Thomas Wachter,              
Notar, München

Europäisches Gesellschaftsrecht: Zulässigkeit der grenzüberschreitenden Verlegung des Verwaltungssitzes

 

Meilenstein im Europäischen Gesellschaftsrecht

Nach den bahnbrechenden Entscheidungen des EuGH in den Fällen "Centros", "Überseering", "Inspire Art" und "Sevic" bahnt sich in der Rechtssache "Cartesio" ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des europäischen Gesellschaftsrechts an. Ein ungarisches Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es mit der europäischen Niederlassungsfreiheit vereinbar ist, die Eintragung einer Sitzverlegung von Ungarn nach Italien im Handelsregister zu verweigern. Der (portugiesische) Generalanwalt Poiares Maduro hat die Frage in seinen Schlussanträgen v. 22.5.2008 -- Rs. C-210/06 (abzurufen unter www.gmbhr.de/volltext.htm) erwartungsgemäß verneint und sich dabei insbesondere für eine umfassende Anwendung der Niederlassungsfreiheit sowohl in Zuzugs- als auch in Wegzugsfällen ausgesprochen. Sollte sich der EuGH der Auffassung des Generalanwalts anschließen, wäre die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapital- und Personengesellschaften in allen EU- und EWR-Mitgliedsstaaten zulässig.

 

Verlegung des Geschäftssitzes der Cartesio Kommanditgesellschaft

Dem Vorlageverfahren liegt vereinfacht folgender Sachverhalt zugrunde: Im Jahre 2004 hat ein in Ungarn ansässiges Ehepaar eine Kommanditgesellschaft nach ungarischem Recht (Betéti Társaság, Bt.) mit Sitz in Baja, Ungarn gegründet. Die Gesellschaft wurde ordnungsgemäß im ungarischen Handelsregister eingetragen. Im November 2005 beantragte die Gesellschaft bei dem ungarischen Handelsregister als neuen "operativen Geschäftssitz" eine Adresse in Gallarte, Italien eintragen zu lassen. Das Registergericht hat den Antrag jedoch abgelehnt. Nach ungarischem Recht sei es nicht möglich, dass eine Gesellschaft ihren Geschäftssitz in einen anderen Mitgliedsstaat verlegt und gleichzeitig ihren Rechtsstatus als ungarische Gesellschaft aufrechterhält. Die Verlegung des Geschäftssitzes sei vielmehr nur in der Form möglich, dass die Gesellschaft Cartesio zunächst in Ungarn aufgelöst und anschließend nach italienischem Recht neu gegründet wird. Gegen den Beschluss des Registergerichts legte Cartesio unter Hinweis auf die europäische Niederlassungsfreiheit Beschwerde ein. Das Rechtsmittelgericht hat dem EuGH im Mai 2006 u.a. die Frage vorgelegt, ob die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft das Recht gewährt, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedsstaat zu verlegen (ZIP 2006, 1536; s. dazu Neye, EWiR 2006, 459; Kleinert/Schwarz, GmbHR 2006, R 365 f.).

 

Overruling von "Daily Mail"?

