Publizitätspflicht: Vorabentscheidungsersuchen zur Offenlegung des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie zur Führung des Handels- und Gesellschaftsregisters – Unzuständigkeit des Gerichtshofes

EG Art.234; Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 (ABl. L 65, S. 8) Art. 2 Abs. 1 Buchst. f; Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 (ABl. L 222, S. 11) Art. 47

Die nationalen Gerichte können den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt; wenn die vorlegende Einrichtung als Verwaltungsbehörde handelt und z.B. nur ein Handels- und Gesellschaftsregister führt, ohne daß sie gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, kann somit nicht davon ausgegangen werden, daß sie eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt.*

EuGH, Urt. v. 15.1.2002 – Rs. C-182/00 – Lutz GmbH u.a. –

Urteil

1. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht in Registersachen hat mit Beschl. v. 9.5.2000, beim Gerichtshof eingegangen am 15.5.2000, gemäß Art. 234 EG fünf Fragen nach der Gültigkeit von Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften i.S.d. Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8, nachfolgend: Erste Gesellschaftsrichtlinie), und von Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 Buchst. g des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11, nachfolgend: Vierte Gesellschaftsrichtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren betreffend die Lutz GmbH u.a. (nachfolgend: Antragsteller) wegen der Einreichung des Jahresabschlusses und eines Lageberichts gemäß dem österreichischen Handelsgesetzbuch (HGB) i.d.F. des EU-Gesellschaftsrechtsänderungsgesetzes (BGBl. 1996/304).

Das Gemeinschaftsrecht

3. Nach Art. 54 Abs. 3 Buchst. g EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG) wirken der Rat und die Kommission auf die Abschaffung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit hin, indem sie soweit erforderlich die Schutzbestimmungen koordinieren, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften i.S.d. Art. 58 Abs. 2 EG-Vertrag (jetzt Art. 48 Abs. 2 EG) im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten.

4. Gemäß Art.2 Abs.1 Buchst. f der Ersten Gesellschaftsrichtlinie treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit sich die Pflicht zur Offenlegung hinsichtlich der Gesellschaften auf die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr erstreckt.

5. Nach Art. 47 der Vierten Gesellschaftsrichtlinie sind der ordnungsgemäß gebilligte Jahresabschluß und der Lagebericht sowie der Bericht der mit der Abschlußprüfung beauftragten Person nach den in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 der Ersten Gesellschaftsrichtlinie vorgesehenen Verfahren offenzulegen.

Das nationale Recht

6. Für große Kapitalgesellschaften i.S.v. § 221 HGB bestimmt § 277 Abs. 1 HGB:

"Die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften haben den Jahresabschluß und den Lagebericht nach seiner Behandlung in der Hauptversammlung (Generalversammlung), jedoch spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag, mit dem Bestätigungsvermerk oder den Vermerk über dessen Versagung oder Einschränkung beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Kapitalgesellschaft einzureichen; innerhalb derselben Frist sind der Bericht des Aufsichtsrates, der Vorschlag über die Verwendung des Ergebnisses und der Beschluß über dessen Verwendung einzureichen. Werden zur Wahrung dieser Frist der Jahresabschluß und der Lagebericht ohne die anderen Unterlagen eingereicht, so sind der Bericht und der Vorschlag nach ihrem Vorliegen, die Beschlüsse nach der Beschlußfassung und der Vermerk nach der Erteilung unverzüglich einzureichen. ..."

7. Bei Nichtbefolgung dieser Offenlegungspflicht kann nach § 283 Abs. 1 HGB eine Zwangsstrafe von bis zu 50.000 ATS verhängt werden.

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

8. Mit Beschl. v. 13.9.1999 gab das Landesgericht Wels als Handelsgericht den Antragstellern unter Androhung einer Zwangsstrafe von 10.000 ATS für jeden von ihnen auf, jeweils binnen vier Wochen den Jahresabschluß und den Lagebericht gemäß dn §§ 277 bis 280 HGB einzureichen.

9. Da nach der st. Rspr. des österreichischen Obersten Gerichtshofes die Androhung einer Zwangsstrafe wie der im Beschl. v. 13.9.1999 enthaltenen unanfechtbar ist, ersuchten die Antragsteller den österreichischen Verfassungsgerichtshof mit einem Individualantrag um Feststellung, daß die nationalen Bestimmungen über die Offenlegung des Jahresabschlusses und des Lageberichts im Widerspruch zu Grundrechten und zum Gemeinschaftsrecht stehen. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht verlängerte mit Beschl. v. 2.11.1999 die Frist für die Einreichung der geforderten Rechnungslegungsunterlagen bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Mit Beschl. v. 29.11.1999 wies der Verfassungsgerichtshof den Antrag der Antragsteller zurück, da der Vollzug einer Zwangsstrafe bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verpflichtung ausgesetzt werden könne, deren Nichtbeachtung mit der Zwangsstrafe belegt sei.

