Jürgen Nagler / Dr. Jens Kleinert*

Wegzugsteuer tot, BMF in Not!

Zum BMF-Schr. v. 8.6.2005 zur EG-rechtskonformen Anwendung von § 6 AStG

Ruhe in Frieden § 6 AStG!

Mit dem EuGH-Urteil Lasteyrie du Saillant zur französischen Wegzugsbesteuerung (EuGH v. 11.3.2004 -- Rs. C-9/02, GmbHR 2004, 504 mit Komm. W.Meilicke) ist auch bezüglich des noch wesentlich restriktiveren § 6 AStG ein Verstoß gegen primäres Gemeinschaftsrecht sehr wahrscheinlich geworden. Dies hat man hierzulande zunächst einmal verdrängt und damit die Europäische Kommission auf den Plan gerufen, die deswegen gegen die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 226 EG-Vertrag (EG) ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Mit dem BMF-Schr. v. 8.6.2005 -- IV B 5 - S 1348 - 35/05, BStBl. I 2005, 714 (Volltext (PDF)) unternimmt das BMF nun den Versuch, die EG-vertragswidrige Vorschrift des § 6 AStG bis zu einer EG-rechtskonformen Neuregelung in allen noch nicht bestandskräftigen Fällen geltungserhaltend zu reduzieren. Nach Ansicht des BMF soll die Wegzugsteuer auch bei einem Wegzug in einen anderen EU- bzw. EWR-Staat nach § 6 AStG festgesetzt, jedoch bis zu einer zukünftigen EU-konformen Regelung gestundet werden. Für den Fall daß die Anteile veräußert werden bzw. eine Besteuerung in einem anderen EU-/EWR-Mitgliedstaat erfolgt oder bestimmte Anzeigepflichten nicht erfüllt werden, sieht das BMF den sofortigen Widerruf der Stundung und die Einziehung der Steuer vor. Angesichts des Umstands, daß Kinzl/Goerg, (IStR 2005, 450) zu dem Schreiben des BMF bereits ausführliche Überlegungen angestellt haben, beschränken sich die Autoren hier auf einige besonders bemerkenswerte Aspekte der Wegzugsbesteuerung.

Nur Abschaffung des § 6 AStG wäre EU-konforme Regelung

Bei Inlandsumzügen bestehen, egal ob der Umzug von München nach Hamburg oder nur aus einer Wohnung in die Nachbarwohnung erfolgt, keinerlei steuerliche Verpflichtungen im Hinblick auf das Halten einer wesentlichen Beteiligung. Es genügt wenn der Steuerpflichtige den Finanzbehörden die Änderung seiner Anschrift mitteilt. Da die in Art. 43 EG bzw. dem wortgleichen Art. 31 EWR-Abkommen (EWR-A) verbriefte Niederlassungsfreiheit die Inländer(gleich)behandlung (EuGH v. 28.1.1986 -- Rs. 270/83 -- Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Rz. 14) gebietet, stellt die Bundesrepublik Deutschland selbst mit der steuerlichen Behandlung innerhalb Deutschlands umziehender Inländer den Maßstab für die EG-vertragskonforme Behandlung von Wegzügen ins Ausland auf. Folglich ist eine gesetzliche Neuregelung der Wegzugsbesteuerung nur dann EG-vertragskonform ausgestaltet, wenn auch bei Inlandsumzügen entsprechende steuerliche Verpflichtungen eingeführt werden. Solange nicht auch der inländische Umzug, etwa innerhalb einer Gemeinde, einer Veräußerung nach § 17 EStG gleichgestellt wird, verstößt die Anordnung dieser Rechtsfolge in § 6 AStG bei Wegzügen ins Ausland gegen Art. 43 EG / Art. 31 EWR-A. Eine solche Anordnung wird folglich vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verdrängt und muß unangewendet bleiben. Alleine der Umstand, daß die Steuer zwar festgesetzt, jedoch zunächst (nur) nicht erhoben sondern gestundet wird und dies mit entsprechenden Erklärungspflichten verbunden ist, stellt eine gegen Art. 43 EG / Art. 31 EWR-A verstoßende Diskriminierung dar, da jede -- wenn auch noch so geringfügige -- Schlechterstellung von Auslandssachverhalten die Ausübung der Niederlassungsfreiheit erschwert bzw. weniger attraktiv macht.

