Prof. Dr. Dres h.c. Marcus Lutter, Bonn

Nutzen oder Un-Nutzen eines festen Grund- und Stammkapitals bei AG und GmbH?

Der Streit über den Nutzen oder Un-Nutzen des festen Grund- und Stammkapitals ist seit der furiosen Stellungnahme einer englischen Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Jonathan Rickford (1) gegen eben dieses Kapital voll entbrannt. Eine Gegenposition hat der "Arbeitskreis Kapital in Europa" unter meiner Leitung erarbeitet und veröffentlicht (2). Weitere Untersuchungen sind gefolgt(3). Vor allem aber hat die englische Regierung den Rickford-Bericht nach Brüssel getragen und bemüht sich seither, die Kommission zur Aufhebung der Zweiten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie zu bewegen. Sie hat immerhin erreicht, daß die High Level Group eine Untersuchung angeregt, die Kommission das aufgenommen und eine sachverständige Untersuchung über das System des festen Kapitals eingeleitet und inzwischen eine gutachtliche Prüfung durch die KPMG veranlaßt hat: das Ergebnis soll im Sommer diesen Jahres vorliegen.

Würde man die Zweite Richtlinie aufheben, so wären die Folgen nahezu unabsehbar:

-- die weitgehende Rechtsgleichheit bei der Eigenkapital-Finanzierung von Aktiengesellschaften würde aufgegeben, die Unterschiede zwischen den nationalen Aktienrechten würden deutlich größer werden als sie 1958 zu Beginn der EU waren;(4)

-- eine 150 Jahre alte Tradition auf dem Kontinent würde geschleift;

-- die Insolvenzordnung müsste grundlegend umgestellt und die Antragspflicht wegen Überschuldung abgeschafft

-- sowie das Statut der SE geändert werden;

-- vor allem aber müsste ein ganz neues System des Gläubigerschutzes und der Ausschüttungssperre mit fraglos gleich vielen Problemen entwickelt werden.

Gerade das Letztere wird in den Rufen nach Abschaffung des festen Kapitals geflissentlich übersehen. In Wirklichkeit kann keine Rechtsordnung die Haftungsfreistellung gewähren, ohne die Gläubiger zu bedenken und ohne deshalb irgendeine Leistung des Gesellschafters zu verlangen -- zu deutsch: das unternehmerische Risiko allein dem Gläubiger anzulasten. Weitgehende Durchgriffsregeln und Ausschüttungssperren wären die Folge. Und die heute bei der Gründung "vorne" erforderlichen und laut beklagten Kosten würden zwangsläufig "hinten", im Kampf der Gesellschafter um die Wirksamkeit der ihnen zugesagten Haftungsfreistellung entstehen. Aber diese am Ende entstehenden (hohen) Kosten werden ebenfalls geflissentlich übersehen.

Viel fruchtbarer wäre es daher, einzelne Schwachpunkte im System des festen Grund- und Stammkapitals festzustellen, aufzugreifen und zu eliminieren. Das ist die Strategie des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG). Und auf dieser Ebene denken auch die beiden Beiträge dieses Hefts von Andreas Engert und Christoph Schärtl,(5) die nach rechtstatsächlichen Belegen für eine gläubigerschützende Wirkung der Kapitalregeln fragen und eine Rückbesinnung auf die "Doppelfunktion" des Stammkapitals ("Realfunktion" -- "Bilanzfunktion") fordern, auf der die unterschiedlichen gläubigerschützenden Wirkungsmechanismen des kontinentalen Kapitalssystems beruhen.

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(1) Jonathan Rickford, Reforming Capital, Report of the Interdisciplinary Group on Capital Maintenance, European Business Law Review (EBLR) 2004, 919 ff.

(2) Marcus Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, Berlin 2006. Das Buch ist auch auf Englisch erschienen: Marcus Lutter (ed.), Legal Capital in Europe, Berlin 2006.

(3) Z.B. Marc Richard, Kapitalschutz der Aktiengesellschaft, Frankfurt a.M. 2007; Christoph Schärtl, Die Doppelfunktion des Stammkapitals im Europäischen Wettbewerb, 2006, je mit allen weiteren Nachweisen.

(4) Siehe nur Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964, wo vielfältige Übereinstimmungen festgestellt werden konnten.

(5) GmbHR 2007, 337 und 344.




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