Thomas Wachter, Notar, Osterhofen (Bayern)

Ende der Wegzugsbeschränkungen in Europa

Der EuGH hat in dem mit Spannung erwarteten Urteil in der Rechtssache Lasteyrie du Saillant entschieden, daß die französische Wegzugsbesteuerung gegen die europäische Niederlassungsfreiheit verstößt (EuGH v. 11.3.2004 -- Rs. C-9/02, GmbHR 2004, 504 -- in diesem Heft). Er ist damit erwartungsgemäß den Schlußanträgen des Generalanwalts Jean Mischo in vollem Umfang gefolgt. Die Entscheidung dürfte über den entschiedenen Fall hinaus auch für das deutsche Steuer- und Gesellschaftsrecht weitgehende Bedeutung erlangen.

Französische Wegzugsbesteuerung

Gegenstand des Rechtsstreits war die Besteuerung eines französischen Steuerpflichtigen namens Hughes de Lasteyrie du Saillant, der im September 1998 seinen Wohnsitz von Frankreich nach Belgien verlegt hat. Zu seinem Vermögen gehörten u.a. bestimmte Beteiligungen an französischen Gesellschaften. Aufgrund des Wegzugs ins Ausland wurden die in den Gesellschaftsbeteiligungen enthaltenen stillen Reserven in Frankreich besteuert, obwohl es tatsächlich zu keiner Realisierung eines Veräußerungsgewinns gekommen ist (zum Sachverhalt im einzelnen s. Rz. 3. ff. der Urteilsgründe).

Der EuGH sieht in den nationalen Bestimmungen über die Besteuerung noch nicht realisierter Wertsteigerungen, die von ihm als "latente Wertsteigerungen" bezeichnet werden (Rz. 15, 38), eine Beschränkung der europäischen Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV). Dabei betont er ausdrücklich, daß die Niederlassungsfreiheit nicht darauf beschränkt ist, die Inländerbehandlung von Angehörigen anderer Mitgliedsstaaten im Zuzugsstaat sicher zu stellen. Vielmehr verbiete es die Niederlassungsfreiheit auch, daß der Wegzugsstaat die Niederlassung seiner eigenen Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedsstaat behindere (Rz. 42).

Die Niederlassungsfreiheit könne auch durch steuerrechtliche Vorschriften beschränkt werden. Diese verbieten den Wegzug zwar nicht, haben für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedsstaat niederlassen möchten, aber gleichwohl eine "abschreckende Wirkung" (Rz. 45 ff.). Ein Steuerpflichtiger, der seinen Wohnsitz in Frankreich beibehält oder innerhalb Frankreichs verlegt, muß Wertsteigerungen erst dann versteuern, wenn er diese auch tatsächlich realisiert. Dagegen muß ein Steuerpflichtiger, der seinen Wohnsitz ins Ausland verlagert, aufgrund des Wegzugs schon zu diesem Zeitpunkt einen Gewinn versteuern, obwohl ein Liquiditätszufluß nicht erfolgt.

Die mit der Wegzugsbesteuerung verbundene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nicht durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Vom EuGH wurde kein einziger der zahlreich vorgetragenen Rechtfertigungsgründe (Verhinderung von Steuermindereinnahmen, Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen, Bekämpfung der Steuerumgehung, Wirksamkeit der Steuerkontrollen, Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen Wegzugs- und Zuzugsstaat, Kohärenz des nationalen Steuersystems) als berechtigt anerkannt (Rz. 49 ff.). In diesem Zusammenhang hat der EuGH insbesondere darauf hingewiesen, daß die Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedsstaat nicht als Anhaltspunkt für eine Steuerflucht oder eine Steuerhinterziehung dienen kann (Rz. 51). Den Steuerpflichtigen stehe es vielmehr frei, durch die Verlagerung ihres Wohnsitzes die Unterschiede zwischen den Steuerregelungen der einzelnen Mitgliedsstaaten bewußt zu ihrem Vorteil zu nutzen (Rz. 59 f.).

Auswirkungen auf das deutsche Steuerrecht

Der Wegzug in einen anderen europäischen Mitgliedsstaat ist kein geeigneter Anknüpfungspunkt für die Begründung einer Besteuerung. Nationale Steuervorschriften, die mit den französischen Bestimmungen zur Wegzugsbesteuerung vergleichbar sind (z.B. in Österreich, Dänemark oder den Niederlanden), können demnach wegen Verstoß gegen die europäische Niederlassungsfreiheit nicht mehr angewandt werden. Dies gilt auch für die deutsche Wegzugsbesteuerung nach dem Außensteuergesetz (§ 6 AStG). Danach müssen Steuerinländer im Falle eines Wegzugs den Vermögenszuwachs bei Beteiligungen an inländischen Kapitalgesellschaften auch dann versteuern, wenn sie tatsächlich keinerlei Gewinn realisieren. Diese Besteuerung ist geeignet, Steuerpflichtige davon abzuhalten, ihren Wohnsitz in einem anderen europäischen Mitgliedsstaat zu verlegen und beschränkt damit in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise die Niederlassungsfreiheit (a.A. noch BFH v. 17.12.1997 -- I B 108/97, BStBl. II 1998, 558).

