Marcel Grobys,
Rechtsanwalt, Frankfurt a. M.*

 

Scheinselbständigkeit -- Ein Gesetz in der Krise

 

Das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte v. 19.12.1998 („Korrekturgesetz“, BGBl. I 1998, 3843) hat in Öffentlichkeit und Fachpresse einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die jüngste Erhebung zu dem im ersten Halbjahr 1999 um 6,23 % gegenüber dem Vorjahr gestiegenen Krankenstand ließ bereits den Ruf nach einer Wiedereinführung der damals gekürzten Lohnfortzahlung laut werden (vgl. Handelsblatt v. 28.7.1999). Kernpunkt der Kritik sind jedoch nach wie vor die Regelungen zur sog. „Scheinselbständigkeit“. Damit sollen scheinbar selbständige Personen (also solche Personen, die in Wirklichkeit nicht freie Mitarbeiter, sondern abhängige Beschäftigte sind) leichter erfaßt und zugleich der Kreis der Beitragszahler in der Sozialversicherung verbreitert werden. Aktuelle Entwicklungen in Verwaltung und Gesetzgebung zeigen jedoch, daß dieses gesetzgeberische Anliegen gescheitert ist oder, wie Bauer/Diller (NZA 1999, 745) formulieren, „das Ende eines Alptraums“ naht.

 

Die Ausgangslage

Zur Erinnerung: Die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung hatten sogleich nach Inkrafttreten des Korrekturgesetzes eine gemeinsame Stellungnahme zur Interpretation und Anwendung der zentralen Vorschrift des § 7 Abs. 4 SGB IV herausgegeben (ZIP 1999, 252; abzurufen unter „http://www.rws-verlag.de“, Volltexte). Auf den ersten Blick schien diese Stellungnahme im Sinne des gesetzgeberischen Anliegens zu sein, da sie eine restriktive Interpretation und Umsetzung der zitierten Regelung vorsieht. Danach gelten Personen, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, regelmäßig nur für einen Auftraggeber tätig sind, für Beschäftigte typische Arbeitsleistungen erbringen und nicht aufgrund unternehmerischer Tätigkeit am Markt auftreten, aufgrund einer widerlegbaren Vermutung als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, wenn mindestens zwei der genannten Merkmale vorliegen. Eine konsequente Umsetzung dieser Regelung war jedoch von Anfang an in der Praxis nicht möglich. Da viele „echte“ Selbständige häufig keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen und oft längere Zeit (insbesondere im Rahmen von Projektarbeit) für nur einen Auftraggeber tätig sind, sahen sich praktisch über Nacht Menschen als abhängig Beschäftigte, die sich jahrelang als Selbständige betätigten und in der Gesellschaft auch als solche angesehen wurden. Die unerwartet hohe Flut von Anträgen zur Klärung des versicherungsrechtlichen Status führte zudem schnell zu einer Überlastung der Sozialversicherungsträger. Schließlich sind die vom Gesetzgeber verwendeten Kriterien nicht annähernd in der Lage, die Vielfalt der von der Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungsmerkmale wiederzuspiegeln. Man ist sich daher weitgehend einig: der Regelung des § 7 Abs. 4 SGB IV fehlt jeder Orientierungs- und Sicherheitswert. Dies erkennend, attestiert auch das BSG, daß die Regelung „allenfalls im Verwaltungsvollzug zu einer Erleichterung der Begründungspflicht für Verwaltungsakte“ führe (Urt. v. 28.1.1999 -- B 3 KR 2/98).

