Marcel Grobys
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht,
München*

Agenda 2010 im Jahr 2004 – "Reform" des Arbeitsmarkts und andere Mißverständnisse

Am 19.12.2003 war es endlich so weit. An diesem Tag verabschiedete der Bundestag nach langen Verhandlungen und zähem Ringen im Vermittlungsausschuß das "große Reformpaket" (FAZ v. 20.12.2003, S. 14), mit dem die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wieder hergestellt werden soll. Die von der Bundesregierung vor gut einem Jahr verkündeten Programmsätze für eine "Agenda 2010" haben damit in zahlreichen Einzelgesetzen zum Arbeitsrecht, Arbeitsförderungsrecht, Steuerrecht und Recht der gesetzlichen Rentenversicherung eine -- jedenfalls vorläufige -- gesetzliche Gestalt erhalten. Ihren Inhalt kann man nun z.B. im Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, dem Haushaltsbegleitgesetz 2004, dem Zweiten und Dritten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze sowie dem Dritten und Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt nachlesen. Im Fokus der öffentlichen Diskussion stand und steht dabei die Flexibilisierung verkrusteter Strukturen am Arbeitsmarkt. Doch gerade hier fehlt ein ausgewogenes Konzept. Nicht nur die vielgepriesenen Neuerungen im Kündigungsschutzrecht erweisen sich bei genauem Hinsehen als "alte Hüte". Auch die umstrittene dritte und vierte Stufe der Hartz-Reform werden wahrscheinlich kaum wirkungsvoller sein als die bereits von vielen Fachleuten für gescheitert erklärte Einführung der Personalservice-Agenturen. Gleichwohl: Die ökonomische Bewertung des Geschehens muß anderer Stelle vorbehalten bleiben. In arbeitsrechtlicher Hinsicht ist allerdings schon heute absehbar, daß die Agenda 2010 nicht mehr als ein Flickenteppich ohne Gesicht oder erkennbares Muster ist.

Kündigungsschutzrecht

Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, ist insbesondere die Reform des Kündigungsschutzgesetzes ein Sammelbecken für Mißverständnisse:

"Die Sozialauswahl wird vereinfacht"

Dies trifft nicht zu. Zwar beschränkt das Gesetz die Auswahl künftig auf vier Kriterien (Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung). Nach der Gesetzesbegründung sollen aber weitere Umstände in gewissem Ausmaß berücksichtigungsfähig sein. Darüber hinaus müssen nach Auffassung des Gesetzgebers sämtliche Kriterien mit gleichem Gewicht berücksichtigt werden. Ob ein Punkteschema damit weiterhin zulässig ist, bleibt ungeklärt. Auch die Herausnahme einzelner Leistungsträger aus der Sozialauswahl wurde nicht entscheidend vereinfacht.

"Kleinbetriebsklausel erhöht Flexibilität"

Die (Wieder)Heraufsetzung des Schwellenwerts auf 10 Arbeitnehmer wird sicher nicht spürbar zur Entlastung des Arbeitsmarkts beitragen, abgesehen davon, daß die gesetzliche Neuregelung aufgrund der vorgesehen "Bestandsschutzregelung" für Altfälle verfassungsrechtlich problematisch ist (Art. 3 Abs. 1 GG) und das BVerfG in größeren Unternehmungen die Begriffe "Betrieb" und "Unternehmen" (vgl. § 23 Abs. 1 KSchG) ohnehin für den Regelfall gleichgesetzt hat (vgl. BVerfG v. 27.1.1998 -- 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470 [474]).

"Abfindungsanspruch erleichtert betriebsbedingte Kündigungen"

Im Gegenteil: die Neuregelung enthält nicht nur zahlreiche rechtliche Fallstricke (dazu Grobys, DB 2003, 2174); für sie besteht auch kein praktischer Anwendungsbereich, da Vorteile für die Parteien hieraus nicht ersichtlich sind. Die bisherige Praxis von Angebot und Annahme eines Aufhebungsvertrags wird damit lediglich unter ein gesetzliches Dach gestellt. Die Behauptung, daß damit mehr Rechtssicherheit bei Personalmaßnahmen geschaffen würde, ist reine Augenwischerei.