Der Generalanwalt bejaht in seinen Schlussanträgen zunächst ausführlich die Zulässigkeit der Vorlage des ungarischen Gerichts (Rz. 5 bis 22), bevor er zur Frage der europäischen Niederlassungsfreiheit Stellung nimmt (Rz. 22 bis 34). Entgegen der Auffassung der ungarischen Regierung sei der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit im vorliegenden Fall eröffnet. Nach ungarischem Recht ist der Sitz einer Gesellschaft der Ort, an dem sich der operative Geschäftssitz befindet. Die Verlegung des Geschäftssitzes innerhalb Ungarns ist zulässig und muss im ungarischen Handelsregister eingetragen werden. Dagegen ist die Verlegung des Geschäftssitzes in einen anderen EU-Mitgliedsstaat nach ungarischem Recht stets unzulässig. In der unterschiedlichen Behandlung von rein nationalen und grenzüberschreitenden Sachverhalten sei eine Beschränkung der europäischen Niederlassungsfreiheit zu sehen. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Daily Mail" stehe dem nicht entgegen. Im Zusammenhang mit der (steuerlich motivierten) Verlegung der Geschäftsleitung einer englischen Gesellschaft in die Niederlande hat der Gerichtshof im Jahr 1988 noch festgestellt, dass Gesellschaften nur gemäß nationalem Recht bestehen und der "EWG-Vertrag den Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht (gewährt), den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedsstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen" (Rz. 26). Der Generalanwalt wendet sich ausdrücklich gegen den Grundsatz, dass allein der Staat, nach dessen Recht die Gesellschaft gegründet worden ist, über deren "Leben und Tod" entscheidet (nach dem Motto: "Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen"). Andernfalls würde den Mitgliedsstaaten eine Art "Freibrief" erteilt, über die nach ihrem Recht gegründeten Gesellschaften die "Todesstrafe" zu verhängen, nur weil sie von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen (Rz. 31). Der Generalanwalt weist in diesem Zusammenhang allerdings ausdrücklich darauf hin, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit in den letzten 20 Jahren deutlich weiterentwickelt hat, wenngleich dies zu gewissen Widersprüchen geführt hat. Insbesondere die neueren Urteile in den Rechtsachen "Centros", "Überseering" und "Inspire Art" scheinen teilweise genau in die entgegengesetzte Richtung zu weisen als dies noch die Entscheidung in Sachen "Daily Mail" getan hat. Nach Auffassung des Generalanwalts konnten die bisher vorgenommenen Unterscheidungen zwischen Erst- und Zweitniederlassung sowie zwischen Zuzug- und Wegzugsfällen allerdings noch nie überzeugen und passten auch nicht in das Konzept der europäischen Niederlassungsfreiheit (Rz. 28 ff.). Insgesamt geht der Generalanwalt daher davon aus, dass auch der Wegzug einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat von der europäischen Niederlassungsfreiheit umfasst ist. Eine Grenze sieht er lediglich in Fällen einer missbräuchlichen Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit als gegeben an, wie z.B. bei "Briefkastenfirmen" oder "Strohfirmen" (Rz. 29).

 

Generelles Verbot der Sitzverlegung unzulässig

In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH prüft der Generalanwalt sodann, ob die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im vorliegenden Fall aus Gründen des allgemeinen öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein könnte (Rz. 32). Als mögliche Rechtfertigungsgründe nennt er u.a. den Schutz vor Missbrauch oder Betrug, den Schutz der Interessen von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitsnehmern sowie den Schutz der Interessen der nationalen Finanzbehörden. Im vorliegenden Fall komme eine Rechtfertigung aber schon deshalb nicht in Betracht, weil das ungarische Gesellschaftsrecht die Verlegung des Geschäftssitzes in einen anderen EU-Mitgliedsstaat generell und ausnahmslos verbietet. Der Generalanwalt weist allerdings darauf hin, dass es den Mitgliedsstaaten europarechtlich nicht verwehrt ist, eine solche Sitzverlegung von einer Einhaltung "bestimmter Voraussetzungen" abhängig zu machen und bezieht sich in diesem Zusammenhang insbesondere auf die SE-Verordnung (Rz. 33).

 

Wegzug von Gesellschaften ins Ausland möglich

Nach den Entscheidungen "Inspire Art", "de Lasteyrie du Saillant" und "Sevic" ist zu erwarten, dass der EuGH auch in der Rechtssache "Cartesio" den Schlussanträgen des Generalanwalts folgen wird. Gesellschaften, die in einem EU- bzw. EWR-Mitgliedsstaat wirksam gegründet worden sind, können ihren Verwaltungssitz dann in einen anderen Mitgliedsstaat verlegen. Nachdem die europäische Niederlassungsfreiheit für alle "Gesellschaften" anwendbar ist, gilt dies sowohl für Personen- als auch für Kapitalgesellschaften (s. auch Rz. 2, Fn. 2). Gesellschaften aus Drittstaaten können sich dagegen auch in Zukunft nicht auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Ebenso wenig ist die Verlegung des Verwaltungssitzes in einen Drittstaat von der Niederlassungsfreiheit umfasst.

In der Rechtssache "Cartesio" geht es um die Zulässigkeit der Verlegung des "operativen Geschäftssitzes" und damit des Verwaltungssitzes. Die Gesellschaft "Cartesio" sollte auch nach Eintragung des neuen Geschäftssitzes in Italien als ungarische Gesellschaft fortbestehen und im ungarischen Handelsregister eingetragen bleiben. Die Entscheidung enthält somit keine Aussage zur Zulässigkeit der identitätswahrenden Verlegung des Satzungssitzes einer Gesellschaft. Missverständlich ist in diesem Zusammenhang allerdings der Hinweis des Generalanwalts auf die Möglichkeit der Verlegung des Satzungssitzes bei der SE (nach Art. 8 SE-VO). Bei einer SE muss der Satzungssitz zudem stets in dem Mitgliedsstaat liegen, in dem sich die Hauptverwaltung der SE befindet (Art. 7 S. 1 SE-VO), womit ein Auseinanderfallen von Satzungs- und Verwaltungssitz gerade ausgeschlossen werden soll.

