Stephan Stieb,
Rechtsanwalt, Bonn

Sitz- oder Gründungstheorie: Der Gesetzgeber muß endlich Farbe bekennen!

Das "Centros"-Urteil des EuGH v. 9.3.1999 (GmbHR 1999, 474 – Volltext) erlaubt, daß eine in einem EU-Land gegründete Gsellschaft, die dort beabsichtigterweise nicht geschäftlich tätig werden sollte, über eine Zweigniederlassung in einem anderen EU-Land ihre Geschäfte ausübt. Die Zweigniederlassung muß von dem EU-Mitgliedstaat, in dem sie begründet wird, ins Handelsregister eingetragen werden. Das Urteil bezieht sich auf einen Sachverhalt, bei dem feststand, daß die englische Centros-Ltd. gegründet wurde, um die Mindestkapitalvorschriften des dänischen Gesellschaftsrechts zu umgehen. "Centros" ist also ein klassisches Beipiel für eine sog. Briefkastenfirma, der im allgemeinen vorwiegend unlautere Absichten unterstellt werden, sei es im Bereich der Umgehung von Mindestkapitalerfordernissen, Haftungsrisiken oder steuerlicher Regelungen.

Der EuGH hat entschieden, daß Gesellschaften das Recht haben, ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedsstaats zu bestimmen. Art. 43, 48 EG-Vertrag (EGV) gewährleistet im Rahmen der Niederlassungsfreiheit die Ausübung von Geschäftstätigkeit über eine Zweigniederlassung im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats. Die Umgehung von Mindestkapitalvorschriften im "Wettbewerb der Rechtsordnungen" (so Freitag, EuZW 1999, 267 ff.) stelle noch kein rechtsmißbräuchliches oder betrügerisches Verhalten dar, das es einem Mitgliedstaat erlaube, auf die Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.

"Freibrief" für Briefkastengesellschaften?

Aus deutscher Sicht zwingt "Centros" zu einer kritischen Bestandsaufnahme. Stellt das Urteil wirklich keinen Freibrief für Briefkastenfirmen dar (vgl. Görk, GmbHR 1999, 793 -- in diesem Heft) oder erleichtert der EuGH doch die Tätigkeit solcher Gesellschaften (vgl. Risse, FAZ v. 30.4.1999)? Es stellt sich die Frage, ob die in Deutschland insbesondere von der Rechtsprechung entwickelte Sitztheorie aufgegeben werden muß. Danach unterliegt eine Gesellschaft der Rechtsordnung des Landes, in dem sie ihren effektiven Verwaltungssitz hat. Nach der "gemischt qualitativ-quantitativen Betrachtung" (vgl. Panthen, Der Sitz-Begriff im Internationalen Gesellschaftsrecht, Frankfurt 1988, S. 326) wird der Ort des Sitzes dort lokalisiert, wo das zur Vertretung und Geschäftsführung berechtigte Organ der Gesellschaft die wichtigsten seiner organtypischen Funktionen überwiegend ausübt. Die Sitztheorie hat ihren Ursprung in der Rechtsprechung seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts (vgl. Panthen, S. 106, Rn. 6). Sie hat sich so stark zur h. M. entwickelt, daß -- trotz Anhängigseins des Falles "Centros" beim EuGH seit 1997 -- das BayObLG im August 1998 noch ausdrücklich feststellte, daß für das Gericht bei ihrer Anwendung keine Vorlagepflicht an den EuGH bestehe. Die Rechtsprechung wende die Sitztheorie an, weil sie Gläubigerinteressen schütze und eine "wirksamere staatliche Kontrolle" (sic!) ermögliche (vgl. BayObLG v. 26.8.1998 -- 3Z BR 78/98, GmbHR 1999, 299 [LS]).

In einem anderen Fall wird im November 1998 durch Urt. des LG München v. 25.11.1998 -- 29 O 16900/97 die Klage einer auf den englischen Kanalinseln sitzenden Gesellschaft abgewiesen, die einen in Deutschland ansässigen Beklagten aus einer Bürgschaft für ein unbestritten ausbezahltes Darlehen in Anspruch nimmt. Die Klägerin sei nicht parteifähig, weil u.a. die Verwendung der deutschen Sprache als Vertragssprache und die Versendung von wesentlicher Korrespondenz aus einem anderen als dem Sitzland der Gesellschaft die Vermutung eines tatsächlichen Verwaltungssitzes auf der Kanalinsel widerlegt hätten.