Große Teile der Reform des Kündigungsrechts sind daher nicht mehr als eine Mogelpackung. Allein die Wiedereinführung der Namensliste bei Massenentlassungen dürfte in der Praxis spürbare Auswirkungen haben. In diesem Zusammenhang wurde allerdings versäumt, die unter der Kohl-Regierung für einige Jahre in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommene Regelung zur Beschleunigung des Interessenausgleichsverfahrens wieder zu beleben.

Sozialrecht (SGB III)

Im Zusammenhang mit der Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld auf maximal 18 Monate für 55-jährige Arbeitnehmer ab dem Jahr 2006 wird auch die Erstattungspflicht für das von älteren Arbeitnehmern bezogene Arbeitslosengeld entfallen (vgl. § 147a SGB III). Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Erstattungsregel allerdings vorübergehend nochmals verschärft (Verlängerung des Erstattungszeitraums auf 32 Monate, Beginn der Erstattung bereits ab dem 57. Lebensjahr des Arbeitnehmers). Daß die Regelung im Jahr 2006 wegen des verkürzten Arbeitslosengeldanspruchs nicht mehr erforderlich sein soll, ist für Arbeitgeber zwar erfreulich, vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Intention der Erstattung aber nicht recht verständlich.

Mit § 148 SGB III wird ein weiterer Erstattungstatbestand -- mit sofortiger Wirkung -- aufgehoben. Es handelt sich hierbei um die Erstattungspflicht bei Arbeitslosengeld, das während eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots bezogen wird. Die Vorschrift war erst Ende 2000 an die Rechtsprechung des BVerfG angepaßt worden (vgl. BVerfG. v. 10.11.1998 -- 1 BvR 2296/96, 1081/97, NZA 1999, 191).

Schließlich werden im Bereich der arbeitsrechtlichen Transfermaßnahmen künftig neue Regelungen bei der Förderung von Sozialplänen und der Auszahlung von Struktur-Kurzarbeitergeld (künftig: Transfer-Kurzarbeitergeld) gelten (§ 216a, § 216b SGB III).

Sonstiges

Erwähnenswert ist noch die Einführung einer neuen Vorschrift zur Insolvenzsicherung von Altersteilzeitguthaben (§8a ATZG n.F.). Darüber hinaus wird im Arbeitnehmerüberlassungsrecht die Vereinbarung von Provisionen für Leiharbeitnehmer, die nach der Beendigung ihrer Tätigkeit für den Verleiher eine feste Anstellung bei einem Entleiher aufnehmen, legalisiert. Diese Gesetzesänderung war erforderlich geworden, weil nach Auffassung des BGH solche Provisionen gegen § 3 Nr. 9 AÜG verstießen (BGH v. 3.7.2003 -- III ZR 348/02, BB 2003, 2015). Zu guter letzt hat der Gesetzgeber im Rahmen des Subventionsabbaus schnell noch die Freibeträge für Abfindungszahlungen nach unten korrigiert (neue Freibeträge: EUR 7.200 / 9.000 / 11.000) und im Bundeserziehungsgeldgesetz kleine Modifikationen bei der Beantragung des Teilzeitanspruchs während Elternzeit vorgenommen (vgl. § 15 S. 1 Nr. 5 und S. 2 sowie § 16 Abs.1 BEerzGG); die Ungereimtheiten zwischen einem Teilzeitverlangen während Elternzeit und in anderen Fällen (vgl. § 8 TzBfG) wurden dabei allerdings nicht beseitigt.

Fazit

Bis zum Jahr 2010 sind noch 6 Jahre Zeit -- packen wir 's an!


* Gibson, Dunn & Crutcher LLP.


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