Dr. Jens Kleinert,
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht, Frankfurt a. M.*

Freie Bahn für den Binnenmarkt mit den EuGH-Urteilen Marks & Spencer und Sevic vom 13.12.2005!

EuGH bleibt souverän!

Mit den in dieser Ausgaben abgedruckten beiden Urteilen vom 13.12.2005 in den Rechtssachen Sevic (Rs. C-411/03, GmbHR 2006, 140 m. Komm. Haritz; s. dazu auch W. Meilicke/Rabback, GmbHR 2006, 123) und Marks & Spencer (Rs. C-446/03, GmbHR 2006, 153; s. dazu auch J. Hey, GmbHR 2006, 113) hat der EuGH klargestellt, dass er nicht gedenkt, sich von den Mitgliedstaaten domestizieren zu lassen. Im Urteil Sevic hat er zum deutschen Gesellschaftsrecht konstatiert, dass die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EG-Vertrag die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, die Verschmelzung einer ausländischen Tochtergesellschaft auf eine deutsche Muttergesellschaft zuzulassen, auch wenn die deutsche Gesetzeslage nur Verschmelzungen zwischen inländischen Gesellschaften zulässt. Im Urteil Marks & Spencer hat er entschieden, dass die Niederlassungsfreiheit das Vereinigte Königreich dazu zwingt, die Verrechnung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften mit Gewinnen einer inländischen Muttergesellschaft zuzulassen, wenn vergleichbare Verluste inländischer Tochtergesellschaften berücksichtigt worden wären und die Verluste im Entstehungsstaat nicht genutzt werden konnten.

Warnung vor falschen Schlussfolgerungen

Generell hat eine Bewertung der Entscheidungen zu berücksichtigen, dass der EuGH nach Art. 234 EG die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu vollständig abgeschlossenen Sachverhalten vorzunehmen hatte. Dies wird insbesondere im Urteil Marks & Spencer deutlich, wo er eben nicht darüber befinden musste, ob alleine die Möglichkeit des Verlustvortrags eine grenzüberschreitende Verlustverrechnung ausschließt. Da die Verluste durch Einstellung des Geschäftsbetriebs der Tochtergesellschaften bzw. deren Veräußerung definitiv geworden waren, musste der EuGH z.B. nicht zu der bei § 2a EStG relevanten Frage Stellung nehmen, ob der Liquiditätsnachteil eines Verlustvortrags im Verlustentstehungsstaat gegenüber dem grenzüberschreitenden Verlusttransfer im selben Veranlagungszeitraum und einer Hinzurechnung in einem späteren Veranlagungszeitraum im Gewinnfall gemeinschaftsrechtlich hinzunehmen ist. In Rz. 54 seines Urteils hat der EuGH aber Sympathie für diese -- gegenüber einem Verlustverrechnungsverbot -- weniger belastende Maßnahme angedeutet.

Richtlinien und ihre Umsetzung dürfen nicht diskriminieren

Mit beiden Entscheidungen hat der EuGH inzident klargestellt, dass Richtlinien, die die grenzüberschreitende Verschmelzung oder Verlustnutzung zum Gegenstand haben, zwar für betroffenen Unternehmen hilfreich sein können, weil sie Rechtssicherheit bieten, auf die Anwendung der Grundfreiheiten -- hier in Gestalt der Niederlassungsfreiheit -- aber keine Auswirkung haben.

Auf das auch von Art. 43 EG formulierte Postulat der Gleichstellung grenzüberschreitender Sachverhalte mit Inlandssachverhalten haben Richtlinien immer dann keine Auswirkungen, wenn das nationale Recht für Inlandsbeziehungen weiter geht, indem es z.B. zwischen Tochter- und Muttergesellschaft eine Verschmelzung oder Verlustverrechnung zulässt. Bleibt hingegen das nationale Recht hinter einer Richtlinie, die die (grenzüberschreitende) Verschmelzung bzw. Verlustnutzung gebietet, zurück, so statuiert die Richtlinie Mindeststandards und gewährt damit den Unternehmen einen (Rechts)Anspruch, der aus dem Inländergleichbehandlungsgrundsatz nicht abgeleitet werden kann.

Somit ist auch die Frage nach dem Verhältnis der Grundfreiheiten (Primärrecht) zu Richtlinien (Sekundärrecht), die zwecks Verwirklichung der Grundfreiheiten erlassen werden, beantwortet. Da sowohl die Richtlinie, als auch ihre Umsetzung ins nationale Recht sich am Maßstab der Grundfreiheiten messen lassen muss, bleiben ausschließlich die Grundfreiheiten alleiniger Prüfungsmaßstab des EuGH, wenn Richtlinien nicht bestehen oder die nationale Regelungslage für Inlandsbeziehungen über eine bestehende Richtlinie hinausgehende Vorteile vorsieht. Eine Richtlinie kann nicht zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von In- und Auslandssachverhalten herangezogen werden, wenn Ursache der Ungleichbehandlung die großzügigere Regelung des Inlandsfalles ist.

