Dr. Björn Gaul und
Dr. Andrea Bonanni, Köln*
Agenda 2010: Änderungen im Kündigungsschutzrecht
Das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit hat den Entwurf
eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vorgelegt, mit dem als Bestandteil
der Agenda 2010 die Veränderungen im Kündigungsrecht umgesetzt werden
sollen. Danach sind folgende Änderungen vorgesehen:
I. Kleinbetriebsklausel
§ 23 Abs. 1 KSchG soll dahingehend ergänzt werden, daß bei der
Feststellung der Zahl der Beschäftigten Arbeitnehmer mit befristetem Arbeitsverhältnis
nicht zu berücksichtigen sind, wenn das Arbeitsverhältnis nach dem
Inkrafttreten dieser gesetzlichen Neuregelung begonnen hat. Unerheblich sind
der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, die Dauer der Befristung und der Umstand,
ob sie mit oder ohne sachlichen Grund vereinbart worden ist.
Problematisch daran ist allerdings nicht nur, daß durch das Fehlen einer
gesetzlichen Höchstgrenze für die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse
der falsche Eindruck vermittelt wird, daß auch größere Beschäftigtenzahlen
mit befristeten Arbeitsverträgen nicht zur Anwendung des KSchG führen
würden. Abweichend hiervon geht aber auch der Gesetzgeber davon aus, daß
der "volle" Kündigungsschutz aus § 1 KSchG greift, wenn
durch die Zahl der Arbeitnehmer die enge persönliche Bindung und die geringe
wirtschaftliche Belastbarkeit, die den Kleinunternehmer typischerweise auszeichnet,
nicht mehr gegeben ist (vgl. BVerfG v. 27.1.1998 -- 1 BvL 15/87, DB 1998, 826).
Hinzu kommt, daß die geplante Regelung zur Folge hat, daß im Rahmen
eines Kündigungsschutzprozesses zukünftig auch die Wirksamkeit der
Befristungen geprüft werden muß. Denn nur die wirksame Befristung
kann bei der Berechnung des Schwellenwerts in § 23 KSchG ausgegrenzt werden.
Folgerichtig werden gekündigte Arbeitnehmer neben der Kündigung auch
die Wirksamkeit aller Befristungen angreifen, falls dies zu einer unbefristeten
Beschäftigung von mehr als 5 Arbeitnehmern führen würde.
Hiervon ausgehend wäre es sinnvoller, den Schwellenwert in § 23 Abs.
1 KSchG ohne Unterscheidung zwischen befristeten und unbefristeten Arbeitsverhältnissen
anzuheben und dabei -- dies würde der BVerfG-Rechtsprechung Rechnung tragen
-- auf das Unternehmen, nicht mehr den Betrieb, abzustellen.
II. Sozialauswahl
Die Sozialauswahl in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG soll -- wie in der Zeit von
1996 bis Ende 1998 -- auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter
und die Unterhaltspflichten begrenzt werden. Weitere soziale Gesichtspunkte
(z.B. Schwerbehinderung, Alleinerziehende, Pflege von Angehörigen) sollen
nur noch dann berücksichtigt werden, wenn sie in einem unmittelbaren spezifischen
Zusammenhang mit den drei Grunddaten stehen oder sich aus solchen betrieblichen
Gegebenheiten herleiten, die evident einsichtig sind (Berufskrankheiten, Arbeitsunfall).
Berücksichtigt man, daß die drei Kriterien der Sozialauswahl -- wie
sich aus § 1 Abs. 3 KSchG ergibt -- ohnehin nur "ausreichend"
zu berücksichtigen sind, liegt darin eine ganz erhebliche Erleichterung
der Risiken einer Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung. Denn die
gesetzliche Vorgabe billigt dem Arbeitgeber bei der Gewichtung der Sozialkriterien
einen Wertungsspielraum zu (vgl. BAG v. 5.12.2002 -- 2 AZR 549/01 n.v.).
