Ausländische GmbH: Vorabentscheidungsverfahren zur Eintragung einer Zweigniederlassung in das Handelsregister eines Mitgliedstaats, die dort von einer Gesellschaft mit Sitz, aber ohne wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde und Unzuständigkeit des EuGH

EG Art.43, Art.48, Art.234

Die nationalen Gerichte können den EuGH nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt; ersucht ein Amtsgericht den EuGH in seiner Eigenschaft als das Handelsregister führende Behörde und im Rahmen eines Verfahrens, das eine Eintragung in dieses Register betrifft, um eine Vorabentscheidung, so ist der EuGH dafür nicht zuständig.*

EuGH, Beschl. v. 22.1.2002 – Rs. C-447/00 -- Holto Ltd

In der Rechtssache

betreffend ein dem Gerichtshof nach Art. 234 EG vom Landesgericht Salzburg (Österreich) in der bei diesem anhängigen Handelsregistersache

Holto Ltd

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Art. 43 EG und 48 EG

erläßt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

... folgenden

Beschluß:

1. Das Landesgericht Salzburg hat mit Beschl. v. 27.11.2000, eingegangen bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 4.12.2000, gemäß Art. 234 EG fünf Fragen nach der Auslegung der Art. 43 EG und 48 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich in einer Handelsregistersache, in der die Holto Ltd, eine Gesellschaft englischen Rechts (im folgenden: Antragstellerin), beantragt, ihre in Österreich errichtete Zweigniederlassung in das Handelsregister dieses Mitgliedstaats einzutragen.

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

3. Die Antragstellerin wurde am 19.10.2000 als private limited company gemäß dem Companies Act 1985 (Gesetz über die Gesellschaften) gegründet. Sie ist im Registrar of Companies for England and Wales unter der Firmennummer ... eingetragen. In der Gründungsurkunde wird als eingetragener Sitz (registered office) S (Vereinigtes Königreich) angegeben. Ihr Stammkapital beträgt 100 GBP aufgeteilt in 100 Anteile zu jeweils 1 GBP.

4. Zum Zeitpunkt der Gründung waren Frau L und Herr L, beide wohnhaft in S, Direktor bzw. Sekretär der Antragstellerin.

5. Am 20.10.2000 übertrugen Frau L und Herr L ihre Anteile auf Herrn H und Frau T, beide wohnhaft in H (Österreich), die im übrigen zu Direktoren der Firma ernannt wurden. Es wurde beschlossen, deren Sekretär, Herr L, solle das Formular 288 A über die Ernennung eines Direktors oder Sekretärs für die Registrierung an das Companies House senden und der satzungsgemäße Sitz der Firma solle sein: ... S ..., UK. Außerdem wurde beschlossen, die Firma künftig von Österreich aus zu führen und auch die Bücher dort zu führen.

6. Überdies führt das Landesgericht Salzburg aus, die Antragstellerin übe im Vereinigten Königreich keine Geschäftstätigkeit aus, so daß eine Registrierung für Steuern in diesem Mitgliedstaat nicht für erforderlich gehalten worden sei, denn die Firma versteuere in Österreich.

7. Mit schriftlichem Antrag v. 30.10.2000, beim Landesgericht Salzburg eingegangen am 2.11.2000, beantragten Herr H und Frau T die Eintragung der Antragstellerin sowie deren österreichischer Zweigniederlassung mit Sitz in H in das österreichische Handelsregister.

8. Das Landesgericht Salzburg fragt sich, ob bei diesem Sachverhalt die beantragte Eintragung unter die sekundäre Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG oder unter die primäre Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 Abs. 1 S. 1 EG falle.

9. Unter der Voraussetzung, daß eine der Niederlassungsfreiheiten des Art. 43 anwendbar sei, sei zu fragen, ob die Vorschriften des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft entsprechend der Sitztheorie nach dem Recht des Staats beurteile, in dem die Gesellschaft den tatsächlichen Sitz ihrer Hauptverwaltung habe, und die damit die Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer nach dem Recht dieses Staats gegründeten Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen abhängig mache, in dem die Gesellschaft rechtsfähig sei.

10. Das Landesgericht Salzburg führt hierzu aus, die einschlägigen österreichischen Regelungen ergäben sich aus dem Bundesgesetz über das internationale Privatrecht (IPRG). Nach § 12 IPRG seien die Rechts- und Handlungsfähigkeit einer Person nach deren Personalstatut zu beurteilen, das sich gemäß § 10 IPRG nach dem Recht des Staats bestimme, in dem der Rechtsträger den tatsächlichen Sitz seiner Hauptverwaltung hat.