Pauschalierende Inlandsbeschränkung unzulässig

In beiden Entscheidungen hat der EuGH die pauschale gesetzliche Vermutung, grenzüberschreitende Sachverhalte müssten wegen ihrer abstrakten -- sich alleine aus der Grenzüberschreitung ergebenden -- Gefahren untersagt werden, als gemeinschaftsrechtswidrig verworfen. Nur wenn sich im konkreten Fall Risiken aus einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (z.B. Gläubigerbenachteiligung) oder Verlustnutzung (z.B. doppelte Verlustnutzung) ergeben, erlaubt das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten beschränkende Maßnahmen, wobei deren Erforderlichkeit konkret dargelegt bzw. nachgewiesen werden muss. Eine -- in den vom EuGH untersuchten gesetzlichen Regelungen statuierte -- pauschale Untersagung der grenzüberschreitenden Verschmelzung bzw. Verlustnutzung verstößt hingegen gegen das Gemeinschaftsrecht.

Konsequente Inländergleichbehandlung bekräftigt

In beiden Urteilen hat der EuGH den Inländergleichbehandlungsgrundsatz konsequent verwirklicht. Wenn im Inlandsfall die doppelte Verlustnutzung nicht möglich ist, entspricht es dem Grundsatz der Inländergleichbehandlung, wenn bei der grenzüberschreitenden Verlustnutzung die durch die Beteiligung zweier Staaten eröffnete Möglichkeit der doppelten Verlustnutzung unterbunden wird. Mit der Bedingung, dass die Verlustnutzung im Verlustentstehungsstaat nicht möglich gewesen sein darf, regeln die Mitgliedstaaten durch strikte Inländergleichbehandlung die einmalige grenzüberschreitende Verlustnutzung gemeinschaftsrechtskonform und verhindern zugleich einen "Verlustverkehr" im Binnenmarkt. Vergleichbares gilt für die grenzüberschreitende Verschmelzung, die im Einzelfall durchaus untersagt werden kann, wenn dafür konkret und nicht abstrakt eine Rechtfertigung dargelegt wird.

Grenzüberschreitende Geschäftsbeziehung muss gelebt werden

Die Entscheidungen zeigen auch, dass die Gestaltung einer grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehung in zumutbarer Weise -- auch im Widerspruch zur nationalen Regelungslage -- so vorzunehmen ist, wie im entsprechenden Inlandsfall. Es dürfte daher nicht genügen, wenn sich ein Unternehmen heute darauf beruft, man hätte ja im Jahr 2002 die ausländische Tochtergesellschaft auf die inländische Muttergesellschaft verschmolzen, wenn § 1 UmwG die Verschmelzung mit ausländischen Rechtsträgern zugelassen hätte, um rückwirkend mögliche Vorteile aus dieser Verschmelzung zu erlangen. Die Sevic Systems AG hingegen wird diese Vorteile genießen, weil sie -- im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut (= Regelungslage) -- bereits im Jahr 2002 alles Zumutbare getan hat.

Wer demnach heute einen schlichten Antrag auf Verrechnung der in früheren Jahren entstandenen Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft stellt, wird zurecht mit einem abschlägigen Bescheid rechnen müssen, wenn er nicht -- wie bei einer inländischen Organschaft -- die Verluste der ausländischen Tochter ausgeglichen und die ausländische Tochter entsprechende Gewinne in voller Höhe jeweils für eine fünfjährige Mindestdauer an die Muttergesellschaft abgeführt hat. Damit wird die vom Verfasser (DB 2005, 1869) vertretene These von der "gelebten grenzüberschreitenden Organschaft" zur Tatbestandsvoraussetzung, wenn man mit Hilfe der Niederlassungsfreiheit die Chancen einer grenzüberschreitenden Organschaft nutzen will. Ohne die annähernde Verwirklichung des entsprechenden Tatbestands (Versuch der Verschmelzung bzw. der "gelebten Organschaft"), hat der EuGH keine Möglichkeit, über die Inlandsbeschränkung der deutschen Regelungslage zu urteilen. Bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung hat er das zu § 1 UmwG bereits getan, bei der Organschaft wird er dies nur tun können, wenn sie grenzüberschreitend "gelebt" und damit vollzogen wird.

