Hans-Christian Anders,
Dipl-Finanzw. (FH), Steuerberater, Nienhagen

Die Verzweiflung der Finanzverwaltung wegen der "Seeling"-Entscheidung des EuGH -- Vorsteuererstattung auch für privat genutzte Gebäude-Anteile in greifbare Nähe?

Die Entscheidung des EuGH v. 8.5.2003 -- Rs. C-269/00 -- "Seeling", UR 2003, 288 mit Anm. Burgmaier sorgte für viel Freude bei der Gilde der Steuerberater und ihrer Mandanten. Führte sie doch dazu, daß nunmehr bei einer teilunternehmerischen Nutzung eine Vorsteuererstattung auch für den privat genutzten Anteil eines Gebäudes in greifbare Nähe rückte. Daß das BMF diese Freude gern "vermiesen" möchte, war klar. Die Verwaltung versucht es nun mit den beiden Schreiben des BMF v. 13.4.2004 -- IV B 7 - S 7300 - 26/04, UR 2004, 329 und IV B 7 - S 7206 - 3/04, UR 2004, 331. Hat sie damit Erfolg?

Das BMF-Schr. v. 13.4.2004 -- IV B 7 - S 7300 - 26/04

Nach § 15 Abs. 1 S. 2 UStG ist die Zuordnung eines einheitlichen Gegenstands in vollem Umfang zum umsatzsteuerlichen Unternehmen zulässig, wenn der unternehmerische Nutzungsanteil mindestens 10 % beträgt. Dabei ist es unerheblich, ob die unternehmerische Nutzung umsatzsteuerpflichtig ist oder nicht, da § 2 Abs. 1 UStG bei der Unternehmer-Definition nicht auf Steuerpflicht oder Steuerfreiheit abstellt. Damit ist auch z.B. auch ein Wohnungsvermieter ein Unternehmer im umsatzsteuerlichen Sinn.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß ein Steuerpflichtiger nach ständiger Rechtsprechung die Wahl hat, ob der privat genutzte Teil eines Gegenstands für die Anwendung der 6. EG-Richtlinie zu seinem Unternehmen gehören soll oder nicht (EuGH v. 8.3.2001 -- Rs. C-415/98 -- "Bakcsi", UR 2001, 149).

Entscheidet sich der Steuerpflichtige dafür, daß Investitionsgüter, die sowohl für unternehmerische als auch für private Zwecke verwendet werden, als Gegenstände des Unternehmens behandelt werden, so ist die beim Erwerb dieser Gegenstände geschuldete Vorsteuer grundsätzlich vollständig und sofort abziehbar (EuGH v. 11.7.1991 -- Rs. C-97/90 -- "Lennartz", UR 1991, 291 mit Anm. Widmann).

Die Berechtigung zum Vorsteuerabzug selbst ist geregelt in § 15 Abs. 1 S. 1 UStG. Auch ein ansonsten steuerfrei tätiger Unternehmer erfüllt i.d.R. diese Bedingung, d.h. seine Vorsteuer ist grundsätzlich abziehbar. Allerdings wird in diesem Fall über § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG der Vorsteuerabzug ausgeschlossen. Diese Trennung klingt zwar recht beiläufig, ist aber sehr wichtig. Denn § 3 Abs. 9a UStG stellt nämlich nur darauf ab, daß der Gegenstand zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt hat, mithin einzig auf § 15 Abs. 1 UStG und nicht auf § 15 Abs. 2 UStG. Dies hat zur Folge, daß auch ein umsatzsteuerfrei tätiger Unternehmer grundsätzlich unter diese Regelung fällt und damit eine umsatzsteuerpflichtige unentgeltliche Wertabgabe auslösen kann.

Sicherlich kann dies auch dazu führen, daß es dann zu einer umsatzsteuerpflichtigen Privatnutzung eines betrieblichen PKW bei einem ansonsten z.B. umsatzsteuerfrei tätigen Versicherungsvermittler kommt. Dieses Problem kann man aber umgehen, indem man eine umsatzsteuerliche Zuordnungsentscheidung zum Betriebsvermögen nur für den betrieblichen Nutzungsanteil trifft (so BMF v. 1.4.2004 -- IV B 7 - S 7300 - 24/04, UR 2004, 329).