Im deutschen Steuerrecht finden sich darüber hinaus noch zahlreiche andere Vorschriften, die den Wegzug ins Ausland zum Anlaß für eine Besteuerung nehmen und daher künftig nicht mehr angewandt werden können. Bei einbringungsgeborenen Anteilen kommt es z.B. zu einer Besteuerung des fiktiven Veräußerungsgewinns, wenn das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland verloren geht (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG). Steuerpflichtige, die ihren Wohnsitz und Aufenthaltsort im Inland aufgeben, müssen die auf bestimmte Altersvorsorgevermögen ("Riester-Rente") erhaltenen Zulagen zurück bezahlen (§ 95 EStG).

In anderen Fällen begründet der Wegzug ins Ausland zwar nicht unmittelbar eine Besteuerung, bewirkt aber mittelbar bestimmte steuerliche Nachteile. Deutsche Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz in Ausübung der Niederlassungsfreiheit in einen anderen europäischen Mitgliedsstaat verlegen, unterliegen für eine bestimmte Dauer weiterhin der Steuerpflicht im Inland (z.B. nach § 2 und § 4 AStG oder § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) ErbStG). Das Fortbestehen der Steuerpflicht im Wegzugsstaat stellt gleichfalls eine Beschränkung der europäischen Niederlassungsfreiheit dar.

Grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften

Der EuGH hat mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Lasteyrie du Saillant klargestellt, daß die europäische Niederlassungsfreiheit bei der Verlegung des Wohnsitzes von natürlichen Personen uneingeschränkt Anwendung findet (Art. 43 EGV). Dies gilt sowohl für etwaige Beschränkungen im Wegzugsstaat als auch für solche im Zuzugsstaat.

Noch nicht abschließend geklärt ist dagegen die Frage, inwieweit die europäische Niederlassungsfreiheit auch für die Verlegung des Satzungssitzes von Gesellschaften gilt. Nach dem Wortlaut des EG-Vertrags stehen Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats gegründet sind und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben natürlichen Personen gleich (Art. 48 EGV).

Dementsprechend hat der EuGH für Zuzugsfälle bereits mehrfach entschieden, daß eine in einem europäischen Mitgliedsstaat wirksam gegründete Gesellschaft in einem anderen Mitgliedsstaat in vollem Umfang anerkannt werden muß (zuletzt EuGH v. 30.9.2003 -- Rs. C-167/01 -- Inspire Art Ltd., GmbHR 2003, 1260 mit Komm. Meilicke).

Dagegen hat der EuGH die Anwendbarkeit der europäischen Niederlassungsfreiheit auf Wegzugsfälle in der Vergangenheit stets verneint (grundlegend EuGH v. 27.9.1988 -- Rs. C-81/87 -- Daily Mail, Slg. 1988, 5483; bestätigt durch EuGH v. 5.11.2002 -- Rs. C-208/00 -- Überseering, Slg. 2002, I-9919 = GmbHR 2002, 1137, Rz.70). Zur Begründung hat er darauf verwiesen, daß die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft "beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts" nicht das Recht gewähren, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedsstaat zu verlegen. Eine Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts ist in diesem Bereich seitdem nicht erfolgt. Ein Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften (Art. 293 EGV) ist bislang nicht abgeschlossen worden. Die bereits seit längerem geplante Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verlegung des Satzungssitzes von Kapitalgesellschaften (Art. 44 Abs. 2 Buchst. g) EGV) ist gleichfalls nicht verabschiedet worden (die Generaldirektion Binnenmarkt hat dazu Anfang März 2004 aber erneut ein öffentliches Konsultationsverfahren eingeleitet, s. www.europa.eu.int sowie Becker, GmbHR 2004, R 145).

Der Stillstand der europäischen Gesetzgebung im Bereich des Gesellschaftsrechts kann aber nicht zur Folge haben, daß Gesellschaften von den unmittelbar anwendbaren Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit keinen Gebrauch machen können (EuGH v. 11.3.2004, Rz. 40). Die im EG-Vertrag vorgesehenen Übereinkommen und Richtlinien sollen die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit erleichtern, diese aber nicht verhindern (EuGH v. 5.11.2002, Rz. 60). Nach der Entscheidung in der Rechtssache Lasteyrie du Saillant spricht daher viel dafür, daß der EuGH nationale Bestimmungen, die den Wegzug einer in einem Mitgliedsstaat wirksam errichteten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedsstaat generell verhindern, heute als sachlich nicht gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ansehen würde. Gleiches dürfte für steuerrechtliche Vorschriften gelten, die den Wegzug in einen anderen Mitgliedsstaat erschweren (z.B. § 11, § 12 KStG). Bei natürlichen Personen macht es aus europarechtlicher Sicht keinen Unterschied, ob jemand seinen Wohnsitz von München nach Hamburg oder von München nach Paris verlegt. Für die Sitzverlegung einer Gesellschaft kann in einem europäischen Binnenmarkt im Grundsatz nichts anderes gelten.

Der EuGH hat mit seiner Entscheidung zur französischen Wegzugsbesteuerung sein weites Verständnis der europäischen Grundfreiheiten erneut bekräftigt und sich damit zugleich für einen uneingeschränkten Wettbewerb der nationalen Rechts- und Steuersysteme ausgesprochen.


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