Weitergehend sollen Arbeitnehmer aus der sozialen Auswahl nach § 1 Abs.
3 S. 1 KSchG ausgegrenzt werden können, deren Weiterbeschäftigung
insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur
Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs im berechtigten betrieblichen
Interesse liegt. Dadurch soll klargestellt werden, daß betriebsbedingte
Kündigungen nicht zur Entlassung der Leistungsträger und zur Überalterung
der Belegschaft führen müssen.
III. Punkteschema
Aus nachvollziehbaren Gründen ist es nicht (mehr) möglich, einzelne
der verbliebenen Kriterien einer Sozialauswahl durch Vereinbarung zwischen den
Tarifvertragsparteien bzw. den betrieblichen Sozialpartnern auszugrenzen. Ein
Punkteschema, das gerade bei Massenentlassungen hilfreich sein kann, muß
alle drei Kriterien erfassen und kann nur noch bestimmen, wie diese Kriterien
zueinander zu gewichten sind. Werden die Grenzen des Bewertungsspielraums gewahrt,
kann das Ergebnis der Auswahlentscheidung für den Fall einer gerichtlichen
Auseinandersetzung nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.
Wünschenswert wäre allerdings gewesen, § 1 Abs. 4 KSchG auch
auf die Festlegung der Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer auszudehnen.
IV. Namensliste bei betriebsbedingten Kündigungen
Die größte Überraschung ist darin zu sehen, daß es wieder
zulässig sein soll, bei einer Kündigung aufgrund einer Betriebsänderung
nach § 111 BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in
einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich mit
der Folge zu bezeichnen, daß vermutet wird, daß die Kündigung
durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. Abs. 2 bedingt ist. Die soziale
Auswahl der Arbeitnehmer kann dann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft
werden. Ausnahmen sollen nur dann gelten, wenn und soweit sich die Sachlage
nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat.
Diese Regelung, die nach der Streichung in § 1 Abs. 5 KSchG zum 1.1.1999
nur noch im Rahmen von § 125 Abs. 1 InsO Verwendung gefunden hatte, kann
eine erhebliche Erleichterung bei der Umsetzung betriebsbedingter Kündigungen
bewirken. Voraussetzung ist allerdings, daß die Kündigung tatsächlich
aufgrund einer Betriebsänderung erfolgt und die Namensliste unter Berücksichtigung
des gesetzlichen Schriftformerfordernisses in den Interessenausgleich selbst
eingebunden oder als Anlage fest mit diesem Interessenausgleich verbunden wird.
V. Anspruch auf Abfindung bei betriebsbedingter Kündigung
Der kündigungsrechtliche Bestandsschutz bei betriebsbedingter Kündigung
soll durch einen gesetzlichen Abfindungsanspruch des Arbeitnehmers ergänzt
werden (§ 1a KSchG). Danach hat der Arbeitnehmer mit Ablauf der Kündigungsfrist
Anspruch auf eine Abfindung,
- wenn der Arbeitgeber betriebsbedingt kündigt,
- darauf in der Kündigungserklärung verweist und für den Fall
des Verstreichenlassens der Klagefrist eine Abfindung zusagt und
- tatsächlich innerhalb der 3-Wochen-Frist keine Kündigungsschutzklage
erhoben wird.
Voraussetzung ist, daß die Abfindung 0,5 Monatsverdienste für jedes
Jahr der Betriebszugehörigkeit nicht übersteigt. Dabei ist ein Zeitraum
von mehr als sechs Monaten auf ein volles Jahr aufzurunden.
Mit der Neuregelung wird zwar dem Umstand Rechnung getragen, daß die ganz
überwiegende Zahl der Kündigungsschutzprozesse nur geführt werden,
um eine Abfindung zu erhalten. Diese Abfindung kann der Arbeitgeber nun bereits
bei Ausspruch der Kündigung mit dem Ziel versprechen, den Prozeß
zu vermeiden. Will der Arbeitnehmer das Angebot annehmen, genügt es, wenn
er keine Klage gegen die Kündigung erhebt.