 

Neuorientierung der Sozialversicherungsträger

Die oben beschriebenen Schwierigkeiten und massive Kritik haben die Sozialversicherungsträger nun veranlaßt, ihre zunächst herausgegebene Stellungnahme erheblich abzuschwächen. Die als „Ergänzende Hinweise zur versicherungsrechtlichen Beurteilung scheinselbständiger Arbeitnehmer und arbeitnehmerähnlicher Selbständiger v. 16.6.1999“ (abgedr. in NZA 1999, 746) herausgegebenen Richtlinien haben hierbei einen Rückzug der Verwaltung auf Raten in Gang gebracht, der möglicherweise noch in Form einer Korrektur des Korrekturgesetzes kulminieren wird. Indem die Richtlinien nunmehr bei der Auslegung der vier Kriterien des § 7 Abs. 4 SGB IV stärker auf eine einzelfallorientierte Betrachtung abstellen (vgl. Ziff. 2.1 sowie Ziff. 5 der „Ergänzenden Hinweise“) und die zunächst für alle von der Regelung erfaßten Personen vorgesehene Meldepflicht wieder aufheben (Ziff. 1.1), wird das ursprüngliche, zentrale Anliegen des Gesetzgebers geradezu torpediert. Wie soll eine erleichterte Erfassung scheinselbständiger Personen möglich sein, wenn es letztlich doch auf den Einzelfall ankommt? Im Ergebnis wird so die Prüfung der Sozialversicherungspflicht doch wieder auf die Auftraggeber und ihre Berater verlagert, so wie es bereits vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung war. Damit nicht genug. Der Vermutungstatbestand soll in Zukunft nur noch dann Anwendung finden, „wenn der Sozialversicherungsträger den konkreten Sachverhalt nicht vollständig aufklären kann -- insbesondere weil die zu beurteilende Erwerbsperson ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllt und Auskünfte verweigert -- ...“ (Ziff. 1.2). Dies bedeutet im Klartext: nur wer sich weigert, seine Selbständigkeit darzulegen, braucht das Korrekturgesetz zu fürchten! Damit wird nicht nur dem kritischen Beobachter, sondern auch dem juristischen Laien klar, daß ein ernsthafter Anwendungsbereich für die gesetzliche Regelung nicht mehr verbleibt. Die Entscheidung über freie Mitarbeit oder abhängige Beschäftigung wird sich künftig -- ebenso wie vor dem Inkrafttreten des Korrekturgesetzes auch -- allein nach den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien und dem Geschick des Beraters bei der Ausgestaltung des Sachverhalts richten. Die gestaltungshindernde Fessel des § 7 Abs. 4 SGB IV aber ist weitgehend entfallen.

 

Das Finale: Rückzug des Gesetzgebers

Den vorläufigen Höhepunkt der oben beschriebenen Entwicklung markiert die jüngste Presseerklärung des BMA v. 13.7.1999. Bekanntlich hatte die Bundesregierung aufgrund der massiven Kritik in Öffentlichkeit und Fachpresse eine Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des BAG, Prof. Thomas Dieterich, zur Überprüfung des Korrekturgesetzes eingesetzt. Die nun mit der Presseerklärung veröffentlichten Beratungsergebnisse setzen den in der Verwaltung bereits begonnenen Rückzug auf Raten konsequent fort. Mit zahlreichen Änderungen an der bestehenden Regelung soll das Gesetz nun „präzisiert“ werden und „deutlicher als bisher das Verhältnis von Regeln und Ausnahmen erkennen lassen“ (Presseerklärung v. 13.7.1999). Die Arbeit der Kommission, wenn auch gut gemeint, geht allerdings in die falsche Richtung. Die vorgeschlagenen Änderungen sind letztlich nichts anderes als Kosmetik an einer Regelung, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Die gesetzliche Regelung wird auch nach ihrer Änderung kein wirksames Mittel gegen die Bekämpfung falscher Selbständigkeit darstellen. Hierfür kommen allenfalls verschärfte Kontrollen in Betracht, wie sie bereits heute im Sozialgesetzbuch (§ 28 p SGB IV) vorgesehen sind. Eine Korrektur des Korrekturgesetzes birgt jedoch die Gefahr, daß sowohl Gesetzeslage als auch Verwaltungspraxis noch hinter den Rechtszustand zurückfallen, der vor dem 1.1.1999 galt. Für den juristischen Berater sind dies sicherlich befreiende Neuigkeiten! Der Gesetzgeber allerdings täte gut daran, das in der Praxis sich schon jetzt totlaufende Gesetz zur Scheinselbständigkeit endlich aufzuheben.

 

 

*              Sozietät GAEDERTZ.