Ausländische GmbH: Vorabentscheidungsverfahren zur Eintragung der Sitzverlegung einer Gesellschaft in das Handelsregister und Unzuständigkeit des EuGH

EG Art. 43, Art.  48, Art. 234

Die nationalen Gerichte können den EuGH nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt; ersucht ein Amtsgericht den EuGH in seiner Eigenschaft als das Handelsregister führende Behörde und im Rahmen eines Verfahrens, das eine Eintragung in dieses Register betrifft, um eine Vorabentscheidung, so ist der EuGH dafür nicht zuständig.*

EuGH, Beschl. v. 10.7.2001 – Rs. C-86/00

 

In der Rechtssache

betreffend ein dem Gerichtshof nach Art. 234 EG vom Amtsgericht Heidelberg (Deutschland) in der bei diesem anhängigen Handelsregistersache

HSB-Wohnbau GmbH

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Art. 43 EG und 48 EG

erläßt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

... folgenden

Beschluß:

1. Das Amtsgericht Heidelberg hat mit Beschluß vom 3.3.2000, eingegangen bei der Kanzlei des Gerichtshofes am 7.3.2000, gemäß Art. 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Art. 43 EG und 48 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Fragen stellen sich in einer Handelsregistersache, in der die HSB-Wohnbau GmbH, eine Gesellschaft deutschen Rechts (im folgenden: Antragstellerin), beantragt, die Verlegung ihres Sitzes nach Spanien unter Wahrung ihrer Identität in das deutsche Handelsregister einzutragen.

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

3. Die Antragstellerin ist eine Gesellschaft mit Erwerbszweck, die 1988 gegründet wurde und im Handelsregister des Amtsgerichts Heidelberg ordnungsgemäß eingetragen ist. Ihr Satzungssitz befindet sich in Sinsheim (Deutschland).

4. Im August 1999 wurden alle Anteile an der Antragstellerin der – inzwischen im spanischen Register eingetragenen – spanischen Gesellschaft Paradies-Sonne-Meer SL übertragen, die nunmehr die alleinige Gesellschafterin ist. Gleichzeitig beschloß die Gesellschafterversammlung der Antragstellerin, deren gesamte Geschäftstätigkeit in Deutschland einzustellen und sie nunmehr in Spanien zu entfalten sowie ihren tatsächlichen und ihren satzungsmäßigen Sitz nach Orihuela Costa (Spanien) zu verlegen.

5. Im Dezember 1999 legte die Antragstellerin beim Amtsgericht Heidelberg nach deutschem Recht formell ordnungsgemäß den entsprechend geänderten Gesellschaftsvertrag vor und beantragte, die Sitzverlegung nach Spanien im deutschen Handelsregister einzutragen.

6. Das Amtsgericht Heidelberg hat Zweifel, ob eine Gesellschaft deutschen Rechts die Verlegung ihres Sitzes ins Ausland im deutschen Handelsregister eintragen lassen kann und dem Antrag der Antragstellerin folglich stattzugeben ist.

7. Zum einen führt das Amtsgericht aus, daß nach der deutschen Rechtsprechung und dem herrschenden Schrifttum in Deutschland in Bezug auf die Frage der Anerkennung von Gesellschaften die sog. Sitztheorie gelte. Dies bedeute, daß eine Gesellschaft nach der deutschen Rechtspraxis nur dann rechtlich existent sei, wenn sie in dem Staat, nach dessen Recht sie gegründet worden sei, auch ihren tatsächlichen Sitz habe. Die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft ins Ausland sei nach dieser Sichtweise zwingend mit der Auflösung und Liquidation der Gesellschaft, d.h. insbesondere mit dem Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit in Deutschland und ihrer Neugründung im Ausland verbunden. Nach – ungeschriebenem – deutschem internationalen Gesellschaftsrecht sei die beantragte identitätswahrende Sitzverlegung der Gesellschaft somit unzulässig und der Antrag der Antragstellerin, die Verlegung ihres Sitzes nach Spanien ins deutsche Handelsregister einzutragen, abzuweisen.

8. Zum anderen wirft das Amtsgericht Heidelberg die Frage nach der Auswirkung des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche internationale Gesellschaftsrecht auf. In diesem Zusammenhang seien die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften, Art. 43 EG i.V.m. Art. 48 EG, einschlägig. Sie könnten der deutschen Rechtspraxis entgegenstehen, Gesellschaften die identitätswahrende Sitzverlegung über die Grenze hinweg zu verbieten und in einem solchen Fall zur Auflösung und Neugründung im Ausland zu zwingen.