Die Erwartung, daß die Neuregelung zu einer Abnahme der arbeitsgerichtlichen
Verfahren und des Prozeßrisikos führt, kann aber nicht geteilt werden.
Da der Arbeitnehmer weiterhin das Recht zur Klage behält, wird wohl auf
eine Kündigungsschutzklage nur in solchen Fällen verzichtet werden,
in denen die Klage offensichtlich ohne Erfolg wäre und/oder bereits eine
Anschlußbeschäftigung in Aussicht ist. In diesen Fällen war
es dem Arbeitgeber aber schon heute möglich zu versuchen, den Prozeß
durch das freiwillige Angebot einer Abfindung, deren Höhe nach eigenem
Ermessen bestimmt wurde, abzuwenden.
Außerdem besteht die Gefahr, daß ein Arbeitnehmer, der ein entsprechendes
Angebot bereits im Kündigungsschreiben erhält, daraus auf Zweifel
des Arbeitgebers an der Wirksamkeit der Kündigung schließen wird
und deshalb erst recht Kündigungsschutzklage erhebt. Schließlich
geht der Gesetzgeber selbst davon aus, daß der halbe Monatsverdienst pro
Jahr der Betriebszugehörigkeit bereits bei einer wirksamen Kündigung
gezahlt werden soll.
Weitergehende Bedenken in Bezug auf die gewünschte Wirkung der gesetzlichen
Neuregelung werden dadurch begründet, daß die Arbeitsämter womöglich
eine Mitwirkung des Arbeitnehmers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses
annehmen. Konsequenz wäre eine Sperrzeit nach § 144 SGB III, die nach
§ 128 SGB III mit einer Kürzung der Gesamtdauer des Arbeitslosengeldanspruchs
verbunden wäre.
Angesichts dieser Folgeprobleme wäre es wünschenswert, generell zu
einer Abfindungsregelung bei betriebsbedingter Entlassung überzugehen.
Ausnahmeregelungen für ältere Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz
und die Staffelung der Abfindungshöhe unter Berücksichtigung von Alter,
Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten bieten ausreichenden
Gestaltungsspielraum für sozialverträgliche Lösungen.
VI. Einheitliche Klagefrist bei Kündigungen
Entsprechend § 113 Abs.2 InsO soll in § 4, § 6 und § 7 KSchG
eine generelle Frist von 3 Wochen für Klagen wegen einer Beendigungs- oder
Änderungskündigung eingeführt werden. Diese Frist soll auch bei
solchen Gründen gelten, die außerhalb von § 1 KSchG zur Unwirksamkeit
der Kündigung führen können (z.B. fehlerhafte Betriebsratsanhörung,
Nichtbeachtung des Schriftformerfordernisses, Verstoß gegen § 613a
Abs. 4 S. 1 BGB). Das gleiche gilt für die außerordentliche Kündigung
(§ 13 Abs. 1 KSchG) und -- insoweit als Folge weiterer Änderungen
-- die Kündigung im Kleinbetrieb.
Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Klageerhebung. Bis zum Schluß
der mündlichen Verhandlung im Rahmen der ersten Instanz kann sich der Arbeitnehmer
dann auch auf andere Gründe für die Unwirksamkeit der Kündigung
berufen (§ 6 KSchG). Das Arbeitsgericht soll ihn hierauf hinweisen.
VII. Fazit
Die Reformvorschläge gehen in die richtige Richtung. Wichtig wäre
allerdings, daß die vorstehend angesprochenen Widersprüche noch im
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens beseitigt werden und es zu einer kurzfristigen
Umsetzung kommt.
* Dr. Björn Gaul ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie Partner bei Norton Rose Vieregge, ferner Privatdozent und Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln; Dr. Andrea Bonanni ist Rechtsanwältin und Mitarbeiterin bei Norton Rose Vieregge.