Dr. Jan Tibor Lelley,
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht,
Essen*

Rechtssicherheit -- auch im Arbeitsrecht ein Standortvorteil

Die Rechtssicherheit ist ein tragendes Ziel jeder Rechtsordnung. Sie dient nicht nur der gerechten Fallentscheidung, sondern soll auch den Normunterworfenen das (berechtigte!) Gefühl der Rechtssicherheit vermitteln. Die Rechtssicherheit ermöglicht dem einzelnen, sich darauf einzurichten, welche richterliche Wertung in einem gerichtlichen Verfahren ein (gedachter) Tatbestand unter der bestehenden Rechtsordnung erfahren wird. Praktisch heißt das, daß Rechtssicherheit immer dann gegeben ist, wenn die Rechtsunterworfenen mit einiger (ausreichender) Sicherheit voraussagen können, welchen Verlauf eine gerichtliche Auseinandersetzung nehmen wird und mit welchem Ergebnis. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß die Rechtssicherheit als wichtigster Rechtfertigungsgrund für die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung angesehen werden muß. Denn die Unanfechtbarkeit eines rechtskräftigen Urteils kann im Einzelfall ja durchaus in einem Spannungsverhältnis zur objektiven oder subjektiv empfundenen Gerechtigkeit stehen. Und in der Gerechtigkeit soll das Ideal einer "vollkommenen Ordnung" im Rahmen des Rechts zum Ausdruck kommen. Da sind einerseits die ausgleichende Gerechtigkeit, die gerechte Regelungen der Verhältnisse des Einzelnen herbeiführt und andererseits die austeilende Gerechtigkeit zur Regelungen von Rechten und Pflichten des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Und eine rechtskräftige, unanfechtbare Gerichtsentscheidung soll in diesem Sinne gerecht sein.

Rechtssicherheit als Standortfaktor in der Globalisierung

In der aktuellen Diskussion über die Folgen der globalisierten Wirtschaft für die Bundesrepublik Deutschland wird einer breiten Öffentlichkeit immer mehr bekannt, daß die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes sich nicht nur über seine Wirtschaftskraft, sondern auch über das Rechtswesen und die Justiz definiert. Die Rechtssicherheit wird so über den rein juristisch-rechtsstaatlichen Kontext hinaus gehoben und zum einem quasi-ökonomischen Terminus, der neben anderen Standortfaktoren wie das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte oder ein gut ausgebautes Verkehrsnetz und Infrastruktur tritt. Damit wird die Rechtssicherheit vom abstrakten rechtstheoretischen Begriff zu einem der zentralen Standort- und Wettbewerbsfaktoren in der Globalisierung. Konsequent widmet so der Deutsche Industrie- und Handelskammertag dem Standortvorteil Recht sein Jahresthema 2005. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag möchte damit den Standortvorteil Recht weiter ausbauen. Dabei sieht man die Rechtssicherheit eben schon nicht mehr als bloßen Standortfaktor, sondern schon bereits ausdrücklich als Standortvorteil. Der Standortvorteil Rechtssicherheit wäre dann ein Wettbewerbsvorteil im Rahmen der Globalisierung. Es wird vom Deutsche Industrie- und Handelskammertag in diesem Zusammenhang aber auch darauf hingewiesen, daß der Begriff "Recht" -- anders als im angel-sächsischen Raum -- in Deutschland leider teilweise negativ besetzt sei. Das Bild sei zum Teil geprägt von dem sprichwörtlichen Paragraphenreiter, dem Amtsschimmel und dem Winkeladvokaten. Das wäre für den Standortvorteil Rechtssicherheit in Deutschland sicherlich negativ zu werten.

Rechtssicherheit im Arbeitsrecht als Standortfaktor

Gerade das deutsche Arbeitsrecht mit seinen oft kaum verhüllten Interessengegensätzen und unbestimmten Rechtsbegriffen in den einschlägigen Gesetzen selber sowie der daraus resultierenden stark richterrechtlichen Prägung scheint in diesem Zusammenhang besonders in der Kritik zu stehen.

