Sebastian Barta,
Rechtsanwalt, Berlin

Die "Gelatine"-Entscheidung des BGH:
Auswirkungen auf die Beratungspraxis bei AG und GmbH

Die Entscheidung des BGH in der Sache "Gelatine" v. 26.4.2004 -- II ZR 155/02, AG 2004, 384 und das nahezu wortgleiche Urteil im Parallelverfahren BGH v. 26.4.2004 -- II ZR 154/02, bringen zwar keinen Meilenstein, aber doch in vielen Punkten eine lang erwartete Rechtsklarheit für die Rechtspraxis. Sie konkretisieren die mit der Entscheidung des BGH v. 25.2.1982 -- II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 ff. begründete sog. "Holzmüller"-Doktrin.

I. Die "Holzmüller"-Doktrin des BGH

Hierbei geht es um das Kompetenzgefüge der Organe der AG. Das AktG selbst stellt für die Frage der Zustimmungspflichtigkeit der Hauptversammlung (HV) formal darauf ab, ob die Satzung geändert wird (vgl. § 179 Abs. 1 S. 1 AktG). Alle übrigen Maßnahmen, sofern sie in § 119 Abs. 1 AktG nicht ausdrücklich genannt sind, sollen als Geschäftsführungsmaßnahmen eigenverantwortlich vom Vorstand vorgenommen werden können. Dieser Zuständigkeitseindämmung der HV ist der BGH entgegengetreten, indem er festgestellt hat, daß die Zuständigkeitsordnung des AktG nur als eine punktuelle Lösung betrachtet werden könne und auch ohne ausdrückliche Ermächtigung im Gesetz Strukturmaßnahmen, die erheblich in das mitgliedschaftliche Verwaltungsrecht des einzelnen Aktionärs eingreifen, nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der HV getroffen werden können. Ohne die Zustimmung der HV bleibe die Maßnahme des Vorstands zwar im Außenverhältnis wirksam, jedoch können Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche der Aktionäre ausgelöst werden. Offen blieb in der Entscheidung allerdings, wie diese Strukturmaßnahmen zu definieren sind und welches wirtschaftliches Gewicht sie besitzen müssen, um eine Mitwirkungsbefugnis der HV zu begründen. Offen blieb weiterhin, welcher Mehrheit der Zustimmungsbeschluß der HV bedarf.

All diese offenen Punkte führten trotz grundsätzlicher Zustimmung zu den nur grob gezeichneten Grundsätzen über die Kompetenzverteilung in der AG zu erheblichen Unsicherheiten über die Anwendung der "Holzmüller"-Doktrin über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus und so zu einer umfassenden und kontroversen Diskussion in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur, die mittlerweile eine kleine Bibliothek füllt (so Wiedemann/Frey, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2002, S. 413).

II. Die "Gelatine"-Entscheidung des BGH

Die "Gelatine"-Entscheidung des BGH bringt hier nun endlich die langerwartete Klarstellung und läßt so wie durch einen Federstrich Berge von Papier zur Makulatur werden. Sie ist nicht nur für die aktienrechtliche Rechtspraxis von erheblicher Bedeutung, sondern für jeden mit gesellschaftsrechtlichen Fragestellung befaßten Berater von immenser Wichtigkeit. Liegt doch der Entscheidung eine typische Konzernkonstellation unter Einbezug von AGen sowie anderen Gesellschaftsformen im In- und Ausland zugrunde. So bildeten hier neben einer 100 %igen Tochter-GmbH zwei 100 %ige Beteiligungen an zwei ausländischen Tochtergesellschaften einen Teil der Konzernstruktur. Nach Beschluß des Vorstands wurden 1998 diese 100 %igen Beteiligungen an den zwei ausländischen Tochtergesellschaften auf die Tochter-GmbH übertragen. Dadurch wurden die beiden Auslandstöchter zu Enkelgesellschaften der AG. Auf Kritik eines Aktionärs hatte der Vorstand der HV v. 5.5.2000 die Maßnahme zur Genehmigung vorgelegt, wobei ca. 70 % der Umstrukturierung zustimmten.

Anhand dieser Konstellation stellt der BGH nunmehr ausdrücklich fest, daß eine Mitwirkung der HV über die gesetzliche Kompetenzzuweisung des AktG hinaus nur in Ausnahmenfällen in Betracht kommt, nämlich dann, wenn der Vorstand eine Umstrukturierung beschließt, die an die Kernkompetenz der Hauptversammlung rührt, über die Verfassung zu entscheiden, und die in ihren Auswirkungen einem Zustand nahe kommt, der allein durch eine Satzungsänderung der Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Eine solche Grenze sei erst dann erreicht, wenn die Strukturmaßnahme in etwa die Ausmaße des "Holzmüller"-Falls annimmt. Entsprechend des im Bereich der Satzungsänderung liegenden Ausnahmecharakters bedarf der Beschluß der HV einer 3/4-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals (BGH v. 26.4.2004 -- II ZR 155/02 -- "Gelatine", AG 2004, 384 [388]).

