Dr. Joachim Englisch
Wissenschaftlicher Assistent
Köln*

Die Besteuerung grenzüberschreitender Kapitalgesellschaften in neuem Licht: EuGH "Manninen"

Spätestens seit der "Lankhorst Hohorst"-Entscheidung des EuGH zur deutschen "thin cap-rule" des § 8a KStG a.F. (EuGH v. 12.12.2002 -- Rs. C-324/00, GmbHR 2003, 44) ist die Bedeutung der europäischen Grundfreiheiten für das Ertragsteuerrecht der Kapitalgesellschaft und ihrer Anteilseigner ins Bewußtsein der Beraterschaft gerückt. Die überhastete Reaktion des unvorbereiteten Gesetzgebers hat seither Praxis und Wissenschaft in ganz erheblichem Ausmaß beansprucht. Sie hat aber auch den Blick dafür geschärft, daß eine Vielzahl weiterer Brandherde schwelen, bei denen die Flammen bald in ähnlicher Weise hochschlagen könnten. Zu nennen wären hier etwa die Hinzurechnungsbesteuerung, die grenzüberschreitende Organschaft, Betriebsstättenverluste und Einzelfragen des Körperschaftsteuersystems (näher z.B. Rödder, DStR 2004, 1629). Das jüngst ergangene Urteil des EuGH in der Rechtssache "Manninen" (EuGH v. 7.9.2004 -- Rs. C-319/02, GmbHR 2004, 1346 -- in diesem Heft) gibt Anlaß, die hierzu bisher geäußerten Standpunkte neu zu überdenken. Es markiert einen weiteren Meilenstein der ertragsteuerlichen Effektuierung der Grundfreiheiten und reicht in seinen Auswirkungen weit über den Vorlagegegenstand des finnischen Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahrens hinaus.

Als richtungweisende Elemente der "Manninen"-Entscheidung sind der Ausbau einer staatenübergreifenden Gesamtschau auf Tatbestands- wie Rechtsfertigungsebene, die Weiterentwicklung des Kohärenzprinzips sowie die wohl endgültige Verabschiedung vom Rechtfertigungsgrund der Territorialität zu nennen.

I. Staatenübergreifende Gesamtschau

Der EuGH hat bisher in der Diskriminierungsprüfung die objektive Vergleichbarkeit von Auslands- und Inlandseinkünften inlandsansässiger Steuerpflichtiger regelmäßig ohne weiteres bejaht, was vor dem Hintergrund der nationalen Entscheidung für das Welteinkommensprinzip nur konsequent ist. Dieser Grundsatz wird nun in Frage gestellt, wenn es heißt, Inlands- und Auslandsdividenden könnten "insbesondere" dann als unterschiedlich eingestuft werden, eine Ungleichbehandlung also grundfreiheitlich irrelevant sein, wenn das Ziel der Steuerregelung des Mitgliedstaats bereits durch Maßnahmen des anderen Mitgliedstaats gewährleistet sei (Rz. 34). Hätte im konkreten Fall der Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft die wirtschaftliche Doppelbesteuerung von Dividenden bereits vermieden, so der EuGH, dann hätte der Ansässigkeitsstaat des Gesellschafters diesen vom Anrechnungsverfahren ausschließen dürfen. Die Gefahr einer solchen staatenübergreifenden Betrachtung liegt zunächst darin, daß die nationalen Steuersysteme selten identisch ausgestaltet sind und dieselben Zielsetzungen in unterschiedlicher Weise verfolgen. Dies erzeugt Rechtsunsicherheit, denn es wird künftig von der Dichte der Formulierung des jeweiligen Regelungsziels durch den Gerichtshof abhängen, ob objektive Vergleichbarkeit anzunehmen ist. Am Beispiel Betriebsstättenverluste: Ermöglicht hier der Betriebsstättenstaat einen Verlustvortrag, so müßten sie aus grundfreiheitlichem Blickwinkel nur dann auch in die inländische Bemessungsgrundlage einbezogen werden, wenn man als Ziel des § 2 Abs. 3 EStG die sofortige Verlustverrechnung postuliert. Ansonsten genügte eine Berücksichtigung nur der Liquidationsverluste, die im Ausland endgültig nicht mehr ausgeglichen werden können. Davon abgesehen verfehlt eine solche Gesamtschau das grundfreiheitliche Gebot an jeden Mitgliedstaat, in seinem Hoheitsbereich für eine steuerliche Gleichbehandlung unabhängig von der Behandlung in anderen Mitgliedstaaten Sorge zu tragen (Kompensationsverbot). Sie liegt freilich auf einer Linie mit den Folgerungen in der Rechtssache "de Groot" (EuGH v. 12.12.2002 -- Rs. C-385/00, IStR 2003, 58, Rz. 100) und wird darum trotz ihrer Schwächen wohl auch künftig zu beachten sein.