Da ist z.B. aus der Gesetzgebung der im Dezember 2004 von der zuständigen Bundesministerin vorgelegte Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetztes mit einer Vielzahl neuer Zweifelsfragen und (Rechts-)Unsicherheiten zu nennen. Die Formulierung des Entwurfs läßt gerade bei der Rechtssicherheit gewisse konkrete Befürchtungen nicht weniger werden. Und auch die im März 2005 bekannt gegebenen Änderungen dürften die Rechtssicherheit noch nicht spürbar erhöhen. Denn nach dem letzten Stand ist jetzt zwar z.B. die Haftung des Arbeitgebers für das Verhalten Dritter ersatzlos gestrichen. Und weiter soll auch der Entschädigungsanspruch bei Nichteinstellung auf drei Monatsgehälter begrenzt werden. Die (Rechts-)Unsicherheit bleibt aber trotz dieser Korrekturen. Folgerichtig wird nun schon die ausdrückliche Hoffnung angemeldet, der Entwurf des Antidiskriminierungsgesetzes möge bei der am 18.9.2005 anstehenden Bundestagswahl der Diskontinuität anheim fallen und nicht mehr umgesetzt werden.

Als weiteres Beispiel aus der Gesetzgebung macht das arbeitsrechtliche "Zentralgesetz", das Kündigungsschutzgesetz, mit seinen unbestimmten Rechtsbegriffen gerade eine betriebsbedingte Kündigung zu einem "gefahrgeneigten" Unterfangen für Unternehmen. Auch das ist mittlerweile weithin bekannt. Von Vertretern der Arbeitnehmerseite ist dazu schon zu hören gewesen, die (Rechts-)Unsicherheit bei betriebsbedingten Kündigungen sei gewünscht, um Unternehmen von solchen Maßnahmen, also von Kündigungen bei Wegfall des Arbeitsplatzes, "abzuschrecken". Dort scheint dann die Rechtssicherheit nicht als entscheidender Standortfaktor geschweige denn als Standortvorteil gesehen zu werden. Vielmehr wird die Rechtsunsicherheit zum wünschenswerten Ergebnis er- und verklärt. Daran hat auch nach Meinung vieler Praktiker die Novellierung des Kündigungsschutzgesetzes pünktlich zum Jahresende 2004 nichts Wesentliches geändert. Die mit der Darlegung des Wegfalls des Arbeitsplatzes (betriebsbedingter Kündigungsgrund) und der Sozialauswahl verbundene Rechtsunsicherheit ist keinesfalls beseitigt. Auch hier bleibt die (Rechts-)Unsicherheit trotz der Korrekturen.

Daneben ist es bei anderen Kündigungsformen mit der Rechtssicherheit im gerichtlichen Verfahren (Kündigungsschutzprozeß) auch nicht unproblematisch. Die unbestimmten Rechtsbegriffe des Gesetzes laden zu vielschichtigen und ausgeklügelten Auslegungen durch die Arbeitsgerichte ein. Das verdeutlichen z.B. obergerichtliche Urteile aus der allerjüngsten Zeit, die verhaltensbedingte Kündigungen betrafen. So las man jüngst in einer Urteilsbegründung eines LAG (LAG Hamburg v. 4.11.2004 -- 7 Sa 41/04) zu einer verhaltensbedingten Kündigung, die wegen unsittlicher Berührung einer Kollegin im Betrieb ausgesprochen wurde, folgendes: Eine tätliche sexuelle Belästigung gegenüber einer Kollegin stelle keinen verhaltensbedingten Kündigungsgrund dar, wenn nicht vorher eine Abmahnung erfolgt sei. So weit so gut, denn selbstverständlich ist nach geltendem Recht nicht jedes sexuell bestimmt Verhalten, das die Würde von Beschäftigten am Arbeitsplatz verletzt, ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund. Und auch eine einschlägige Abmahnung wird in der Rechtsprechung richtigerweise als Voraussetzung für eine rechtswirksame Kündigung angesehen. Denn die Kündigung ist das letzte arbeitsrechtliche Mittel, wie auch der Maßnahmenkatalog in § 4 Beschäftigtenschutzgesetz zeigt. Das besondere an dieser Entscheidung für die Rechtssicherheit als Standortvorteil ist aber, daß die Kündigung unzulässig sein soll, wenn die Tätlichkeit im Betrieb, während der Arbeitszeit stattfand und der Täter wegen ein und desselben Sachverhalts rechtskräftig vom Strafgericht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Auch wenn das von dem erkennenden Gericht sicherlich keinesfalls so gewollt war, könnte die hier auftretende Diskrepanz zwischen arbeitsrechtlicher und strafrechtlicher Wertung sich auf die Rechtssicherheit als Standortvorteil negativ auswirken.

