Dr. Jens Kleinert / Jürgen Nagler*

Grenzüberschreitende Verlustverrechnung: Geht dem "Motor der Europäischen Integration" der Sprit aus?

Zum Schlußantrag des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rs. Marks & Spencer

Wir sind", so der ehemalige Präsident des EuGH Rodriguez Iglesias ganz unbescheiden, "der Motor der europäischen Integration". Vor dem Plenum dieses selbstdefinierten Integrationsmotors hat nun am 7.4.2005 der Generalanwalt beim EuGH (GA) Poiares Maduro in der Rs. C-446/03 -- Marks & Spencer seine lang ersehnten Schlußanträge gestellt (Volltext; s. hierzu auch Becker, GmbHR 2005, R 149 -- in diesem Heft). An dem Verfahren, das nach Schätzungen der Finanzminister für die öffentlichen Haushalte in Deutschland zu Steuerausfällen im zweistelligen Milliardenbereich führen könnte, haben sich wegen seiner gravierenden Auswirkungen ungewöhnlich viele Mitgliedstaaten beteiligt. Konsequent ist daher, daß das Verfahren voraussichtlich vor dem Plenum des EuGH und nicht nur vor einer Kammer stattfindet. Angesichts der großen Bedeutung dieses Verfahrens für das Steueraufkommen der einzelnen Mitgliedsstaaten vermitteln die etwas zurückhaltend formulierten Schlußanträge des GA den Eindruck, als ob der EuGH sich unter dem Einfluß mitgliedstaatlicher Drohungen von seinem Selbstverständnis als Motor der Integration abrücken wolle.

I. Hintergrund des Verfahrens

Die in Großbritannien ansässige Marks & Spencer plc. (nachfolgend M & S), die sich in den 90er Jahren in Frankreich, Belgien und Deutschland über Tochterkapitalgesellschaften betätigt und dabei Verluste i.H.v. ca. 100 Mio. € erlitten hat, stellte als Konzernmutter bei den britischen Finanzbehörden den Antrag auf Verrechnung dieser Verluste der Tochtergesellschaften mit britischen Gewinnen (group relief bzw. Konzernabzug) für die Steuerjahre 1998 -- 2001. Der britische Konzernabzug erlaubt es jeder inländischen Gesellschaft eines Konzens (übertragende Gesellschaft), ihre Verluste für einzelne Steuerjahre auf eine andere inländische Gesellschaft desselben Konzerns (übernehmende Gesellschaft) zu übertragen, so daß die übernehmende Gesellschaft diese Verluste bei sich abziehen kann. Voraussetzung hierfür ist, daß die übertragenden Gesellschaften der Übertragung der Verluste zustimmen und sich der Verpflichtung unterwerfen, ihre Verluste nicht noch zusätzlich auf andere Steuerjahre vorzutragen. Die britische Steuerverwaltung lehnte unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut, wonach der Konzernabzug nicht auf Tochtergesellschaften Anwendung findet, welche in Großbritannien weder ihren Sitz haben noch sich dort wirtschaftlich betätigen, den Antrag auf Konzernabzug ab. Der daraufhin von M & S angerufene High Court of Justice legte im Wege des Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 234 EG dem EuGH die Frage vor, ob es mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG) vereinbar sei, wenn der britische Konzernabzug auf die Verluste inländischer Tochtergesellschaften beschränkt werde.