Weiterhin hat die umsatzsteuerlich Zuordnung eines einheitlichen Gegenstands zum umsatzsteuerlichen Unternehmen auch einheitlich zu erfolgen, denn genau dies war ein wesentlicher Entscheidungsgrund für dieses EuGH-Urteil.

Das BMF nimmt hier aber eine Aufteilung des einheitlichen Gegenstands vor, indem er die Frage der Vorsteuerabzugsberechtigung auf die unternehmerische Nutzung beschränken will. Er überträgt damit insoweit die ertragsteuerlichen Grundsätze (R 13 Abs. 4 EStR) der Zuordnung auf die Umsatzsteuer. Wie oben dargestellt ist dies aber nicht zulässig.

Daß ein Gegenstand bei insgesamt unternehmerischer Zuordnung einheitlich zu betrachten ist, ergibt sich auch aus § 15 Abs. 4 UStG. Würde man der Ansicht des BMF nämlich folgen, dann wäre diese Regelung überflüssig, denn dann würde ja jeder steuerfrei und steuerpflichtig genutzte Teil eines Gegenstands ein gesondertes "umsatzsteuerliches Wirtschaftgut" bilden.

Folge ist daher, daß auch bei einem ansonsten steuerfrei tätigen Unternehmer (z.B. Arzt oder Vermieter) der Vorsteuerabzug nach der "Seeling"-Entscheidung des EuGH für den selbstgenutzten Anteil zulässig ist, da für die unentgeltliche Wertabgabe die Berechtigung zum Vorsteuerabzug quasi aus sich selbst heraus möglich wird. Dieses Ergebnis klingt zwar irgendwie nach der philosophischen Frage, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei. Sie ist aber nur die konsequente Umsetzung der aktuellen Rechtslage, wird aber vermutlich erst in zukünftigen Entscheidungen des BFH geklärt werden müssen.

Sollte man aber der Ansicht des BMF folgen wollen, so stehen zumindest die Anwendungsregelungen des BMF-Schreibens zeitabhängig im krassen Widerspruch zur Gesetzeslage. Das BMF will die Rechtsfolgen seines Schreibens ab dem 1.7.2004 anwenden. Wenn sich ein Steuerpflichtiger für Veranlagungszeiträume vor diesem Zeitpunkt auf das "Seeling"-Urteil beruft, dann soll ebenfalls eine Anwendung seiner Regelungen erfolgen. Dabei wird aber verkannt, daß die unentgeltliche Wertabgabe nach § 3 Abs. 9a UStG erst ab dem 1.4.1999 gilt. Vorher gab es die Eigenverbrauchsbesteuerungstatbestände des § 1 Abs. 1 Nr. 2b UStG. Dort war aber die teilweise oder vollständige Vorteuerabzugsberechtigung niemals Voraussetzung gewesen. Folge ist, daß die negative Entscheidung in den Beispielen des BMF bei z.B. Ärzten oder Wohnungsvermietern schon aus diesem Grund nicht greifen kann, wenn der Anspruch auf Vorsteuerabzug vor dem 1.4.1999 entstanden ist.

Zusätzlich sah es das BMF für notwendig, in diesem Schreiben auch die Frage der Entnahmebesteuerung zu regeln. Diese Frage gehört zwar nicht zu der Problematik dieses BMF-Schreibens, denn hier geht es um Vorsteuerabzug und nicht um Umsatzbesteuerung. Deshalb wäre es eher in dem anderen BMF-Schreiben abzuhandeln. Inhaltlich ist aber auch diese Regelung nicht ohne Kritik hinzunehmen.

Grundsätzlich ist es richtig, daß die umsatzsteuerliche Entnahme des Gebäudes aus dem Unternehmen nach § 3 Abs. 1b UStG eine unentgeltliche Wertabgabe bildet. Falsch ist aber die Annahme, daß die Entnahme nicht steuerfrei ist. Sicherlich fällt sie nicht unter § 4 Nr. 9a UStG, da kein Erwerbsvorgang i.S.d. § 1 GrEStG vorliegt und ist damit nicht nach deutschem USt-Recht steuerfrei.

Allerdings definiert die 6. EG-Richtlinie, daß die Lieferung eines Grundstücks steuerfrei ist (Art. 13b Abschn. B, Buchst. g der 6. EG-Richtlinie). Und hier liegt eindeutig eine Lieferungsfiktion über § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG vor. Insofern kann sich jeder Steuerpflichtige für die Steuerbefreiung auf die hier günstigere EG-Regelung berufen und die umsatzsteuerliche Entnahme des Gebäudes steuerbar aber steuerfrei generieren.