Nur Einengung der Sitztheorie innerhalb der EU

Ob "Centros" eventuell die Gründungstheorie bevorzugt, gibt der Inhalt nicht her. Görk (aaO) weist darauf hin, daß in diesem Fall die kollisionsrechtlichen Beziehungen Länder betreffen, die beide (Großbritannien und Dänemark) der Gründungstheorie folgen. Die Tatsache, daß der EuGH nicht einmal ansatzweise auf die Diskussion Sitz- contra Gründungstheorie eingehe, bedeute keine Absage an die Sitztheorie. Vielmehr werde der Spielraum der Sitztheorie dahingehend eingeengt, daß in einem Gründungstheoriestaat gegründete Briefkastenfirmen von den übrigen Mitgliedstaaten unabhängig von dort vertretenen Theorien als rechtsfähig anzuerkennen seien. Für Meilicke (DB 1999, 627), Risse (FAZ) und Freitag (EuZW 1999, 269) bedeutet das EuGH-Urteil dagegen die Aufgabe der Sitztheorie. Darüber hinausgehend habe der EuGH unter Abkehr von der Entscheidung in der Rechtssache "Daily-Mail" (EuGH, NJW 1989, 2186; dazu Stieb, GmbHR 1992, R 25) deutlich gemacht, daß auch der Umzug von Unternehmen durch Sitzverlegung in andere Mitgliedstaaten (primäres Niederlassungsrecht) für Gesellschaften möglich sei, ohne die Rechtspersönlichkeit zu verlieren.

Weltweite Anknüpfungspunkte für Feststellung der Rechtsfähigkeit erforderlich

"Centros" sollte Anlaß dazu geben, für klare Verhältnisse bei der Beurteilung ausländischer Geschäftstätigkeiten zu sorgen. Aus Gründen der Gleichbehandlung sollten nicht nur im Bereich der EU-Mitgliedstaaten (und EWR-Länder?), sondern weltweit geltende Anknüpfungspunkte für die Feststellung der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften festgelegt werden. Der Anknüpfungspunkt an den Ort der effektiven Geschäftsführung wird bei einer rasant zunehmenden Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation zu einem schwierigen Unterfangen. Die Kriterien der Sitztheorie zur Bestimmung einer effektiven Geschäftsführung werden unscharf und müssen in Frage gestellt werden. Geschäftsführung erfolgt heute immer mehr durch Kommunikation im Internet; woher das entscheidende "mail" kommt, ist uninteressant. Die Sitztheorie wird ad absurdum geführt, wenn zukünftig nur wegen gemeinschafts-rechtlicher Regelungen eine Gesellschaft in einem EU-Land als rechtsfähig anerkannt werden muß, diese aber offensichtlich ihre effektive Verwaltung woanders hat. Andererseits dürften die Anhänger der Sitztheorie auch nicht so konsequent sein wollen, daß sie im Fall eines GmbH-Geschäftsführers, der effektiv die Geschäfte seiner deutschen Gesellschaft aus seinem Ferien-Paradies Florida führt, die Rechtsfähigkeit der deutschen Gesellschaft absprechen zu wollen. In Fällen von Tochtergesellschaften mit Weisungsgebundenheit und geteilten Geschäftsleitungen hatte die Sitztheorie immer ihre Schwierigkeiten, ohne komplizierte Lösungen über "ersatzweise Neuanknüpfungen" (vgl. Panthen, S. 309) zu verständlichen Ergebnissen zu kommen.

Die Tatsache, daß die Geschäftsführung eines im Ausland sitzenden Unternehmens die deutsche Sprache verwendet, darf nicht als Indiz reichen, daß der Ort der Unternehmensleitung und damit die Rechtsfähigkeit der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Die Versendung von Korrespondenz dürfte auch kein sinnvolles Kriterium zur Feststellung von Rechtsfähigkeit sein, wenn heute Konzerngesellschaften aus Kostengründen ihre gesamte Korrespondenz und damit sicherlich auch die "wesentliche" über dritte Länder "remailen".

Nach "Centros" kommt es nicht darauf an, daß eine Gesellschaft jemals eine Geschäftstätigkeit entfaltet. Unabhängig davon kann sie ihre Niederlassungsfreiheit durch Registrierung einer Zweigniederlassung in einem anderen Land realisieren. Wenn eine Gesellschaft rechtmäßig gegründet werden kann, ohne daß bezweckt wird, den Gesellschaftszweck auszuüben, macht es kaum Sinn, danach zu fragen, wie oder wo die Geschäftsführung der Gesellschaft erfolgt. In diesem Fall gibt es nur einen statutarischen Sitz.

