Dr. Hortense Trendelenburg, Rechtsanwältin und Solicitor (England & Wales), Frankfurt a. M.*

 

Überschuldung nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz -- keine Angst vor der Fortführungsprognose

 

Der seit Oktober 2008 geltende neue Überschuldungsbegriff, nach dem bei Überschuldung und negativer Fortführungsprognose Insolvenzantrag gestellt werden muss, ist bekanntlich der alte. Der BGH hatte bereits zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung im Januar 1999 die Auffassung vertreten, in einer zweistufigen Prüfung sei festzustellen, ob die Gesellschaft zum einen überschuldet ist und zum anderen voraussichtlich nicht fortgeführt werden kann (vgl. nur BGH v. 13.7.1992 -- II ZR 269/91, BGHZ 119, 201 [214] = GmbHR 1992, 659). Abgesehen von der zeitlichen Begrenzung auf Ende 2010 bringt § 19 InsO n.F. also nichts grundlegend Neues. Daher kann man bei der Auslegung auf die Rechtsprechung zu § 63 GmbHG a.F., § 92 AktG a.F., § 207 KO zurückgreifen. Auch die Rechtsprechung zu § 19 InsO a.F. bleibt aktuell. Eine Fortführungsprognose war bereits während der Geltung des § 19 InsO a.F. zu erstellen. Nur bei positiver Prognose wurden die Aktiva in der Überschuldungsbilanz zu Fortführungswerten angesetzt.

Wie gesagt, bringt der Überschuldungsbegriff des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes eigentlich nichts Neues. Trotzdem breitet sich in der Beratungspraxis Verunsicherung aus. Das liegt nicht nur daran, dass momentan viele Unternehmen "auf Sicht fahren" und schlecht voraussagen können, wie sich die Auftragslage entwickelt oder ob sie eine Anschlussfinanzierung bekommen werden. Einerseits macht das die Prognose besonders schwer, andererseits sollte es aber auch zugunsten des Geschäftsführers berücksichtigt werden, wenn sich dessen Einschätzung nachträglich als falsch erweist. Unabhängig davon werden Art. 6 Abs. 3, Art. 7 Abs. 2 FMStG, nach denen die Geltung des neuen Überschuldungsbegriffs bis Ende Dezember 2010 begrenzt ist, als problematisch angesehen (vgl. auch die Stellungnahme des IDW zum Überschuldungsbegriff i.d.F. des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes vom 15.11.2008, Fn. 13, in Bezug auf die Fortführungsprognose nach § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB).

 

Fortführung trotz drohender Insolvenz im Januar 2011?

Wenn der Gesetzgeber an der zeitlichen Begrenzung festhält, werden viele Gesellschaften, die am 31.12.2010 noch nicht i.S.v. § 19 InsO insolvent sind, es am 1.1.2011 sein. Fraglich ist, wie sich das auf die Fortführungsprognose auswirkt. Mangels höchstrichterlicher Entscheidung ist unklar, wie weit die Fortführungsprognose in die Zukunft reichen muss. Meist geht man von einer Prognose für das laufende und für das zukünftige Geschäftsjahr aus, häufig werden jedoch auch volle zwei Jahre oder mehr angesetzt (vgl. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 19 Rz. 28, m.w.N. zum Streitstand). In der Praxis hört man immer wieder, 2009 könne man gerade noch eine positive Fortführungsprognose abgeben. Spätestens ab 2010 sei jedoch nicht mehr von einer Fortführung auszugehen, wenn die Gesellschaft voraussichtlich zum Jahresanfang 2011 überschuldet und damit insolvent sein wird.

Man fragt sich, ob das sinnvoll ist. Dagegen spricht die Absicht des Gesetzgebers, Unternehmen während des Übergangszeitraums bis zum 1.1.2011 etwas Luft zu verschaffen (vgl. Wälzholz, GmbH-StB 2009, 106 [109]). Die vom Gesetzgeber bezweckte Entlastung überschuldeter Unternehmen würde nicht im gewünschten Umfang erreicht, wenn die Fortführungsprognose bereits 2009 zu wackeln beginnen und 2010 endgültig zum Einsturz kommen würde. Die zeitliche Begrenzung wurde im letzten Moment des überstürzten Gesetzgebungsverfahrens eingefügt. Damit kann der Gesetzgeber sinnvollerweise nur beabsichtigt haben, den Übergangszeitraum auf zwei Jahre zu begrenzen. Es kann nicht das Ziel gewesen sein, Unsicherheit darüber zu schaffen, ob dieser Übergangszeitraum (je nachdem, welcher Ansicht zum Prognosezeitraum man folgt) wenige Monate oder höchstens ein reichliches Jahr dauert.