II. Die Anträge des Generalanwalts

Eingangs führt GA Maduro aus, es gehe in dem Verfahren im Kern darum, die den Mitgliedstaaten zugebilligte Befugnis, Steuern von den in ihrem Gebiet erzielten Einkünften zu erheben, und die dieser Befugnis gegenüberstehenden, den Staatsbürgern der Gemeinschaft zustehende Freiheit, sich in der Gemeinschaft niederzulassen, in Übereinstimmung zu bringen (Rz. 6). Generell hätten hier die Befugnisse der Mitgliedstaaten -- eben weil letztere den EG-Vertrag unterzeichnet haben (vgl. Rz. 62) -- zwar hinter die Grundfreiheiten zurückzutreten (Rz. 21 -- 34), jedoch sei den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten besonderer Respekt zu zollen. Dies könne anhand der vom EuGH geschaffenen, ausgewogenen Kriterien für eine Beschränkung und des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz erreicht werden. Die die Niederlassungsfreiheit beschränkende Wirkung erkennt der GA zutreffend darin, daß eine britische Gesellschaft, die die Beteiligung an ausländischen Tochtergesellschaften halte, gegenüber der Beteiligung an inländischen Tochtergesellschaften hinsichtlich der Verlustübertragung benachteiligt werde. Die Inlandsbeschränkung des britischen Konzernabzugs sei daher geeignet, eine inländische Gesellschaft davon abzuhalten, im Ausland über ausländische Tochtergesellschaften tätig zu werden, sozusagen über Tochtergesellschaften "wegzuziehen" (Rz. 53 unter Verweis auf Daily Mail, ICI etc.).

Im Rahmen der für die Beschränkung vorgebrachten Rechtfertigungsgründe geht er zunächst auf das Territorialitätsprinzip ein und weist überzeugend nach, daß dieses von Großbritannien falsch verstandene Territorialitätsprinzip (Rz. 58 -- 62) nicht im geringsten betroffen ist. Es gehe nämlich nicht um die Besteuerung eines einzelnen Steuerpflichtigen, der im Ausland (Belgien, Deutschland, Frankreich) ansässig sei und dort seine hauptsächlichen Tätigkeiten ausübe, sondern um die Übertragung von Verlusten von konzernangehörigen ausländischen (Tochter-)Gesellschaften auf deren inländische Konzernmutter. Da für letztere Großbritannien steuerlich unbeschränkt territorial zuständig sei (Rz. 63), ist das Territorialitätsprinzip nicht betroffen. Tatsächlich gehe es Großbritannien vielmehr darum, daß der die Verluste der übertragenden Tochtergesellschaften übernehmenden Muttergesellschaft M & S diese steuerliche Vergünstigung nur dann gewährt werden solle, wenn damit auch die Möglichkeit einhergeht, daß Großbritannien das Besteuerungsrecht an der die Verluste übertragenden Tochtergesellschaft zusteht. Dies wiederum sei aber nicht eine Frage des Territorialitätsprinzips, sondern eine Frage der Kohärenz des englischen Steuersystems (Rz. 64).

Hierzu stellt der GA klar, daß die Regelungen eines Mitgliedstaats, die generell wegen der Unmöglichkeit der Besteuerung der ausländischen Tochtergesellschaft deren Verlustübertragung versagen, während sie dies bei inländischen Tochtergesellschaften zulassen, sich nicht auf die Kohärenz des nationalen Steuerrechts berufen können (Rz. 75, 84). In Abweichung von der bisherigen EuGH-Rechtsprechung redet der GA einer Aufweichung des Kriteriums der steuerlichen Kohärenz das Wort, indem er die Vor- und Nachteilsabwägung nicht auf ein und denselben Steuerpflichtigen beschränken will (Rz. 71). Vielmehr sei im Hinblick auf die Kohärenz vor dem Hintergrund der Zielsetzung und Systematik der britischen Gruppenbesteuerung zu berücksichtigen, daß Verluste nicht mehrmals, sondern nur einmal -- entweder bei der übernehmenden oder aber bei übertragenden Gesellschaft -- steuerlich berücksichtigt werden. Indem der GA das Postulat aufstellt, daß "Die Vergünstigung, die der übernehmenden Gesellschaft gewährt werde, durch die Abgabe neutralisiert werden müsse, die bei der übertragenden Gesellschaft erhoben werde" (Rz. 72), erweitert er den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des nationalen Steuerrechts auf zwei Steuerpflichtige. Könnten demnach die Verluste der Tochtergesellschaft in deren Ansässigkeitsstaat aufgrund des dortigen Steuerrechts (noch zusätzlich) genutzt werden, etwa durch deren Übertragung auf Dritte oder durch Inanspruchnahme eines Verlustvortrags, so sei dieser Zusammenhang nicht mehr gegeben. Demnach sei die Inlandsbeschränkung des britischen Konzernabzugs unter dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des britischen Steuerrechts dann nicht gerechtfertigt, wenn die Verluste der in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften in diesen Mitgliedstaaten keine gleichwertige steuerliche Berücksichtigung -- sei es durch Verlustvortrag oder durch Übertragung auf Dritte -- finden könnten (Rz. 76 -- 79).