9. Unter diesen Umständen erscheint es dem Amtsgericht Heidelberg für seine Entscheidungsfindung erforderlich, den Gerichtshof zu befragen, ob die Art. 43 EG und 48 EG nationalen Praktiken, wie sie sich aus der Sitztheorie ergeben, entgegenstehen. Da es der Auffassung ist, daß sich die Antwort der Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere den Urt. v. 27.9.1988 – Rs. 81/87, Daily Mail und General Trust, Slg. 1988, 5483 und v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 = GmbHR 1999, 474, nicht entnehmen läßt, hat es folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

A. Gehört eine Sitzverlegung einer nach deutschem Recht wirksam errichteten und im deutschen Register eingetragenen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren alleinige Gesellschafterin eine spanische Firma ist, nach Spanien unter Wahrung der Identität zu den von den Art. 43 EG und 48 EG erfaßten Rechten?

B. Stehen die Art. 43 EG und 48 EG einer Regelung entgegen, die eine Sitzverlegung einer nach deutschem Recht wirksam errichteten und im deutschen Register eingetragenen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren alleinige Gesellschafterin eine spanische Firma ist, nach Spanien unter Wahrung der Identität verbietet?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

10. Ist der Gerichtshof für eine Klage offensichtlich unzuständig oder ist eine Klage offensichtlich unzulässig, so kann er gemäß Art. 92 § 1 der Verfahrensordnung (ABl. EG C 34 v. 1.2.2001, S. 3 ff.) nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluß entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist.

11. Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 234 EG, daß die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (EuGH v. 5.3.1986 – Rs. 318/85, Greis Unterweger, Slg. 1986, 955, Rz. 4; v. 19.10.1995 – Rs. C-111/94, Job Centre I, Slg. 1995, I-3361, Rz. 9, v. 12.11.1998 – Rs. C-134/97, Victoria Film, Slg. 1998, I-7023, Rz. 14; v. 14.6.2001 – Rs. C-178/99, Salzmann, Slg. 2001, I-0000, Rz. 14).

12. In der Rechtssache Job Centre I war das Vorabentscheidungsersuchen vom Tribunale civile e penale Mailand (Italien) gestellt worden. Es betraf einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft, der in Italien im Rahmen eines Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprüft wird. In Rz. 11 des Urteils stellte der Gerichtshof fest, daß er für die Vorabentscheidung nicht zuständig ist, da das Tribunale civile e penale, wenn es nach den geltenden nationalen Vorschriften in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Satzung einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register entscheidet, eine Tätigkeit ausübt, die keinen Rechtsprechungscharakter hat und mit der im übrigen in anderen Mitgliedstaaten Verwaltungsbehörden betraut sind. Es handele nämlich als Verwaltungsbehörde, ohne daß es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hätte.

13. In Rz. 11 des genannten Urteils führte der Gerichtshof weiter aus, daß nur dann, wenn die Person, die nach nationalem Recht ermächtigt ist, die Genehmigung zu beantragen, einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Genehmigung und damit der Eintragung einlegt, davon ausgegangen werden könne, daß das angerufene Gericht eine Rechtsprechungstätigkeit i.S.d. Art. 177 EG-Vertrag (jetzt Art. 234 EG) ausübt, die die Aufhebung eines Rechtsakts bezweckt, der ein Recht des Antragstellers verletzt.

14. In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß, daß das Amtsgericht den Gerichtshof in seiner Eigenschaft als das Handelsregister führende Behörde und im Rahmen eines Verfahrens, das eine Eintragung in dieses Register betrifft, um Vorabentscheidung ersucht.

15. Darüber hinaus läßt sich den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht entnehmen, daß vor der Anrufung des Gerichtshofes durch das Amtsgericht der Antragstellerin gegenüber eine Entscheidung ergangen wäre, gegen die ein Rechtsbehelf beimAmtsgericht eingelegt worden wäre. Das Amtsgericht ist daher die erste Behörde, die über den Antrag auf Eintragung der Verlegung des Sitzes der Antragstellerin zu entscheiden hat.

16. Daraus folgt, daß das Amtsgericht, das den Gerichtshof angerufen hat, um zu erfahren, ob die Entscheidung, die es nach deutschem Recht zu treffen hat, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, im Ausgangsverfahren eine Tätigkeit ausübt, die keinen Rechtsprechungscharakter hat.

17. In Anwendung des Artikels 92 § 1 der Verfahrensordnung ist daher festzustellen, daß der Gerichtshof offensichtlich nicht zuständig ist für die Beantwortung der ihm vom Amtsgericht Heidelberg vorgelegten Fragen.

Kosten

18. Die Auslagen der deutschen, der belgischen, der italienischen und der österreichischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim Amtsgericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

beschlossen:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der vom Amtsgericht Heidelberg in seinem Beschluß vom 3.3.2000 gestellten Fragen offensichtlich nicht zuständig.

 

* Leitsatz der Redaktion.

 

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