Das BMF-Schr. v. 13.4.2004 -- IV B 7 - S 7206 - 3/04

Durch die Entscheidung des EuGH sah sich das BMF ebenfalls gezwungen, die Regelungen zur Bemessung der unentgeltlichen Wertabgabe neu zu "strukturieren". Es will die Umsatzbesteuerung der unentgeltlichen Wertabgabe über § 10 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 UStG nach den Kosten festsetzen, die auf den Verteilungszeitraum des § 15a UStG von 10 Jahren entfallen und schafft damit eine "Umsatzsteuer-AfA". Mit BMF-Schr. v. 20.8.1984 -- IV A 2 - S 7208 - 4/84, BStBl. I 1984, 490 = UR 1984, 220 hatte es aber bereits definiert, wie die Mindestbemessungsgrundlage zu ermitteln ist. Es hat dabei bestimmt, daß die Bemessung nach den ertragsteuerlichen Kosten vorzunehmen ist und dabei explizit auf die AfA nach § 7 Abs. 4 EStG hingewiesen.

Nun darf das BMF seine Meinung durchaus ändern. Dabei darf aber nicht verkannt werden, daß diese Ansicht der BFH aber ebenfalls so gesehen hat. In seiner Entscheidung v. 18.12.1996 -- XI R 12/96, BStBl. II 1997, 374 = UR 1998, 18 mit Anm. Stadie hat der BFH die Bemessung in diesen Fällen auf Basis der ertragsteuerlichen Grundsätze gestellt. Da die Verwaltung dieses Urteil im BStBl. veröffentlicht hat, ist es allgemein anzuwenden.

Das BMF begründet seine neuere Ansicht mit dem "Neutralitätsgrundsatz". Dabei stellt er sich aber auch hier wieder gegen den EuGH in der "Seeling"-Entscheidung. Dort hatte der EuGH angeführt, daß in diesem Fall durchaus ein unversteuerter Letztverbrauch eintreten kann, weil die Korrekturzeit i.S.d. § 15a UStG kürzer ausfällt, als die Nutzungsdauer. Der EuGH hat diesen Fall des unversteuerten Letztverbrauches als "Folge einer bewußten Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers" angesehen und damit für zulässig erachtet.

Im Ergebnis kommt die Finanzverwaltung somit nicht um die Bemessung der unentgeltlichen Wertabgabe nach der AfA über § 7 Abs. 4 EStG vorbei.

Und äußerst interessant ist auch in diesem Fall die Anwendungsregel. Das BMF-Schreiben gilt ab dem 1.7.2004. Für alle Fälle davor bleibt es bei der alten Regelung, daß für die Definition der Kosten von den ertragsteuerlichen Grundsätzen auszugehen ist. Das soll aber nicht gelten, wenn es sich bei dem Wirtschaftsgut um ein Grundstück handelt, auf das "Seeling" angewendet werden soll. In diesem Fall gilt auch schon für Zeiträume vor dem 1.7.2004 die Kostenbemessung nach dem Zeitraum des § 15a UStG. Wie diese Auffassung allerdings mit dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes in Einklang zu bringen ist, wird nicht erklärt, weil es offensichtlich nicht erklärt werden kann.

Fazit

Das BMF ist anscheinend so verzweifelt, wie schon lange nicht mehr. Es erkennt, daß die "Seeling"-Entscheidung auf viele Unternehmer zutreffen wird und Gestaltungsmöglichkeiten in Größenordnungen eröffnet. Unter Verletzung von Besteuerungsregeln des nationalen und europäischen Rechts und deren Auslegung durch die Rechtsprechung werden hier unzulässige und teilweise unstrukturierte Anweisungen an die Finanzverwaltung geschaffen.

Folge wird sein, daß in der nächsten Zeit die Gerichte massiv bemüht werden müssen, um dem Steuerpflichtigen sein Recht zu verschaffen. Jedem Berater ist zu empfehlen, in entsprechenden Fällen das Recht seines Mandanten mit allen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten durchzusetzen. Einziger Trost ist die Vollverzinsung nach § 233a AO.


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