3.2000 -- 25 U 2710/99 m.w.N.). Auch der BGH entgegnet der niederländischen GmbH und (Anspruchsgläubigerin!), die Sitztheorie schütze insbesondere die Gläubiger einer Gesellschaft und deshalb könne sie ihre vertraglich begründeten Ansprüche nicht mehr geltend machen. Die niederländische GmbH bleibt auf ihren Baumängeln sitzen, die Kanalinsel-Holding muß sich von der Illusion der Darlehensrückzahlung trennen und das mit der unterschwelligen Argumentation: die Sitztheorie schützt nur die Interessen der Gläubiger, deren Interessen wir schützenswert finden. Der ausländische Gläubiger ahnt, daß der "hinter der Sitztheorie steckende Gesamtplan" der "Deutschland-AG" auf eine Diskriminierung hinausläuft (vgl. Meilicke, GmbHR 2000, 693 -- in diesem Heft). Das Besorgnis um einen effizienten Gläubigerschutz läßt die Kläger bitter erkennen, daß der Schutz des säumigen oder gar betrügerischen Schuldners Vorrang genießt.

Klare Kriterien für Feststellung des Verwaltungssitzes erforderlich

Wenn auch in Zukunft auf einen tatsächlichen Verwaltungssitz, sei es im Gesellschafts- oder im Steuerrecht, abgestellt wird, müssen klare Kriterien für die Feststellung eines derartigen Tatbestands definiert werden. In einer modernen und sich weiter globalisierenden Welt können keine Rückschlüsse aus der Tatsache gezogen werden, daß Korrespondenz von einem anderen Ort als dem Unternehmenssitz verschickt wird (re-mail oder mail, vgl. Stieb, GmbHR, 1999, R 257) oder daß die Direktoren einer Gesellschaft nicht ihren Wohnsitz im Sitzland der entsprechenden Gesellschaft haben. Auch bei einer deutschen GmbH besteht keine Verpflichtung, daß der Geschäftsführer in Deutschland einen Wohnsitz hat. Wenn sich herausstellt, daß es keine brauchbaren Kriterien für die Feststellung eines tatsächlichen Verwaltungssitzes gibt, muß der Gesetzgeber aktiv werden. Das OLG Frankfurt a. M. hat den Mut gehabt, festzustellen, daß bei einer klagenden (!) englischen Off-shore-Gesellschaft "überhaupt kein tatsächlicher Verwaltungssitz feststellbar" war und daß deren Geschäftsführung ihre Geschäfte im wahrsten Sinne des Wortes "fliegend" wahrgenommen hat (OLG Frankfurt a. M. v. 23.6.1999 -- 22 U 219/97, ZIP 1999, 171). Folge dieser erstaunlichen Feststellung ist, daß das Gericht den Schluß zog, daß die Sitztheorie versage und es nicht sein könne, daß eine sitzlose Gesellschaft, die durch ihre Gründung im Gründungsstaat die Rechtspersönlichkeit erlangt habe, rechtlos gestellt werde.

Keine Notwendigkeit für Entrechtung ausländischer Gesellschaften

Das OLG Frankfurt a. M. hat in seinem Urteil nicht ausdrücklich, aber inzident einen ganz wichtigen Grundsatz ausgesprochen. Für eine Entrechtung einer ausländischen Klägerin ohne feststellbaren Verwaltungssitz gibt es keine rechtliche Notwendigkeit. Das OLG München hat es im März dieses Jahres noch ausdrücklich abgelehnt, in einem ähnlichen Fall, auf die vom OLG Frankfurt a. M. "angestellten Überlegungen" einzugehen. Anstatt das Urteil des OLG Frankfurt a. M. als "effizienteste Methode, sich über eine abweichende Meinung hinwegzusetzen" (so Meilicke, DB 1999, 627) zu ignorieren, wäre es sinnvoller gewesen, zu fragen, ob aus der Sicht des sog. Rechtsschutzinteresses die Anwendung der Sitztheorie im konkreten Fall, nämlich dem einer klagenden Auslandsgesellschaft, überhaupt notwendig gewesen wäre.

Weiterer Vorlagebeschluß

Die deutsche Rechtsprechung und herrschende Lehre muß voraussichtlich umdenken. Inzwischen gibt es einen weiteren Vorlagebeschluß an den EuGH. Es geht um die Frage, ob Art. 43, 48 EG-Vertrag einer Regelung entgegensteht, die die Sitzverlegung einer deutschen Gesellschaft nach Spanien unter Wahrung der Identität verbietet (vgl. AG Heidelberg v. 3.3.2000 -- HRB 831 -- SH, EuZW 2000, 414). Es kommt langsam Bewegung in die Angelegenheit, aber andere sind schneller. Die österreichische Rechtsprechung hat im Juli 1999 von sich aus reagiert und die Sitztheorie in Fällen der Gründung von Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften eingeschränkt (vgl. OGH v. 15.7.1999 -- 6 Ob 124/99z, RIW 2000, 378 ff.). Schnelles Umdenken ist erforderlich, denn bei all den Fällen, die mit dem Vorlagebeschluß des BGH vergleichbar sind, ist zu berücksichtigen, daß die klagenden Auslandsgesellschaften durch alle Instanzen bis jetzt schon viel Zeit und Geld verloren haben, um sich gegen ihre Entrechtung zu wehren.

Behandlung von Nicht-EU-Gesellschaften?

Kommt der EuGH zum Schluß, daß die Sitztheorie im Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften steht, werden die nächsten Fragen vom EuGH zu beantworten sein. Ist die Gründungstheorie auch dann uneingeschränkt anzuwenden, wenn die Gesellschaft außerhalb der EU-Mitgliedstaaten sitzt, sei es in mit der EU assoziierten Staaten, in Delaware/USA oder auf Virgin Islands. Die Beantwortung der Frage fällt nicht einfach, insbesondere dann nicht, wenn kürzlich die OECD sog. Steuerparadiesländer auffordert, Geldwäsche zu kontrollieren. Andererseits kommt nun einmal das Darlehen einer Venture-Capital-Gesellschaft traditionellerweise nicht aus dem EU-Bereich, sondern aus Amerika, und dieses Geld wird in Deutschland und nicht nur dort für Investitionen, Forschung und Entwicklung benötigt (vgl. Stieb, GmbHR 1999, R 258). Bei der zunehmenden Globalisierung des Welthandels ist eine unterschiedliche Behandlung von EU-Staaten und anderen problematisch und eine solche Diskriminierung kann auf den Urheber zurückschlagen. Es gilt nach Meilicke (GmbHR 2000, 693 -- in diesem Heft) der Satz: "was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu."

Klärung der Frage ist überfällig!

Die Klärung der vom BGH dem EuGH vorgelegten Frage ist längst überfällig. Im Zusammenhang mit der Sitztheorie und der grenzüberschreitenden Sitzverlegung stehen weitere Fragen an. Der Gesetzgeber ist bisher untätig geblieben. Es ist nicht auszuschließen, daß der EuGH das Aussitzen durch die sog. herrschende Meinung in Deutschland diesmal strafen wird.
 

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