11. Gestützt auf diese Bestimmungen hätten die österreichischen Gerichte bis zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs v. 15.7.1999 – Rs. 6 Ob 123/99 b auf Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen Staats wirksam errichtet worden seien, jedoch den tatsächlichen Sitz ihrer Hauptverwaltung in Österreich hätten,die materiellen Normen des österreichischen Gesellschaftsrechts angewandt (Sitztheorie). Danach erwerbe eine Gesellschaft ihre Eigenschaft als juristische Person und damit ihre Rechtsfähigkeit erst mit der Eintragung in das österreichische Firmenbuch. Als Konsequenz werde eine Gesellschaft, die nach ausländischem Recht wirksam gegründet sei, die jedoch den tatsächlichen Sitz ihrer Hauptverwaltung in Österreich habe, von den österreichischen Gerichten nicht als rechtsfähige juristische Person anerkannt, und ihr werde aus diesem Grund auch die Eintragung in das Handelsregister verweigert, solange sie nicht alle formellen und materiellen Voraussetzungen des österreichischen Rechts für die Gründung einer Gesellschaft erfüllt habe.

12. Der Oberste Gerichtshof habe jedoch in einem Fall mit ähnlichem Sachverhalt wie dem, der zum Urt. des EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 -- Centros, Slg. 1999, I-1459 = GmbHR 1999, 474 – Volltext geführt habe, die Auffassung vertreten, eine Vorlage an den Gerichtshof sei nicht geboten, und entschieden, daß § 10 IPRG wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts auf innergemeinschaftsrechtliche Sachverhalte nicht länger anzuwenden sei (vgl. die genannte Entscheidung v. 15.7.1999). Daher sei im Zusammenhang mit der Errichtung einer Zweigniederlassung in Österreich die Rechts- und Handlungsfähigkeit der in einem anderen Mitgliedstaat rechtswirksam errichteten ausländischen juristischen Person nach dem Recht zu beurteilen, nach dem die juristische Person gegründet worden sei, sofern sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat befänden.

13. Nach Ansicht des Landesgerichts Salzburg hat der Gerichtshof im Urteil Centros jedoch keine Aussage zur Anwendbarkeit der Sitztheorie oder allgemeiner zu Fragen der kollisionsrechtlichen Beurteilung der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften im Gemeinschaftsraum getroffen. Da an der Rechtssache, in der das Urteil Centros ergangen sei, zwei Mitgliedstaaten beteiligt gewesen seien, die beide der Gründungstheorie folgten, habe sich das Problem der Nichtanerkennung der Rechtsfähigkeit auf Grund des nationalen Kollisionsrechts nicht gestellt.

14. Hingegen habe der Gerichtshof in den Rz. 19 bis 21 des Urt. v. 27.9.1988 – Rs.81/87 -- Daily Mail and General Trust, Slg. 1988, 5483 Aussagen getroffen, die im vorliegenden Zusammenhang relevant sein könnten, da sie darauf hindeuteten, daß eine Norm des nationalen Kollisionsrechts eines Mitgliedstaats, welche unter Anknüpfung an den tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft unter gewissen Voraussetzungen die Anerkennung als rechtsfähige juristische Person verweigere, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Diese Ausführungen seien allerdings auf den vorliegenden Sachverhalt nicht unmittelbar übertragbar.

15. Das vorlegende Gericht hält es für seine Entscheidungsfindung für erforderlich, den Gerichtshof zu befragen, ob die Art. 43 EG und 48 EG nationalen Vorschriften, wie sie sich aus der Sitztheorie ergeben, entgegenstehen, und ist der Auffassung, daß sich die Antwort nicht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere den genannten Urteilen Daily Mail and General Trust und Centros, entnehmen lasse. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG dahin auszulegen, daß eine Zweigniederlassung auch dann bestehen kann, wenn eine Gesellschaft i.S.d. Art. 48 EG an keinem anderen Ort eine Hauptniederlassung hat, an welchem sie zumindest einen wesentlichen Teil ihrer Geschäftstätigkeit ausübt?

Wenn dies bejaht würde:

2. Ist Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG dahin auszulegen, daß das Erfordernis der Ansässigkeit erfüllt ist, wenn eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat, in dem sie wirksam errichtet wurde, lediglich ihren Satzungssitz hat, dort jedoch keine Geschäftstätigkeit entfaltet?

Wenn dies bejaht würde:

3. Gehört die Gründung einer österreichischen Zweigniederlassung einer nach englischem Recht wirksam errichteten Gesellschaft, welche in England lediglich ihren Satzungssitz hat, dort jedoch keine Geschäftstätigkeit entfaltet, zu den von Art. 43 Abs. 1 S. 2 und Art. 48 EG erfaßten Rechten?

Wenn eine der Fragen 1 oder 2 oder 3 verneint würde:

4. Gehört die Gründung einer österreichischen Niederlassung und deren Eintragung in das österreichische Firmenbuch (Handelsregister) durch eine nach englischem Recht wirksam errichtete Gesellschaft, welche in England lediglich ihren Satzungssitz hat, dort jedoch keine Geschäftstätigkeit ausübt, zu den von Art. 43 Abs. 1 S. 1 EG und Art. 48 EG erfaßten Rechten?