Kein Rechtsmißbrauch durch Ausnutzung günstigerer EU-Regelungen

Gesellschaften, die aufgrund nationaler Rechte gegründet werden, sollen im Rahmen der Niederlassungsfreiheit in anderen EU-Mitgliedstaaten tätig werden. Die Ausnutzung günstigerer Regelungen nationaler Gesellschaftsrechte stellt keinen Mißbrauch dar, wenn die Ausnutzung auf dem "Wettbewerb der Rechtsordnungen" des Gesellschafts- und Steuerrechts beruht. Der EuGH weist darauf hin, daß das Gesellschaftsrecht in der Gemeinschaft nicht voll harmonisiert ist und der Rat bzw. die Kommission die Möglichkeit haben, diese Harmonisierung zu vervollständigen. Obwohl die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften i.S.d. Art. 48 EGV entsprechend Art. 293 EGV durch ergänzende Abkommen der Mitgliedstaaten geregelt werden soll, stellt der EuGH -- anders als noch in der "Daily-Mail"-Entscheidung -- nicht mehr darauf ab, ob ein derartiges Abkommen verhandelt werden muß. Zu Recht! Das Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen v. 29.2.1968 besteht nun seit 31 Jahren, ohne daß es Rechtsgültigkeit erlangt hat (vgl. Stieb, GmbHR 1992, R 25). Die Untätigkeit von Legislative oder Verwaltung darf nicht weiter dazu führen, daß aus dem EG-Vertrag resultierende Rechte, wie das Niederlassungsrecht, nicht verwirklicht werden können.

Auslandsgesellschaften haben nicht nur unlautere Absichten

Daß die Sitztheorie Gläubigerinteressen schützt, mag für die angeblich parteiunfähige Darlehensgeberin auf den Kanalinseln eher zynisch klingen. Diese Theorie ist nicht nur im Einzelfall ungerecht, sondern rechtspolitisch bedenklich. Die Wirtschaft benötigt Kapital. Kapital kommt nicht nur von der Bank oder über die Börse, sondern auch in Form von Wagniskapital und häufig aus dem Ausland, z. B. den USA, sei es aus New York oder Delaware. Wenn auch nur ansatzweise der Kapitalnehmer die Möglichkeit besitzt, durch Infragestellen der Rechtsfähigkeit mit gerichtlicher Hilfe, sich seiner Verpflichtungen entziehen zu können, wird der Kapitalstrom aus dem Ausland schnell versiegen.

Wenn die Rechtsprechung die Sitztheorie vertritt, um eine "wirksamere staatliche Kontrolle" auszuüben, stellt sich die Frage, wer wen oder was kontrolliert. Bei dieser Formulierung besteht der Verdacht, daß das Gericht eigenes Richterrecht als ordnungspolitisches Instrument versteht. Gesellschaftsrecht taugt aber nicht als Ordnungsrecht. Das LG Traunstein erkennt in seinem Beschl. v. 9.2.1998 -- 8 Z 98/98, daß Auslandsgesellschaften zu Zwecken der Verschleierung von Rechtsverhältnissen und Steuerhinterziehungen gegründet werden; dies rechtferige jedoch nicht, aus dem Grundsatz des ordre public die Anerkennung zu versagen. Natürlich fordern Gläubigerschutz und ordre public Korrekturmöglichkeiten, wenn im Einzelfall "das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts mit den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in einem so schwerwiegenden Widerspruch steht, daß es als untragbar angesehen werden muß" (vgl. LG Traunstein, aaO). Ähnliches führt der EuGH zu Art. 46 EGV aus.

Nach "Centros" muß die Einstellung zu Auslandsgesellschaften und "hard- und soft-law" in Gesellschaftsrechten überdacht werden. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, eindeutige Grundlagen für die Bestimmung der Rechtsfähigkeit von Auslandsgesellschaften zu schaffen. Im Steuerrecht werden EU-weit bestimmte Länder durch einen Steueroasenerlaß "auf die schwarze Liste gesetzt". Der Gesetzgeber könnte dies auch im Gesellschaftsrecht ("nicht rechtsfähig und klagebefugt sind Gesellschaften mit Sitz in Delaware, Panama ...") praktizieren. Er tut es bewußt nicht, weil er auf gesellschaftsrechtlicher Ebene mit schweren wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen zu rechnen hätte. Ist es dann aber nicht sinnvoller, weltweit auf den Ort der Gründung abzustellen?
 
 
 

Zurück