Verzicht auf Wegzugsbesteuerung möglich

Der Umstand, daß es sich bei § 6 AStG um eine Vorschrift handelt, die eine Minderung des deutschen Steueraufkommens verhindern soll, Steuermindereinnahmen aber bekanntlich keinen gemeinschaftsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung darstellen (ständige Rechtsprechung des EuGH, zuletzt EuGH v. 7.9.2004 -- Rs. C-319/02 -- Manninen, GmbHR 2004, 1346 Rz. 49; dazu Englisch, GmbHR 2004, R 421), macht das gesetzgeberische Dilemma einer EU-konformen Wegzugsbesteuerung deutlich. Da Steuermindereinnahmen Ungleichbehandlungen nicht rechtfertigen können kann es keine Rolle spielen, ob im Zeitpunkt der Veräußerung der wesentlichen Beteiligung die Bundesrepublik Deutschland oder der Ansässigkeitsmitgliedstaat des Wegzüglers entsprechende Steuereinnahmen erzielt. Denn obwohl ausländische Steuerpflichtige bei der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung an einer inländischen Körperschaft nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e i.V.m. § 17 EStG in Deutschland beschränkt steuerpflichtige Einkünfte erzielen, verzichtet die Bundesrepublik Deutschland durch Abschluß von DBA´s mit dem Inhalt des Art. 13 Abs. 5 OECD-MA freiwillig auf die Besteuerung der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung zugunsten des Wohnsitzstaats des Anteilseigners. Diesen Besteuerungsverzicht muß die Bundesrepublik dann auch bei Wegzügen gegen sich gelten lassen, wenn die Grundfreiheiten des EG-Vertrags anwendbar sind.

BMF-Schreiben Verstoß gegen EG-Vertrag

Da § 6 AStG im räumlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit (EU- bzw. EWR-Staaten) unanwendbar ist, solange er nicht auch Inländer erfaßt, werden im obigen BMF-Schreiben von der Verwaltung gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Mitteilungspflichten aufgestellt. Das BMF-Schreiben verstößt zudem auch gegen Art. 10 EG (Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten), der sämtliche staatlichen Organe verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß umzusetzen. Da die Unvereinbarkeit von § 6 AStG mit dem Gemeinschaftsrecht nur mit Hilfe verbindlichen staatlichen Rechts, das denselben Rang wie die vertragswidrige Bestimmung hat (hier der Änderung von § 6 AStG, wonach dieser nur bei Wegzug in Nicht-EU- bzw. EWR-Staaten Anwendung findet) ausgeräumt werden kann, stellt das BMF-Schreiben, selbst wenn es nur die Nichtanwendung von § 6 AStG im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts anordnen würde, keine rechtswirksame Erfüllung der Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag dar (EuGH v. 15.10.1986 -- Rs. 168/85 -- Kommission/Italien, Slg. 1986, 2945, Rz. 13).

BMF zieht EWR-Raum in seine Überlegungen mit ein

Einen Meilenstein in der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltung stellt die Einbeziehung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) in den Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit dar. Während die Verwaltung etwa in Bezug auf § 8a KStG a.F. dessen Nichtanwendung immer noch auf Anteilseigner in EU-Staaten beschränkt (FinMin. NRW v. 26.5.2003 -- S 2742a - 11 - V B 4, GmbHR 2003, 860) und damit die mit gleicher Wirkung versehenen Grundfreiheiten des EWR-Abkommens ignoriert, hat sie zwischenzeitlich wohl erkannt, daß auch die Staaten des EWR (aktuell Island, Norwegen und Liechtenstein) in den räumlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. Hierzu dürfte sich auch bald der EuGH in der Rechtssache Keller Holding (Rs. C-471/04, Abl.EU 2005, Nr. C 19, 14) äußern, falls er dem Entscheidungsvorschlag der Europäischen Kommission folgt und für das Jahr 1994 (Zugehörigkeit Österreichs zum EWR) einen Verstoß gegen den mit Art. 43 EG wortgleichen Art. 31 EWR-A konstatieren wird.

