Bernd Weller, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Frankfurt a. M.*

Streiks gegen Unternehmerentscheidungen?

Gewerkschaftliche Streiks gegen unternehmerische Entscheidungen, die der Reduzierung von Personalkosten dienen sollen, sind immer häufiger.

Standortentscheidungen als Betriebsratsthema

Bisher waren Standortverlagerungen und Personalabbau nur ein betriebsverfassungsrechtliches Thema. Als Betriebsänderungen i.S.d. § 111 f. BetrVG riefen sie den Betriebsrat auf den Plan. Dieser schloss in aller Regel einen Interessenausgleich, der das "Wie" der Betriebsänderung regelt, und einen Sozialplan ab, der die an die Arbeitnehmer zu leistenden Ausgleichszahlungen für den Verlust des Arbeitsplatzes (Abfindung, Transfergesellschaft, Out-placement etc.) beinhaltet. Den Sozialplan kann der Betriebsrat -- anders als den Interessenausgleich -- notfalls erzwingen.

Die Verhandlungen über den Interessenausgleich werden vom Betriebsrat nicht selten so lange wie irgend möglich herausgezögert. So lange die Verhandlungen nicht abgeschlossen oder deren Scheitern nicht offiziell festgestellt ist, kann der Betriebsrat in zahlreichen Gerichtsbezirken jede Umsetzungsmaßnahme des Arbeitgebers mittels einer einstweiligen Unterlassungsverfügung blockieren.

Der Betriebsrat kann Betriebsänderungen verzögern und die Kosten einer solchen Maßnahme erheblich steigern. Er kann die Umsetzung der Maßnahme selbst aber nicht verhindern. Auch wenn dies in Einzelfällen durchaus vorkommt (z.B. Opel, DaimerChrysler), darf der Betriebsrat keinen Arbeitskampf führen, er darf also nicht zu Streiks aufrufen.

Kein Streik durch Betriebsräte

Das Recht zum Streikaufruf ist in Deutschland -- anders als in manchem Nachbarland -- allein den Gewerkschaften vorbehalten. Die Gewerkschaften aber griffen bis vor relativ kurzer Zeit allenfalls durch den Abschluss von sog. Sanierungstarifverträgen in die betrieblichen Vorgänge ein. Sie ermöglichten damit dem einzelnen Unternehmen, soweit es eine Standort- bzw. eine Beschäftigungsgarantie abgab, seine Lohnkosten für einen bestimmten Zeitraum zu senken. Diese "Zurückhaltung" haben die Gewerkschaften seit der Jahrtausendwende schrittweise aufgegeben und eine neue Strategie eingeschlagen.

Einer der ersten Versuche, in dem eine Gewerkschaft eine Standortverlagerung verhindern wollte, scheiterte: Das LAG Hamm hat durch Urt. v. 31.5.2000 -- 18a Sa 858/00 in einem Fall, in dem eine tarifvertragliche Standortgarantie erstreikt werden sollte, befunden, dass der Streik -- auch wenn die Gewerkschaftsforderungen letztlich üblichen Sozialplanforderungen entsprächen -- in unzulässiger Weise in die unternehmerische Freiheit eingreife. Zur Unterstützung seiner Argumentation verwies das LAG Hamm auf den Streikaufruf, der eindeutig auf die Änderung der unternehmerischen Maßnahme abzielte.

"Otis" und "Heidelberger Druck"

Die IG Metall unternahm in den Jahren ab 2002 erfolgreichere Versuche: Als Heidelberger Druck die Kündigung von ca. 560 und Otis von ca. 360 Arbeitnehmern planten, verlangte die IG Metall von beiden Unternehmen den Abschluss eines Sozialtarifvertrages. Otis sollte nach Vorstellung der IG Metall jedem zu kündigenden Arbeitnehmer eine Abfindung von zwei Bruttomonatsgehältern je Beschäftigungsjahr und 36 Monate Qualifizierungsmaßnahmen -- bei vollem Gehalt -- zahlen. Von Heidelberger Druck wurde die Zahlung einer Abfindung in gleicher Höhe, die Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen für die Dauer von 24 Monaten -- ebenfalls bei vollem Gehalt -- sowie die Verlängerung der Kündigungsfristen auf mindestens drei Monate zum Quartalsende (zzgl. einer Verlängerung um zwei weitere Monate für jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit) gefordert.

