Robin Melchior,  
Richter am Amtsgericht, Berlin

 

Kalter Krieg in Europa -- Die  Rest-Limited auf dem Prüfstand des EuGH

 

Es war einmal ein deutsches Kind (das Registergericht), das genügsam mit den Bauklötzen spielte, die ihm seine Eltern gaben (deutsche Rechtsformen für Unternehmen und Gesellschaften). Eines Tages trat die böse Stiefmutter (Europäische Union) in das Leben des kleinen Kindes und sagte ihm, dass es fortan auch mit Bauklötzen spielen müsse, die aus den Nachbarstaaten kommen. Das Kind widersprach, woraufhin die Stiefeltern ihm auch noch den Schnuller wegnahmen (die Sitztheorie). Die Reaktion des Kindes fiel heftig aus: Es konnte nicht akzeptieren, dass die fremden Bauklötze ihre Niederlassungsfreiheit ausgerechnet dazu nutzten, seine Welt zu verändern. Das Kind verfiel darauf, die neuen Bauklötze intensiv zu untersuchen. Psychologen nennen das Regression: Kleinste Abweichungen von der Norm wurden beanstandet. Überwunden geglaubte Verhaltensmuster (Firmenrecht, Formalia bei der Anmeldung) erlebten eine Renaissance und verstellten dem Kind den Blick darauf, dass die ausländischen Bauklötze in das Spielzeugregal (das Handelsregister) nur deshalb aufgenommen werden sollen, damit sie dort jeder deutlich sehen kann (Eintragung ausländischer Zweigniederlassungen nebst Geschäftsanschrift als deklaratorische Tatsachen zum Schutz der Gläubiger und zur Begründung eines Gerichtsstandes im Inland nach § 21 ZPO).

Um das Kind zu beruhigen, bastelten die Eltern ihm rechtzeitig zum Weihnachtsfest 2008 ein neues, rein deutsches Bauklötzchen, die "Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)" (UG). Da das neue Spielzeug den europäischen Klötzen zum Verwechseln ähnlich sah, fing das Kind an, auch daran heftig zu rütteln. Seine Eltern riefen "Pass' auf, das Stammkapital fällt 'raus!" und drohten ihm mit dem Insolvenzgericht (so eine Art Schuldnerberater wie Peter Zwegat bei RTL).

Das Kind beruhigte sich erst, als es in die Grundschule kam, rechnen lernte und erkannte, dass sein Taschengeld locker ausreichte, um sich ein Menge UGs zu kaufen.

Auf dem Schulhof gab es eine Gruppe von Mitschülern, die sich die "Berater" nannten und ihr Taschengeld mit Hilfe ihrer Tanten und Onkeln (Notaren) in frische Bauklötze investierten und diese, aber auch gebrauchte Bauklötze an unternehmungslustige Menschen gegen Aufpreis verkauften. Unser Kind war an dem Deal beteiligt, denn es war zuständig für die Qualitätssicherung. Ein Bauklotz kam erst ins Regal oder in den Verkauf, wenn unser Kind  die jeweiligen Veränderungen geprüft hatte. Von den Eltern und in der Schule hatte es ja gelernt, dass es Bauklötze rechtlich nur gibt, wenn Stammkapital 'drin ist; es sei denn, der Klotz kommt aus dem Ausland.