III. Folgen für die AG

Der BGH hat mit dieser engen Fixierung der außergesetzlichen Entscheidungskompetenz der HV ausdrücklich die Position des Vorstands als Geschäftsführungsorgan der Gesellschaft gestärkt (so auch Semler, FAZ v. 5.5.2004, S. 27). Mit der Feststellung, daß nur solche Strukturmaßnahmen der Zustimmung der HV bedürfen, die das Ausmaß des "Holzmüller"-Falles erreichen, zeichnet er sichere Kriterien für die Ermessensentscheidung des Vorstands zur Vorlagepflicht in "Holzmüller"-Konstellationen (a.A. Seibt, NJW-Spezial 2004, 76 [77]). Der im "Holzmüller"-Fall im Wege der Sachkapitalerhöhung auf eine Tochtergesellschaft ausgegliederte Betriebsteil machte ca. 80 % des Gesellschaftsvermögens der AG aus. Ohne im einzelnen festzulegen, welche Maßnahmen zu den Strukturmaßnahmen zu zählen sind (Beispiele bei Reichert in Beck'sches AG-Hdb., 2004, § 5 Rz. 1 und Pluta in AnwK-AktienR, 2003, § 119 AktG Rz. 34), bildet dieser Schwellenwert die Grenze für die Geschäftsführungskompetenz des Vorstands und legt damit das quantitative Kriterium für zustimmungspflichtige Strukturmaßnahmen fest. Diese gewonnene Rechtssicherheit sollte nicht durch neue Spekulationen wieder aufgeweicht werden (so aber z.B. bei Fuhrmann, AG 2004, 339 [341]: weit über 50 %, doch deutlich unter 90 %, mehr als 75 %; Seibt, NJW-Spezial 2004, 76 [77]: deutlich über 50 %) Offen bleibt jedoch, an welchen Parametern die wirtschaftliche Bedeutung der Strukturmaßnahme und die Bestimmung der 80 %-Grenze zu messen ist (Semler, FAZ v. 5.5.2004, S. 27). Grundsätzlich dürfte hierbei auf das Verhältnis von beweglichen Vermögensteil zum Gesamtwert der Gesellschaft abzustellen sein, während z.B. die Parameter Umsatzpotential, bilanzierte Aktiva oder Eigenkapital nur indizielle Bedeutung haben (so auch Fuhrmann, AG 2004, 339 [341] m.w.N.).

Aber auch bereits für die geplante Änderung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG durch den "Entwurf des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts -- UMAG" mit der Verankerung der sog. "buissnes judement rule" im Gesetz hat die Entscheidung erhebliche Bedeutung (zur geplanten Neuregelung s. Paefgen, AG 2004, 245; Lenzen/Kleinert, GmbHR 2004, R 101). So wird man das quantitative Kriterium zur Vorlagepflicht bei Strukturmaßnahmen, die bis zu 80 % des Gesellschaftsvermögens erreichen, als "safe harbour" ansehen können, unterhalb dessen Vorstand und Aufsichtsrat vor evtl. Ansprüchen auf Schadensersatz der Aktionäre in "Holzmüller"-Konstellationen geschützt sind (unklar Seibt, NJW-Spezial 2004, 76 [77] a.E.).

Weiter fraglich bleibt aber, wie eine angemessene Kontrolle und Wahrung der Rechte der Hauptversammlung und mithin der einzelnen Aktionäre erreicht werden kann. Hier ist es in der neueren Rechtspraxis immer häufiger zu einstweiligen Rechtschutzverfahren gekommen, mit denen Aktionäre versuchten, dem Vorstand die Durchführung der von ihm beschlossenen Maßnahme zu untersagen (Schlitt/Seiler, ZHR 166 [2002], 544 [583]; Markwardt, WM 2004, 211; als Beispiel: LG Duisburg v. 27.6.2002 -- 21 O 106/02, AG 2003, 390 f. -- "Babcock Borsig AG/HDW"). Eine Diskussion dieser Problematik in der Literatur hat gerade erst begonnen (grundlegend Schlitt/Seiler, ZHR 166 [2002], 544 ff.). Der BGH hat in seiner Entscheidung v. 30.1.1995 -- II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (141) -- "Siemens/Nold", die Möglichkeit einer Aktionärsklage gegen Verwaltungshandeln explizit statuiert. Ein solches Verfahren bietet das angemessene Äquivalent zur gestärkten Position des Vorstands, mit dem der Aktionär die Trennung zwischen Leitungsbefugnis des Vorstands und der HV-Kompetenz für Grundlagengeschäfte vor Schaffung vollendeter Tatsachen überwachen kann (zu dieser Abgrenzung der Kompetenzen Kort in Großkomm. zum AktG, 4. Aufl. 2003, § 76 Rz. 79 ff.; ein Muster findet sich bei Tielmann in Happ, Aktienrecht, 2. Aufl. 2004, 18.06).