Obwohl sowohl Otis als auch Heidelberger Druck Mitglied eines Arbeitgeberverbandes waren, verlangte die IG Metall von ihnen den Abschluss eines Haustarifvertrags. In beiden Fällen wurden die Forderungen durch Streiks unterstrichen.

Rechtsprechung zu "Otis" und "Heidelberger Druck"

Beide Unternehmen beantragten vor den jeweiligen Arbeitsgerichten Unterlassungsverfügungen gegen die IG Metall, um die Streiks zu beenden. Sowohl das LAG Schleswig-Holstein (Urt. v. 27.3.2003 -- 5 Sa 137/03 -- NZA-RR 2003, 562) als auch das LAG Niedersachsen (Urt. v. 2.6.2004 -- 7 Sa 819/04 -- AP Nr. 164 zu Art. 9 GG -- Arbeitskampf) versagten den Unternehmen Rechtsschutz. Nach Auffassung beider Gerichte schließen die §§ 111 ff. BetrVG die Gewerkschaften nicht davon aus, den Abschluss von Tarifsozialplänen zu fordern und ihre Forderungen durch Streiks zu untermauern. Der Hinweis, die Forderungen der IG Metall zielten letztlich auf die (finanzielle) Undurchführbarkeit des Personalabbaus und seien daher als ungerechtfertigter Eingriff in die Unternehmerfreiheit tarifrechtswidrig, wurde von den Gerichten zurückgewiesen. Die Gewerkschaftsforderungen zielten schließlich nicht auf das "Ob" des Personalabbaus, sondern dessen "Wie". Es sei den Gerichten wegen des Verbots der Tarifzensur zudem verboten, die finanzielle Höhe der Gewerkschaftsforderungen zu überprüfen. Im Übrigen zeige die Praxis, dass die Tarifverträge der IG Metall letztlich stets unterhalb deren Eingangsposition abgeschlossen würden.

Auf der Basis dieser beiden Entscheidungen schaltete sich die IG Metall auch bei den geplanten Werksschließungen von Infineon und AEG im Herbst 2005 / Frühjahr 2006 ein und zwang auch diesen Unternehmen teure Tarifsozialpläne auf.

Das Echo auf "Otis" und "Heidelberger Druck"

Auch wenn die Auffassung der LAG Schleswig-Holstein und Niedersachen Anfang 2006 vom LAG Hessen (Urt. v. 2.2.2006 -- 9 Sa 915/05) bestätigt wurde, trat die neue IG Metall-Strategie nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der arbeitsrechtlichen Literatur eine Welle von Reaktionen los (Nicolai, RdA 2006, 33; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019; Reichold, BB 2004, 28; Fischinger, NZA 2007, 310; Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413; Lobinger, RdA 2006, 12; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017).

Problematisiert wurde, ob die §§ 111 ff. BetrVG Gewerkschaften vom Tätigwerden bei anstehenden Betriebsänderungen ausschließen und ob Tarifsozialpläne erstreikt werden dürfen.

Soweit die Gewerkschaftsseite nicht die unternehmerische Entscheidung selbst zum Gegenstand ihres Arbeitskampfes macht, ist wohl der Entscheidung der LAG Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen beizupflichten. Eine allein auf finanzielle Kompensationen zielende Gewerkschaftsforderung darf nicht von den Arbeitsgerichten überprüft werden. Dies liefe in der Tat auf eine unzulässige Tarifzensur hinaus. Hinzu träte die für Gerichte nicht lösbare Frage, welche Forderungen gerade noch zulässig sind und welche nicht mehr. Einfacher zu handhaben wäre die Lösung, wonach die §§ 111 ff. BetrVG generell ein gewerkschaftliches Handeln ausschließen. Auch mit dem Hinweis auf das betriebsverfassungsrechtliche Schlichtungsverfahren, die Einigungsstelle, lässt sich diese Auffassung jedoch nicht begründen. Dem BetrVG oder dem TVG ist der Ausschluss der Tarifzuständigkeit auch nicht zu entnehmen. Das Gesetz sieht gerade keinen Vorrang der betrieblichen Lösung vor. Es ordnet lediglich an, dass betriebliche Sozialpläne nicht durch bestehende tarifliche Lösungen ausgeschlossen werden.