III. Stellungnahme und Ausblick

Positiv hervorzuheben ist, daß nach Auffassung des GA eine generelle Untersagung der Übertragung ausländischer Verluste in jedem Falle europarechtswidrig ist (Rz. 75). Begrüßenswert ist auch, daß der GA es -- mangels entsprechender Ausführungen -- offenbar ablehnt, die Urteilswirkung auf die Zeit nach dem Urteil zu beschränken, wie dies von Seiten der Bundesregierung aus haushaltspolitischen Gründen gefordert worden war. Die europaweite Verlustverrechnung wird daher -- mit oder ohne den vom GA vorgeschlagenen Abstrichen -- in jedem Fall kommen, und zwar zu den Bedingungen, die der jeweilige Mitgliedstaat für die Verrechnung inländischer Verluste aufgestellt hat. Damit wackelt die deutsche Organschaft sowohl im gesellschafts- als auch im steuerrechtlichen Bereich, da vom EuGH -- zumindest insoweit -- der europäischen Integration der Vorzug gegenüber nationalem Abschottungsdenken mit Hilfe des Gesellschafts- und Steuerrechts gegeben wird.

Es bedarf jedoch keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu erkennen, daß der Schlußantrag des GA Maduro vom 7.4.2004 von einem sehr restriktiven Verständnis über Kompetenz und Funktion des EuGH getragen ist. Nichts anderes ist es, was am Ende seiner Ausführungen zu lesen steht (Rz. 83):

"… . Ich denke jedoch, daß es nur eine Lösung von dieser Art erlaubt, in Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene das Gleichgewicht zwischen den den Mitgliedstaaten verbliebenen steuerlichen Zuständigkeiten und den Anforderungen der Freiheit, die sich aus dem Binnenmarkt ergeben, zu wahren. Unter solchen Voraussetzungen ist es nicht Sache des Gerichtshofes, eine einheitliche Regelung für sämtliche Mitgliedstaaten festzulegen, deren Modell er einem bestimmten nationalen Steuersystem oder einem Vorschlag der Gemeinschaftsorgane entnimmt. …"

Aus dieser Grundeinstellung des GA Maduro heraus erklärt sich der sehr behutsam formulierte Entscheidungsvorschlag, der Kritik geradezu provoziert und beispielhaft an den Ausführungen zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des britischen Steuerrechts deutlich wird.

Obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob dieser Rechtfertigungsgrund vorliegt und daher M & S zutreffend auf die ständige Rspr. verwies, daß nach ständiger Rspr. des EuGH ein unmittelbarer Zusammenhang -- eben Kohärenz -- nur im Rahmen ein und derselben Steuerart und bei ein und demselben Steuerpflichtigen vorliegen könne (Rz. 70), will der GA diese strikte Betrachtung eines Steuerpflichtigen aufweichen. Dabei muß der GA selbst eingestehen (Rz. 71 S. 1), daß bei Festhalten des EuGH an seinen eigenen Kriterien die Kohärenz als Rechtfertigungsgrund nicht gegeben wäre. Denn die den Muttergesellschaften durch Übertragung der Verluste gewährte Vergünstigung und die Abgaben, die den ihre Verluste übertragenden Tochtergesellschaften auferlegt werden können, betreffen verschiedene Steuerpflichtige im Rahmen verschiedener Steuerregelungen (s. Rz. 70 S. 2 sowie insbesondere EuGH v. 18.9.2003 -- Rs. C-168/01 -- Bosal, GmbHR 2003, 1286, Rz. 31).