 

Fortführungsprognose als Prognose der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit

Auch dogmatische Erwägungen sprechen dafür, dass die zeitliche Begrenzung des Überschuldungsbegriffs die Fortführungsprognose nicht bereits 2010 negativ macht. Die Auswirkungen eines künftigen Insolvenzverfahrens sind bei der Fortführungsprognose grundsätzlich nicht mit einzubeziehen (vgl. Böcker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289 [1290], mit Verweis auf Böcker, Die Überschuldung im Recht der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, 2002, S. 242 ff.). In Bezug auf den neuen Überschuldungsbegriff mag dieser Gedanke gewöhnungsbedürftig sein (so jedoch bereits Böcker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289 [1290]), in anderer Beziehung ist er jedoch seit langem selbstverständlich. Niemand käme auf die Idee, eine Gesellschaft, die die Gehälter nicht mehr auszahlen kann, nicht für zahlungsunfähig zu halten, wenn nach Stellung des Insolvenzantrags Insolvenzgeld gezahlt und dadurch das Problem beseitigt werden wird.

Die Fortführungsprognose ist positiv, wenn davon auszugehen ist, dass keine Zahlungsunfähigkeit droht (vgl. nur Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 19 Rz. 28, m.w.N.; Drukarczyk in Münch.Komm.InsO, 2. Aufl. 2007, § 19 Rz. 53; Wimmer, jurisPR-InsR 22/2008, Anm. 5). Auf die wirtschaftliche Fortführbarkeit kommt es nicht entscheidend an. Wenn z.B. ein Unternehmen mangels belastbaren Geschäftsmodells nicht fortgeführt werden kann, aber noch ausreichende Mittel zur Befriedigung seiner Gläubiger hat, ist es nicht insolvent. Es kann auf dem üblichen Weg liquidiert werden. Ebenso liegt es auf der Hand, dass keine "Fortführung" des Unternehmens i.S.v. § 19 InsO anzunehmen ist, wenn es voraussichtlich aus der Insolvenz heraus erworben und danach fortgeführt wird.

Das sind Selbstverständlichkeiten. Angesichts der sich ausbreitenden Verunsicherung kann es aber nichts schaden, sie sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Es ist allgemein anerkannt, dass bei der Fortführungsprognose keine Überschuldungs-, sondern eine Zahlungsunfähigkeitsprognose zu treffen ist. Ansonsten wäre eine sinnvolle Fortführungsprognose kaum möglich. Wenn die Fortführungsprognose wegen in Zukunft zu erwartender Überschuldung negativ wäre und deswegen gemäß § 19 InsO n.F. (oder, nach alter Rechtslage, wegen des Ansatzes von Liquidationswerten in der Überschuldungsbilanz auch gemäß § 19 InsO a.F.) bereits im Prognosezeitpunkt Insolvenzantrag wegen Überschuldung gestellt werden müsste, würde man sich im Kreis bewegen. Bei der Fortführungsprognose kann es daher nicht auf die Überschuldung, sondern nur auf die Zahlungsunfähigkeit ankommen.

 

Konsequenzen für die Praxis

Man könnte demnach argumentieren, dass eine für den 1.1.2011 zu erwartende Überschuldung bei der Fortführungsprognose unbeachtlich ist, sofern die Zahlungsfähigkeit voraussichtlich noch gegeben sein wird. Ganz so einfach ist es leider nicht. Bei der Fortführungsprognose sind auch wirtschaftliche Erwägungen wie z.B. die künftige Finanzierung des Unternehmens mit einzubeziehen. Wenn die Insolvenz näher rückt, sinkt naturgemäß auch die Finanzierungsbereitschaft der Banken. Allerdings zeigt die Praxis, dass ungeachtet früherer gesetzlicher Antragspflichten Insolvenzanträge meist nicht schon bei Überschuldung, sondern erst bei Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens gestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, ob es im Januar 2011 wirklich zu einer Welle von Insolvenzen und damit von Zahlungsausfällen der Banken kommen wird.

Die zeitliche Begrenzung des § 19 InsO n.F. führt daher nicht dazu, dass die Fortführungsprognose bei überschuldeten Gesellschaften demnächst negativ würde. Für diese Auffassung sprechen sowohl dogmatische Erwägungen als auch der Sinn und Zweck des § 19 InsO n.F. Eine gesetzliche Klarstellung ist aus insolvenzrechtlicher Sicht nicht nötig, kann aber angesichts der bereits jetzt aufgetretenen Verunsicherung nichts schaden. Die derzeit geplante Verlängerung der Übergangsregelung zur Überschuldung um drei Jahre würde Unternehmen mittelfristig Sicherheit geben (vgl. die Pressemitteilung des BMJ vom. 19.8.2009).

 

 

*      Partnerin bei Taylor Wessing Partnerschaftsgesellschaft.




Zurück