Wenn Frage 3 oder 4 bejaht würde:

5. Verbieten Art. 43 und Art. 48 EG die Anwendung einer nationalen kollisionsrechtlichen Regelung, welche die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft nach dem Recht des Staats beurteilt, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Sitz seiner Hauptverwaltung hat (Sitztheorie), auch wenn dadurch einer nach englischem Recht wirksam errichteten Gesellschaft, die in England lediglich ihren Satzungssitz hat, dort jedoch keine Geschäftstätigkeit entfaltet, die Anerkennung als juristische Person und als Folge davon die Eintragung im Firmenbuch (Handelsregister) verweigert wird?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

16. Ist der Gerichtshof für eine Klage offensichtlich unzuständig oder ist eine Klage offensichtlich unzulässig, so kann er gemäß Art. 92 § 1 der Verfahrensordnung nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluß entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist.

17. Nach st. Rspr. ergibt sich aus Art. 234 EG, daß die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (EuGH v. 5.3.1986 – Rs.318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Rz. 4; v. 10.7.2001 – Rs. C-86/00, HSB-Wohnbau, Slg. 2001, I-5355, Rz. 11 – Volltext; v. 19.10.1995 – Rs.C-111/94, Job Centre [nachstehend: Job Centre I], Slg. 1995, I-3361, Rz. 9, v. 12.11.1998 – Rs. C-134/97, Victoria Film, Slg. 1998, I-7023, Rz. 14; v. 14.6.2001 – Rs. C-178/99, Salzmann, Slg. 2001, I-4421, Rz. 14).

18. In der Rs. Job Centre I war das Vorabentscheidungsersuchen vom Tribunale civile e penale Mailand (Italien) gestellt worden. Es betraf einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft, der in Italien im Rahmen eines Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprüft wird. In Rz. 11 des Urteils stellte der Gerichtshof fest, daß er für die Vorabentscheidung nicht zuständig ist, da das Tribunale civile e penale, wenn es nach den geltenden nationalen Vorschriften in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register entscheidet, eine Tätigkeit ausübt, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und mit der im Übrigen in anderen Mitgliedstaaten Verwaltungsbehörden betraut sind. Es handelt als Verwaltungsbehörde, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hätte.

19. In Rz. 11 des genannten Urteils führte der Gerichtshof weiter aus, daß nur dann, wenn die Person, die nach nationalem Recht ermächtigt ist, die Genehmigung zu beantragen, einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Genehmigung und damit der Eintragung einlegt, davon ausgegangen werden kann, daß das angerufene Gericht eine Rechtsprechungstätigkeit i.S.d. Art. 177 EG-Vertrag (jetzt Art. 234 EG) ausübt, die die Aufhebung eines Rechtsakts betrifft, der ein Recht des Antragstellers verletzt.

20. In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß, daß der Gerichtshof vom Landesgericht Salzburg in dessen Eigenschaft als das Handelsregister führende Behörde und im Rahmen eines Verfahrens, das eine Eintragung in dieses Register betrifft, um Vorabentscheidung ersucht wird. In den Akten findet sich kein Anhaltspunkt dafür, daß beim Landesgericht Salzburg ein Rechtsstreit zwischen der Antragstellerin und einer Beklagten anhängig wäre.

21. Darüber hinaus läßt sich den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht entnehmen, daß vor der Anrufung des Gerichtshofs durch das Landesgericht Salzburg derAntragstellerin gegenüber eine Entscheidung ergangen wäre, gegen die beim Landesgericht Salzburg ein Rechtsbehelf eingelegt worden wäre. Das Landesgericht Salzburg ist daher die erste Behörde, die über den Antrag auf Eintragung der Zweigniederlassung der Antragstellerin in das Handelsregister in Österreich zu entscheiden hat.

22. Daraus folgt, daß das Landesgericht Salzburg, das den Gerichtshof angerufen hat, um zu erfahren, ob die Entscheidung, die es nach österreichischem Recht zu treffen hat, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, im Ausgangsverfahren eine Tätigkeit ausübt, die keinen Rechtsprechungscharakter hat.

23. In Anwendung von Art. 92 § 1 der Verfahrensordnung ist daher festzustellen, daß der Gerichtshof offensichtlich nicht zuständig ist für die Beantwortung der ihm vom Landesgericht Salzburg vorgelegten Fragen.

Kosten

24. Die Auslagen der deutschen, der italienischen und der niederländischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim Landesgericht Salzburg anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

beschlossen:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der vom Landesgericht Salzburg mit Beschluß vom 27.11.2000 gestellten Fragen offensichtlich nicht zuständig.

 

 

* Leitsatz der Redaktion.


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