 

Neue Mobilität für deutsche Gesellschaften

In Deutschland ist die Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland derzeit (ebenso wie in Ungarn) unzulässig. Die Verlegung des Verwaltungssitzes führt zwingend zur Auflösung der Gesellschaft. Spätestens nach der (erwarteten) Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Cartesio" kann diese Auffassung aufgrund des Anwendungsvorrangs der europäischen Niederlassungsfreiheit nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der deutsche Gesetzgeber wird dem EuGH aber vermutlich zuvorkommen und bereits im Rahmen des "MoMiG" für eine europarechtskonforme Neuregelung sorgen. Aufgrund der geplanten Änderung u.a. von § 4a GmbHG kann der Verwaltungssitz einer deutschen GmbH bereits bei Gründung im Ausland liegen oder zu einem späteren Zeitpunkt ins Ausland verlegt werden (s. dazu u.a. Kindler, AG 2007, 721; Peters, GmbHR 2008, 245). Der Satzungssitz muss wie bisher in Deutschland liegen. Die Neuregelung geht insoweit über die europarechtlichen Vorgaben hinaus, als der Verwaltungssitz nicht nur in einem der EU- bzw. EWR-Mitgliedsstaaten, sondern auch in einem beliebigen Drittstaat liegen kann. "Briefkastengesellschaften" sind daher künftig auch in der Rechtsform der deutschen GmbH möglich. Zum Schutz der Teilnehmer des Rechtsverkehrs muss allerdings auch bei einer GmbH mit Verwaltungssitz im Ausland im deutschen Handelsregister stets eine inländische Geschäftsanschrift eingetragen werden, an die auch förmliche Zustellungen erfolgen können. In der Verpflichtung zur Eintragung einer inländischen Geschäftsanschrift mag eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gesehen werden, doch ist diese aus Gründen des Gläubigerschutzes in jedem Fall sachlich gerechtfertigt. Im Übrigen steht deutschen GmbHs mit ausländischem Verwaltungssitz künftig die Möglichkeit offen, einen inländischen Empfangsbevollmächtigten in das deutsche Handelsregister eintragen zu lassen. Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft bietet der ausländische Verwaltungssitz interessante Gestaltungsmöglichkeiten. So können ausländische Tochtergesellschaften künftig einheitlich in der Rechtsform der deutschen GmbH organisiert werden, wodurch die Unternehmensstruktur vereinfacht und die Transaktionskosten gesenkt werden. Die deutsche GmbH wird damit wieder zum "Exportschlager", als der sie bereits im Jahr 1892 gestartet ist.

Die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland bleibt dagegen auch nach Inkrafttreten des MoMiG unzulässig (zur Unzulässigkeit der Verlegung des Satzungssitzes einer deutschen GmbH von Deutschland nach Portugal s. zuletzt OLG München v. 4.10.2007 -- 31 Wx 36/07, GmbHR 2007, 1273). Eine grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes ist bislang nur bei einer SE möglich (Art. 8 SE-VO), was aber für kleine und mittlere Unternehmen im Allgemeinen keine gangbare Alternative darstellt. Darüber hinaus ist auch eine grenzüberschreitende Verschmelzung eine Möglichkeit der Sitzverlegung (zur Zulässigkeit aus deutscher Sicht s. §§ 122a ff. UmwG), doch kann dieser Weg schon allein aus steuerrechtlichen Gründen nicht ohne weiteres gewählt werden. Die Arbeiten an der 14. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie über die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften wurden von der Europäischen Kommission jüngst eingestellt. Der deutsche Referentenentwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften (dazu Knof/Mock, GmbHR 2008, R 65 f.) sieht u.a. die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung vor, sofern dies nach beiden betroffenen Rechtsordnungen zulässig ist (s. Art. 10b EGBGB-E). Für eine rechtssichere und praktikable Anwendung erscheint eine ergänzende Regelung zwischen den betroffenen Staaten allerdings unerlässlich (s. auch Art. 8 Abs. 2 bis 13 SE-VO).

In Deutschland ist man seit Jahrzehnten der Sitztheorie gefolgt. Die geplante Einführung der Gründungstheorie bedeutet einen weitreichenden Systemwechsel, mit dem nicht nur der europäischen Niederlassungsfreiheit umfassend Rechnung getragen wird, sondern zugleich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Gesellschaften gestärkt wird.

 



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