Des weiteren ist hervorzuheben, daß die übertragenden inländischen Gesellschaften, die im Rahmen der Inländergleichbehandlung den Vergleichsmaßstab bilden, sich lediglich verpflichten müssen, die übertragenen Verluste nicht noch zusätzlich selbst zu nutzen. Jedoch verlangt das englische Recht von den inländischen Muttergesellschaften nicht, daß diese die an sie übertragenen Verluste ihrer Tochtergesellschaften erst dann nutzen können, wenn die Tochtergesellschaften diese nicht bereits nutzen konnten oder dies zumindest in Zukunft noch tun könnten. Letztere müssen sich lediglich verpflichten, ihre Verlustnutzungsmöglichkeiten nach Übertragung auf die Konzernmutter nicht zusätzlich auch noch selbst zu nutzen. Insoweit geht die Einschränkung, die der GA machen will, viel zu weit, da sie erneut zu einer massiven Diskriminierung führen würde.

Bei allen Nachteilen und praktischen Schwierigkeiten, die mit der von GA Maduro vorgeschlagenen Lösung einhergehen mögen, wie z.B. ein etwaiger Zins- oder Liquiditätsnachteil der betroffenen Gesellschaften (vgl. Scheunemann, BZ v. 9.4.2004, S. 7), ist doch eines mit Sicherheit vorhersehbar: Große Würfe in Richtung Weiterentwicklung des in Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 lit. c EG geforderten europäischen Binnenmarkts wird es, sollte der EuGH in seinen Integrationsbemühungen sich auf die durch den GA postulierte Politik der kleinen Schritte begeben, in Zukunft nicht mehr geben. Es bleibt allerdings zu hoffen, daß der EuGH -- getreu seinem Selbstverständnis -- dem Generalanwalt nicht folgt und in seiner gegen Ende des Jahres zu erwartenden Entscheidung eine Auseinandersetzung mit den Folgen der Aufweichung des Kohärenzgedankens im Sinne des GA Maduro überflüssig macht. Der EG-Vertrag sieht für das Steuerrecht keine anderen Beurteilungsmaßstäbe vor als für andere Rechtsgebiete, weshalb eine andere Betrachtung nicht geboten ist, auch wenn die Auswirkungen der EuGH-Entscheidungen auf dem Gebiet des Steuerrechts finanziell besonders schmerzhaft sein mögen.

Möge der Elan und die Integrationsmotivation, die die Große Kammer des EuGH jüngst in ihrer Entscheidung v. 7.9.2004 -- Rs. C-319/02 -- Manninen, GmbHR 2004, 1346 gezeigt hat, indem konsequent der Reichweite der Grundfreiheiten der Vorzug gegenüber den steuerlichen Befugnissen der einzelnen Mitgliedstaaten gewährt wurde, auch in der Rs. Marks & Spencer sichtbar werden. Dies würde nicht nur der europaweiten und uneingeschränkten Verlustverrechung zum Durchbruch verhelfen, sondern auch den Binnenmarktgedanken dienen. Es kann und darf in einem europäischen Binnenmarkt denklogisch keinen Unterschied machen, ob die Verluste einer Tochtergesellschaft im In- oder Ausland anfallen. Es bleibt zu hoffen, daß der "Treibstofftank" des Plenums des EuGH ausreichend gefüllt ist, damit er seine integrationsfreundliche Rechtsprechung gegen Störfeuer aus der Politik fortsetzen kann.

 

* Dr. Jens Kleinert ist Rechtsanwalt in Düsseldorf; Jürgen Nagler ist Rechtsanwalt und Steuerberater in Frankfurt a. M.; beide KPMG European Tax Law Group.

 


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