Dieser Widerspruch wurde nie aufgearbeitet und ist vielleicht eine Ursache eines fatalen Fehlers: Eines Tages kam zu dem besagten Kind ein Mitschüler, der Inhaber eines englischen Bauklotzes war. Er berichtete, dass die Queen seinen Bauklotz aus dem Sortiment genommen habe (Löschung im englischen Handelsregister). Die englische Krone beabsichtige nicht, ihm die Rechtsfähigkeit für den Bauklotz zurückzugeben. Der Mitschüler fragt unser Kind, ob es ihm nicht bestätigen könne, dass es 'mal dieses englische Bauklötzchen gegeben habe, damit er an das Vermögen herankomme (Grundstück in Deutschland). Unser Kind blieb skeptisch und versagte die beantragte Bescheinigung, weil das englische Bauklötzchen nie überprüft wurde. Der Mitschüler beschwerte sich bei den deutschen Schulaufsichtsbehörden (Rechtsmittelgerichte). Die Schulräte fanden im Keller die juristische Kramkiste ihrer Großväter aus der Nachkriegszeit. Ungeachtet der Souveränität des Vereinigten Königreiches und seiner Untertanen (u.a. den Bauklötzen), bestätigten sie das rechtliche Fortbestehen des englischen Bauklotzes zum Zweck der Vermögensverwertung in Deutschland. Genannt wird das Nachtragsliquidation für die Restgesellschaft; ein Instrument und Relikt aus der Zeit des "kalten Krieges" und Reaktion auf die von kommunistischen Staaten ausgehenden Enteignungen.

Fatal ist die Entscheidung (OLG Thüringen v. 22.8.2007 -- 6 W 244/07, GmbHR 2007, 1109), weil das Instrument der Restgesellschaft die in 60 Jahren Frieden entwickelte, verfassungsrechtliche Realität außer Acht lässt. Hatte nicht zuletzt noch die Super Nanny (der EuGH) in seiner Entscheidung "Cartesio" (EuGH v. 16.12.2008 -- Rs. C-210/06, GmbHR 2009, 86 m. Komm. W. Meilicke) bestätigt, dass jedes EU-Mitgliedsland an seiner Rechtsordnung festhalten darf in Bezug auf die Gewährung und den Verlust der Rechtsfähigkeit seiner Untertanen? Und bleibt es damit nicht bei dem unwidersprochenem, kollisionsrechtlichen Grundsatz, dass nur der Gründungsstaat über die Existenz einer Rechtsperson entscheidet (Personalstatut) und sonst niemand?

Die Queen, der Herzog von Edinburgh oder der Duke of Cornwall (je nachdem, in wessen Gebiet das registered office des betroffenen Bauklotzes liegt) werden  not amused sein über diese deutsche Einmischung und Anmaßung. Anmaßung deshalb, weil es seit Jahrzehnten völkerrechtlich zwischen den EU-Mitgliedsstaaten die Pflicht zur Bündnis- und Gemeinschaftstreue sowie zur gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Rechtsordnungen gibt (folgt aus Art. 10 des EG-Vertrages). Ferner untergräbt diese deutsche Rechtspraxis die Zielsetzungen aller europarechtlichen Normen im Gesellschaftsrecht (effet utile).

Auf gut Deutsch: Wer sich für seine Geschäfte unter den Schirm des englischen Gesellschaftsrechts flüchtet, darf nicht weinend in seine deutsche Heimat zurückkehren und beklagen, dass die Queen ihm die Rechtsfähigkeit genommen, ihm den Inhalt seines Bauklötzchens weggenommen und mit Hilfe ihres Kronanwalts in die Asservatenkammer des Tower of London überführt habe. Niederlassungsfreiheit ist eben keine Einbahnstrasse!

An dieser Stelle wachte der Verfasser aus seinem Albtraum auf. Nicht ganz ein Albtraum. Denn so oder ähnlich mögen die Beweggründe gewesen sein, die einen Amtsrichter bewogen haben, den Antrag auf Bestellung eines Nachtragsliquidators für eine in England gelöschte Limited auszusetzen und die einschlägigen Rechtsfragen dem EuGH vorzulegen: Rs. C-497/08 -- "Amiraike Berlin" (AmtsG Charlottenburg v. 7.11.2008 -- 99 AR 3845/08, GmbHR 2009, 321 -- in diesem Heft).

Und was wird bis zur Entscheidung des EuGH mit dem inländischen Vermögen? Dafür gibt es einen gerichtlich bestellten Abwesenheitspfleger, völker- und europarechtlich unbedenklich.

 




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