Zugleich räumt das BMF damit auch ein, daß es für die vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bewirkte Nichtanwendung des gesamten § 6 AStG nicht darauf ankommt, ob der Wegzug in einen (EU-Mitglied)Staat erfolgt, in dem über die Amtshilferichtlinie (Richtlinie 77/799/EWG, Abl.EG 1977, Nr. L 336, 15) bzw. Beitreibungsrichtlinie (Richtlinie 76/308/EWG, Abl.EG 1976, Nr. L 73, 18.) die zur Festsetzung der Wegzugsteuer erforderlichen Auskünfte bzw. die festgesetzte Steuer erhoben werden kann. Könnte nämlich gemeinschaftsrechtlich eine Steuerstundung an die Bedingung geknüpft werden, daß Amtshilfe und Beitreibung durch den Zuzugstaat gewährleistet sein muß, so dürfte die Einbeziehung der EWR-Staaten durch das BMF nicht erfolgen, weil gegenüber diesen Staaten die vorgenannten Richtlinien nicht gelten, da sie nicht im Anhang zum EWR-Abkommen aufgeführt sind. Während im Verhältnis zu Norwegen und Island ein Auskunfts- bzw. Amtshilfeersuchen zumindest auf Grundlage einer Art. 26 OECD-MA entsprechenden DBA-Klausel gestützt werden kann, ist lediglich mit Norwegen eine Art. 27 OECD-MA entsprechende Vollstreckungshilfe vereinbart. Gegenüber Liechtenstein bestehen hingegen (mangels DBA) keinerlei Auskunfts-, Amts- und Vollstreckungshilfemöglichkeiten, was wohl der Hauptgrund für die mangelhafte Zusammenarbeit der Finanzbehörden Deutschlands und Liechtensteins sein dürfte. Nach der hier vertretenen Ansicht kommt es für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit nicht auf entsprechende Amtshilfe- und Vollstreckungsmöglichkeiten an. Es fehlt nämlich an einer zu vollstreckenden Steuer, deren Erhebung gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt ist. Daher ist die Erstreckung des Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit auf die Staaten des EWR konsequent.

BMF kompensiert EG-vertragswidrige Entscheidungen des ausländischen Steuerrechts

Ein weiterer Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist darin zu sehen, daß das BMF-Schreiben eine Wertminderung der Beteiligung bis zum Veräußerungsfall von der Voraussetzung abhängig machen will, daß die Wertminderung nicht im Wohnsitzstaat des Wegzüglers steuerlich berücksichtigt wurde und dies zudem auch nur im Billigkeitswege nach § 227 AO erfolgen soll. Wenn im Inlandsfall aber der vorübergehende Wertzuwachs nicht besteuert wird, verstößt alleine der Umstand der höheren Steuerfestsetzung gegen Art. 43 EG bzw. Art. 31 EWR-A. Indem man dann der Verwaltung zusätzlich auch noch nach § 227 AO ein (Billigkeits-)Ermessen bei der Berücksichtigung des Wertverlusts einräumt, setzt sich der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit fort. Wenn ein Billigkeitserlaß an die Voraussetzung geknüpft wird, daß der Wertverlust im Zuzugsstaat keine steuerliche Berücksichtigung gefunden hat, nimmt die Bundesrepublik schließlich eine gemeinschaftsrechtlich untersagte kompensatorische Besteuerung vor. Auch soweit die Bundesrepublik Deutschland die Anwendung des § 6 AStG für den Fall beabsichtigt, daß der Steuerpflichtige zunächst in einen anderen Mitgliedstaat verzieht und sich einige Zeit später -- aus vernünftigen wirtschaftlichen Gründen die außerhalb des Ziels der Steuerersparnis liegen -- dauerhaft in einen Drittstaat begibt, setzt sie sich möglicherweise über die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats hinweg, der keine Wegzugsbesteuerung kennt. Eine kompensatorische Besteuerung in Deutschland, die den Vorteil der Nichtbesteuerung im anderen Mitgliedstaat kompensieren soll, verstößt mit Sicherheit gegen Art. 43 EG, da eine Steuer nicht die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats, den betreffenden Vorgang nicht zu besteuern, kompensieren darf. Diese Feststellung, die der EuGH bereits in der Rechtssache Eurowings (EuGH v. 26.10.1999 -- C-294/96, BStBl. II 1999, 851 Rz. 35, 42 -- 44) getroffen hat ist für den Fall des Art. 43 EG unverändert aktuell.