Verschiebung von Steuersubstrat möglich

Mittels grenzüberschreitender Organschaft können auch unversteuerte Gewinne einer deutschen Organgesellschaft (OG) an einen ausländischen Organträger (OT) verlagert werden, was eine erhebliche Verschiebung des Steuersubstrats zur Folge haben kann. Schließlich hat der EuGH in seinem Urt. v. 26.10.1999 in der Rechtssache Eurowings (Rs. C-294/97, Slg. 1999, 7447) die Verhinderung der Verlagerung des (Gewerbe)Steuersubstrats bei Einschaltung eines ausländischen Leasinggebers durch Steuerzugriff beim inländischen Leasingnehmer als nicht gerechtfertigt angesehen.

Alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten gegen die beliebige Verschiebung von Steuersubstrat dürfen folglich Auslandssachverhalte gegenüber Inlandssachverhalten nicht benachteiligen. Ob nun nur das (Gewerbe)Steuersubstrat aus einer Geschäftsbeziehung (Leasing), oder das gesamte (Körperschaft)Steuersubstrat einer OG ins Ausland "verschoben" wird, ist damit allenfalls gradueller Natur und rechtfertigt keine andere rechtliche Beurteilung.

Zudem kann es zu einer Verschiebung von Steuersubstrat bei einer grenzüberschreitenden Organschaft nur dann kommen, wenn die inländische OG während des (mindestens fünfjährigen) Bestehens der Organschaft einen Totalgewinn erzielt bzw. ein inländischer OT im Saldo Verluste auszugleichen hat. Ist dies nicht der Fall, fehlt es schon an einer verschiebbaren Steuer. Hier zeigt sich, dass die Ergebnisabführung an den OT bei der grenzüberschreitenden Organschaft für die Bundesrepublik Deutschland auch vorteilhaft sein kann, wenn sie -- spiegelbildlich zur Ergebnisabführung bei Gewinnen -- Verluste steuerlich nicht berücksichtigen muss. Damit kann auch die von den Vertragsstaaten eines DBA vereinbarte symmetrische Zuordnung von Gewinnen und Verlusten bei der grenzüberschreitenden Organschaft nicht gestört werden, da die steuerliche Berücksichtigung des positiven wie negativen Ergebnisses -- jedenfalls aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland -- nur beim Staat des OT erfolgt. Dies führt zu dem Ergebnis, dass auch dieser (Teil)Rechtfertigungsgrund für die Inlandsbeschränkung der Organschaft nicht einschlägig ist.

DBAs können Grundfreiheiten nicht beschränken

Auch mit der zwischen zwei Vertragsstaaten eines DBA vorgenommenen Zuweisung des Besteuerungsrechts an einer Betriebstätte kann die Bundesrepublik Deutschland die Inlandsbeschränkung der deutschen Organschaft nicht rechtfertigen. Da auch DBAs sich als zwischenstaatliche Verträge an den Grundfreiheiten des EG-Vertrages messen lassen müssen, wird die in einem DBA getroffene Vereinbarung vom Anwendungsvorrang des (primären) Gemeinschaftsrechts (hier wohl Art. 43 EG) in Gestalt des Inländergleichbehandlungsgrundsatzes verdrängt. Jede andere Beurteilung würde DBA-Vertragsstaaten durch "kollusives" Zusammenwirken die Möglichkeit eröffnen, die Grundfreiheiten des EG-Vertrages im Binnenmarkt bilateral einzuschränken. Zwar fordert Art. 293 EG die Mitgliedstaaten zum Abschluss von DBAs auf, erlaubt ihnen aber nicht zugleich unter Verstoß gegen den Inländergleichbehandlungsgrundsatz zu diskriminieren. Der Mitgliedstaat des OT kann auch nicht neben seiner Steuer eine Ergänzungssteuer in Höhe der Steuer der OG, die diese in ihrem Ansässigkeitsstaat zahlen müsste, beim OT erheben und diese Ergänzungssteuer an den Ansässigkeitsstaat der OG zurückzahlen. Würde er dies tun, so läge bezüglich des Staats des OT eine von Art. 43 EG nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung hinsichtlich der Erhebung der Ergänzungssteuer vor, da nach dem Gemeinschaftsrecht beide Mitgliedstaaten die an der Organschaft beteiligten Gesellschaften wie Inländer behandeln müssen.

Schlussbemerkung

Die beiden EuGH-Urteile zeigen, dass man gegen eine gemeinschaftsrechtswidrige Regelungslage mit zumutbaren Gestaltungen angehen muss, um frühzeitig die Vorteile des Europäischen Binnenmarkts genießen zu können. Der nicht zu unterschätzende Aufwand, der derartigen Gestaltungen zugrunde liegt, wird von einem Restrisiko bezüglich des Verfahrenserfolgs flankiert. Im Erfolgsfall ergibt sich ein Ertrag, den risikoscheue Unternehmer erst ab dem Zeitpunkt erzielen können, ab dem die entsprechende Gestaltung vom EuGH abgesegnet wurde.

 

 

* Dewey Ballantine LLP.



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