IV. Folgen für die GmbH

Nach der Kompetenzordnung in der gesetzestypischen GmbH bildet im Gegensatz zur AG die Gesellschafterversammlung das oberste Geschäftsführungsorgan (Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, Rz. 3.228) Denn grundlegend anders als in der AG (§ 76 AktG) steht, wie sich mittelbar vor allem aus § 37 Abs. 1, § 46 Nr. 5 u. 6 GmbHG ergibt, der Gesellschafterversammlung in allen Angelegenheiten der Geschäftsführung ein Weisungsrecht gegenüber den Geschäftsführern zu (statt aller Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 37 Rz. 3). Die Bindung der Geschäftsführung im Innenverhältnis hat jedoch auch hier keine Auswirkung auf die Vertretungsmacht der Geschäftsführer, außer die Außenwirkung wird ausdrücklich zum Vertragsgegenstand gemacht (Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 20. Aufl. 2003, § 36 Rz. 5).

Ebenso wie bei der AG wird jedoch auch bei der GmbH kontrovers diskutiert, ob sich bei Strukturmaßnahmen -- die GmbH-rechtliche Terminologie lautet freilich "außergewöhnliche Geschäfte" -- eine Vorlagepflicht der Geschäftführung gegenüber der Gesellschafterversammlung besteht (Roth/Altmeppen, GmbHG, 3. Aufl. 2003, § 37 Rz. 22). Ebenso wie bei der Diskussion in der AG ist dabei strittig, wie diese Strukturmaßnahmen (außergewöhnlichen Geschäfte) zu definieren sind und welches wirtschaftliches Gewicht sie besitzen müssen, um eine Vorlagepflicht gegenüber der Gesellschafterversammlung zu begründen (s. dazu im einzelnen nur Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 46 Rz. 60 ff.). Hier lassen sich die vom BGH in seiner Entscheidung zur AG entwickelten Grundsätze auf die GmbH übertragen, wonach Strukturmaßnahmen, die vom Umfang her etwa 80 % des Gesellschaftsvermögens ausmachen, der Zustimmung der HV bedürfen. Denn wenn der BGH sogar den zur selbständigen, eigenverantwortlichen Leitung der AG berufenen Vorstand in derartigen Fällen an die Zustimmung der HV bindet, muß dies erst Recht für den in abgeleiteter Verantwortung tätigen Geschäftsführer der GmbH gelten (so auch Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 37 Rz. 6e, § 46 Rz. 60a). Gerade in dem vom BGH behandelten Fall, der Umstrukturierung von Tochter- in Enkelgesellschaften, führt dies auch bei einer Mutter-GmbH zu einem Mediatisierungseffekt (Begriffsverwendung in der "Gelatine"-Entscheidung des BGH v. 26.4.2004 -- II ZR 155/02, AG 2004, 384 [387]; kritisch hierzu Fuhrmann, AG 2004, 339 [341]) zu Lasten der Gesellschafter. In diesen Fällen hat somit der Geschäftsführer die Pflicht, die Maßnahme der Gesellschafterversammlung zur Entscheidung vorzulegen, ohne abwarten zu dürfen, ob diese von sich aus aktiv wird. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, kann er sich schadensersatzpflichtig machen (§ 43 Abs. 2 GmbHG).

Die Entscheidung bedarf abweichend von § 47 Abs. 1 GmbHG, wie der BGH es nennt, entsprechend des im Bereich der Satzungsänderung liegenden Ausnahmecharakters, analog § 53 Abs. 2 S. 1 GmbHG einer Mehrheit von 3/4 der abgegeben Stimmen.

Fraglich ist auch hier, wie der einzelne Gesellschafter eine angemessene Kontrolle und Wahrung der Rechte der Gesellschafterversammlung erreichen kann. Da ebenso wie bei der AG (§ 122 Abs. 1 AktG) auch in der GmbH das Recht, die Einberufung der Gesellschafterversammlung zu verlangen, an das Erreichen einer Mindestkapitalquote gebunden ist (§ 50 Abs. 1 GmbHG), ist auch hier dem Einzelgesellschafter die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens gemäß § 940 ZPO eröffnet.

V. Zusammenfassung

Für die AG und für die GmbH ergibt sich zusammenfassend aus der "Gelatine"-Entscheidung des BGH, daß eine Strukturmaßnahmen, die 80 % des Gesellschaftsvermögens gemessen am Verhältnis von beweglichen Vermögensteil zum Gesamtwert der Gesellschaft ausmacht, der Zustimmung der HV bzw. der Gesellschafterversammlung bedarf. Der Zustimmungsbeschluß bedarf analog § 179 Abs. 1 S. 1 AktG bzw. § 52 Abs. 2 S. 1 GmbHG der für eine Satzungsänderung erforderlichen 3/4-Mehrheit. Die Verletzung der Vorlagepflicht des Vorstands der AG bzw. der Geschäftsführung der GmbH kann zu Schadensersatz- und Unterlassungsansprüchen führen. Dem Einzelaktionär bzw. -gesellschafter ist zur Wahrung seiner Rechte der einstweilige Rechtschutz gemäß § 940 ZPO eröffnet.

Zur Schaffung einer möglichst hohen Transparenz dieser Rechtsprechungsgrundsätze und um eine möglichst hohe Rechtssicherheit zu erreichen, empfiehlt es sich, eine entsprechende Regelung in die Satzung der AG bzw. den Gesellschaftsvertrag der GmbH aufzunehmen.

 


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