Ein anderes LAG (LAG Köln v. 29.11.2004 -- 2 Sa 1034/04) sah kürzlich in einem Schriftzug, der sich in einem amtlichen Bundespersonalausweis in dem Feld "Unterschrift des Inhabers" findet, keine Unterschrift, sondern eine Paraphe. Eine Paraphe sind die Anfangsbuchstaben eines Namens und müssen von der Unterschrift streng unterschieden werden. Nach der zutreffenden höchstrichterlichen Rechtsprechung wahrt eine Paraphe die gesetzliche Schriftform nicht. Denn die Paraphe ist eben keine Unterschrift. Ein Verstoß gegen die Schriftform führt bei einer Kündigung zur Nichtigkeit (§ 623, § 125 BGB). So entschied auch das LAG. Das besondere an dieser Entscheidung für die Rechtssicherheit als Standortvorteil ist aber hier, daß der Schriftzug im Bundespersonalausweis im Feld "Unterschrift des Inhabers" und der Schriftzug unter der Kündigung identisch waren -- auch nach den Feststellungen des Gerichts. Die Arbeitgeberin konnte also das Gericht auch durch die Vorlage eines amtlichen Ausweisdokuments nicht vom Vorhandensein der Unterschrift überzeugen. Auch hier kann sicherlich ausgeschlossen werden, daß das erkennende Gericht eine negative Wirkung für die Rechtssicherheit als Standortvorteil im Sinn hatte. Es stimmt aber doch nachdenklich, wenn für die Vorhersehbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen und damit für die Rechtssicherheit nicht mehr mit einem amtlichen Ausweisdokument eine Unterschrift nachgewiesen werden kann.

Fazit: Orientierungsgewißheit im Arbeitsrecht ist Rechtssicherheit

Man muß sich nicht einer in der Fachpresse geäußerten Meinung anschließen, die einen Trend zu erkennen meint, daß in letzter Zeit vermehrt Beispiele für erhebliche Fehlentscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit vorlägen. Denn ob eine richterliche Entscheidung ein Fehlurteil ist oder nicht hängt allzu oft vom subjektiven Empfinden der Beteiligten im Parteiprozeß ab. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen sich die Wertungen der Gesetze oder der Gerichte nicht mit den Wertungen einer Gruppe decken. Dennoch ist die Rechtssicherheit -- ob als Standortfaktor oder gar Standortvorteil -- ein fragiles Gut, das sich Tag für Tag neu bewähren muß. Der Rechtssicherheit als Standortfaktor könnte es abträglich sein, wenn die praktischen Konsequenzen von Gerichtsentscheidungen auch einer wohlwollenden Öffentlichkeit nur sehr schwer zu vermitteln sind. Das kann z.B. der rechtskräftig verurteilte Straftäter sein, dem man aber wegen desselben Verhaltens nicht kündigen darf oder die Unterschrift im Bundespersonalausweis, die von einem Gericht als Paraphe angesehen wird und daher die Schriftform der Kündigung nicht wahrt. Das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit muß zugunsten einer Orientierungsgewißheit gelöst und der Standortvorteil Recht in diesem Sinne gesichert werden.

 

* Rechtsanwälte Buse Heberer Fromm.



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