Das BAG auf Seiten der Gewerkschaften

Durch Urt. v. 24.4.2007 -- 1 AZR 252/06 hat das BAG sich auf die Seite der LAG Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen gestellt. Nach seiner Auffassung können Gewerkschaften sowohl von Unternehmen als auch Arbeitgeberverbänden den Abschluss von Tarifsozialplänen fordern und diese Forderungen mit Arbeitskampfmaßnahmen durchsetzen. Unzulässig ist das Vorgehen der Gewerkschaften nach Ansicht des BAG nur, wenn sich deren Forderungen unmittelbar gegen die unternehmerische Entscheidung richten; "bloße" finanzielle Forderungen unterliegen nicht der Überprüfung durch die Arbeitsgerichte.

Fazit

Die Entscheidung des BAG zur Erstreikbarkeit von Tarifsozialplänen kommt den Gewerkschaften wie gerufen. Nach Jahrzehnten des fortlaufenden Mitgliederschwunds tut sich ein neues Betätigungsfeld für die Gewerkschaften auf, das einen Gewinn an Mitgliedern und Einfluss verspricht. Die drohende Betriebsschließung und der Verlust von Arbeitsplätzen werden viele Arbeitnehmer in die Arme der Gewerkschaft treiben, auch wenn diese sonst wenig mit Gewerkschaften alter Prägung zu tun haben.

Mit dem Segen des BAG können Gewerkschaften nun die Belegschaften wieder hinter sich vereinen und (freilich nur verdeckt!) gegen Unternehmerentscheidungen kämpfen. Die Gewerkschaften werden ihre Strategie nun auf eine breitere Basis stellen. Während sie sich in der Vergangenheit auf Unternehmen mit hoher Organisationsquote konzentrierten, werden sie nun auch bislang unfruchtbaren Boden betreten. In der Krise werden die Arbeitnehmer den Gewerkschaften in der Hoffnung, eine Betriebsschließung zu verhindern, wohl die Türen einrennen.

Unternehmen müssen sich in Zukunft darauf einstellen, dass Gewerkschaften bei Betriebsänderungen i.S.d. § 111 BetrVG mitreden wollen. Betriebsräte werden die Gewerkschaftstaktik durch größtmögliche Verzögerung ihrer Verhandlungen zu unterstützen suchen -- die Arbeitgeber sitzen somit in der Falle: Solange eine Einigung mit dem Betriebsrat nicht besteht, darf der Arbeitgeber keine Maßnahme umsetzen. Je länger die Verhandlungen mit dem Betriebsrat andauern, umso größerem Druck ist er von der Gewerkschaft ausgesetzt.

Die Umsetzung von Rationalisierungsmaßnahmen und Standortverlagerungen wird demnach in Zukunft nicht nur noch länger dauern, sondern auch teurer werden. Der Sozialplan dürfte hingegen an Bedeutung verlieren.

Tröstlich für Arbeitgeber dürfte in dem Zusammenhang nur sein, dass in allen bislang bekannten Fällen letztlich doch die Umsetzung der geplanten Maßnahme gelang.

Arbeitgeber sollten sich in Zukunft frühzeitig Gedanken darum machen, wie groß das Risiko eines gewerkschaftlichen Engagements in ihren Betrieben ist und wie viele Arbeitnehmer streikbereit sind. Die zeitlichen und finanziellen Risiken, die mit der möglichen Einschaltung der Gewerkschaften einhergehen, müssen ebenso bedacht werden wie der Entwurf von Notfallplänen zur Schadensminimierung bei Streiks ratsam ist. Schließlich sollte das Management externen Rat zum Verhalten bei Arbeitskämpfen (Zahlung von Streikbruchprämien, Aussperrung, organisatorische Herausforderungen, Sicherung des Betriebszugangs etc.) einholen.

Kritisch ist das formale Abstellen des BAG auf die Tarifforderungen der Gewerkschaft zu werten. Während sich diese zumeist in den gesetzlichen Grenzen halten, sprechen Flyer, Plakate und Slogans eine andere Sprache: Die Arbeitnehmer werden nämlich mit dem Ziel, den Personalabbau zu verhindern, zum Streik aufgerufen. Diesen tatsächlichen Gegebenheiten kann und sollte sich das BAG nicht verschließen, wenn es sich nicht mangelnden Realitätsbezug vorwerfen lassen will.

 

* Internationale Sozietät Lovells LLP.




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