Übertragbarkeit der Überlegungen auf sämtliche Entstrickungstatbestände

Die vorstehend vorgenommenen Überlegungen sind auf andere Entstrickungstatbestände wie die Auflösung einer Betriebstätte einer beschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft (§ 12 Abs. 2 KStG) bzw. die Verlegung von Geschäftsleitung oder Sitz einer Kapitalgesellschaft ins Ausland (§ 11, § 12 KStG) übertragbar. Auch die auf Inlandssachverhalte beschränkte Buchwertfortführung nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 UmwStG (Verschmelzung), § 15 Abs. 1 Nr. 1 UmwStG (Aufspaltung, Abspaltung und Teilübertragung), § 20 Abs. 3 UmwStG (Einbringung eines Betriebs, Teilbetriebs und Mitunternehmeranteils) und § 21 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG (Besteuerung einbringungsgeborener Anteile) verstößt gegen vorrangiges Gemeinschaftsrecht, solange bei vergleichbaren Inlandssachverhalten, im Gegensatz zu grenzüberschreitenden Sachverhalten, keine Besteuerung erfolgt. Schließlich gilt dies auch für die generelle Entstrickungsbesteuerung bei Überführung von Wirtschaftsgütern in eine ausländische Betriebstätte. Alle diese Differenzierungen zwischen In- und Auslandssachverhalten sollen letztendlich nur das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland sichern. Wegen dieser Zielsetzung verstoßen solche Differenzierungen im Europäischen Binnenmarkt gegen dessen primärrechtliche Grundfreiheiten, da die Minderung von Steuereinnahmen als Folge des Wettbewerbs in einem vom Staat unverfälschten Binnenmarkt gemeinschaftsrechtlich hinzunehmen ist und somit jegliche Maßnahmen gegen diesen gewollten Wettbewerb als binnenmarktwidrig zu unterbleiben haben.

Schlußbemerkungen

Nimmt man den alleinigen Maßstab der Inländerbehandlung für eine EU-konforme Wegzugsbesteuerung, so wird § 6 AStG im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bis zu dem Tag vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts verdrängt und damit unanwendbar, ab dem auch der Inlandsumzug entsprechend besteuert wird. Da die Einführung einer derartigen Inländer erfassenden Umzugsteuer aber schon an der Frage scheitern dürfte, ob dann konsequenterweise auch der Umzug innerhalb eines Mehrfamilienhauses der Veräußerung gleichgestellt wird, liegt die zutreffende gesetzgeberische Antwort darin, das nationale Steuerrecht so attraktiv zu gestalten, daß sich aus steuerlichen Gründen Wegzüge ins Ausland nicht mehr lohnen. Dem hier dargestellten gesetzgeberischen Dilemma der Neuregelung der Wegzugsbesteuerung kann nur durch ein attraktives europarechtskonformes Steuer- und Abgabenrecht begegnet werden. Der Gesetzgeber täte gut daran, wenn er dies beherzigen würde.

 

* Jürgen Nagler ist Rechtsanwalt und Steuerberater in Frankfurt a. M. Dr. Jens Kleinert ist Rechtsanwalt in Düsseldorf; beide sind im Geschäftsbereich Tax von KPMG tätig und gehören der European Tax Law Group von KPMG an.



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