10. Das Landesgericht Wels als Handelsgericht hat deshalb dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Wird durch die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG und Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG vorgesehenen Maßnahmen hinsichtlich der Offenlegungspflicht von Kapitalgesellschaften Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG verletzt, welcher zur Koordinierung jenerSchutzbestimmungen ermächtigt, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie der Gläubiger vorgeschrieben sind?

2. Wird durch die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG und Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG vorgesehenen Maßnahmen hinsichtlich der Offenlegungspflicht von Kapitalgesellschaften Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG dadurch verletzt, daß die Erforderlichkeit im Hinblick auf den Abbau von Niederlassungsbeschränkungen oder zur Verwirklichung sonstiger Ziele des EG-Vertrags (insbesondere die Herstellung einheitlicher rechtlicher Rahmenbedingungen) nicht vorliegt?

3. Ist es mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, daß Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG i.V.m. Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere – weniger eingriffsintensive – Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?

4. Ist es mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht auf Eigentum vereinbar, daß Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/151/EWG i.V.m. Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere – weniger eingriffsintensive – Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?

5. Ist es mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht auf Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung vereinbar, daß Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Ersten Richtlinie 68/15l/EWG i.V.m. Art. 47 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG die Unternehmen durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung für jedes Geschäftsjahr unter Strafandrohung zwingt, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, und der vorgesehene Schutzzweck durch andere – weniger eingriffsintensive – Maßnahmen in adäquater Weise erzielt werden kann?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

11. Nach Art. 234 Abs. 1 EG entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung u.a. über die Auslegung des Vertrages und der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Art. 234 Abs. 2 EG sieht vor: Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

12. Zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung ein Gericht i.S.v. Art. 234 EG ist, stellt der Gerichtshof auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. u.a. EuGH v. 17.9.1997 – Rs. C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Rz. 23, und die dort angeführte Rspr., v. 21.3.2000 – Rs. C-110/98 – C-147/98, Gabalfrisa u.a., Slg. 2000, I-1577, Rz. 33, und v. 14.6.2001 – Rs. C-178/99, Salzmann, Slg. 2001, I-4421, Rz. 13).

13. Nach Art. 234 EG hängt zwar die Anrufung des Gerichtshofs nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage abfaßt, streitigen Charakter hat (vgl. EuGH v. 17.5.1994 – Rs. C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, Rz. 12). Aus diesem Artikel ergibt sich aber, daß die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. EuGH v. 18.6.1980 – Rs. 138/80, Borker, Slg. 1980, 1975, Rz. 4, und v. 5.3.1986 – Rs. 318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Rz. 4, sowie v. 19.10.1995 – Rs. C-111/94, Job Centre, Slg. 1995, I-3361, Rz. 9, und Salzmann, Rz. 14).

14. Wenn die vorlegende Einrichtung als Verwaltungsbehörde handelt, ohne daß sie gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, kann somit selbst dann, wenn sie die übrigen in Rz. 12 dieses Urteils aufgeführten Voraussetzungen erfüllt, nicht davon ausgegangen werden, daß sie eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt. Das ist z.B. der Fall, wenn sie über den Antrag auf Eintragung einer Gesellschaft im Register in einem Verfahren entscheidet, das nicht die Aufhebung eines Rechtsakts zum Gegenstand hat, der ein Recht des Antragstellers verletzt (vgl. Urteile Job Centre, Rz. 11, und Salzmann, Rz. 15).

15. Aus den Akten geht hervor, daß das Landesgericht Wels, wenn es als Handelsgericht gemäß den nationalen Bestimmungen über die Verpflichtung zur Offenlegung des Jahresabschlusses und des Lageberichts entscheidet, nicht mit einem Rechtsstreit befaßt ist, sondern nur ein Handels- und Gesellschaftsregister führt. Es stellt nämlich nur fest, ob den gesetzlichen Offenlegungsverpflichtungen entsprochen wurde, und ordnet ggf. unter Androhung einer Zwangsstrafe die Vorlage der entsprechenden Rechnungslegungsunterlagen an. Außerdem deutet nichts in den Akten darauf hin, daß beim Landesgericht Wels ein Rechtsstreit zwischen den Antragstellern und einer etwaigen beklagten Partei anhängig wäre.

16. Daher übt das Landesgericht Wels mit dieser Tätigkeit keine Rechtsprechungstätigkeit aus.

17. Folglich ist der Gerichtshof nicht zuständig, über die Fragen zu entscheiden, die das Landesgericht Wels als Handelsgericht im Rahmen der Führung des Handels- und Gesellschaftsregisters gestellt hat. ...

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist nicht zuständig, auf die vom Landesgericht Wels in seinem Beschl. v. 9.5.2000 gestellten Fragen zu antworten.


* Leitsatz der Redaktion.

 


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