Für die Gesellschafterbesteuerung ist dies etwa im Hinblick auf die neuen Gesellschafter-Fremdfinanzierungsregeln von Bedeutung. Die Auslegung des § 8a KStG n.F. durch die Finanzverwaltung, wonach bei fremdfinanzierten Auslandsbeteiligungen eine inländische Umqualifizierung von Zinszahlungen in Dividenden mit der Folge einer hälftigen bzw. gänzlichen Freistellung nur in Betracht kommt, soweit im Ausland ebenfalls umqualifiziert wird (vgl. BMF v. 15.7.2004 -- IV A 2 - S 2742a - 20/04, BStBl. II 2004, 593 = GmbHR 2004, 1106, Rz. 27), dürfte danach mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar sein. Bei fehlender ausländischer Umqualifizierung wird das "Entlastungsziel" von § 3 Nr. 40 EStG, § 8b Abs. 1 KStG nämlich schon durch die steuerliche Abziehbarkeit der Zinszahlungen auf Gesellschaftsebene erreicht.

II. Steuerliche Kohärenz

Eher beiläufig revidiert der EuGH ferner seinen bisherigen, formal-technischen Standpunkt zum Verständnis des Rechtfertigungsgrundes steuerlicher Kohärenz. Erstmals ist nun anerkannt worden, daß ein steuerlicher Vorteilsausgleich auch Steuersubjekt übergreifend anzuerkennen ist, wenn dies der Systematik nationalen Rechts entspricht. Konkret hat der EuGH festgestellt, daß die Anrechnung von Körperschaftsteuer beim Anteilseigner genau in der von der Gesellschaft entrichteten Höhe die Kohärenz des Körperschaftsteuersystems verbürgt (Rz. 45). Aus der Zusammenschau mit dem Urteil "Lenz" (EuGH v. 15.7.2004 -- Rs. C-315/02, IStR 2004, 522, Rz. 42) ergibt sich allerdings, daß dies nur für eine exakte Kompensation gelten soll; wie auch bei Mißbrauchsbekämpfungsnormen läßt der EuGH den Mitgliedstaaten damit praktisch keinen Spielraum für Typisierungen. Von der -- verfehlten -- These einer "Verlagerung" der Kohärenz auf die DBA-Ebene, welche den allgemeinen Rechtfertigungsgrund ausschließen soll (vgl. EuGH v. 11.8.1995 -- Rs. C-80/94 -- "Wielockx", Slg. 1995, I-2493, Rz. 24 f.), hat sich der EuGH offenbar ebenfalls still und leise verabschiedet.

Scheint das traditionelle Kohärenzargument damit auf den ersten Blick erheblich aufgewertet, so erweist sich dies im folgenden jedoch als trügerisch: In der anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung führt der EuGH nämlich die schon auf Tatbestandsebene praktizierte, staatenübergreifende Gesamtschau fort und sieht als kompensationswürdigen Nachteil auch eine ausländische steuerliche (in concreto: Körperschaftsteuervor-) Belastung an (vgl. Rz. 45 ff.). Verhältnismäßig kann ein kohärenter inländischer Ausgleichsmechanismus nur dann sein, wenn er die steuerliche Gesamtbelastung in beiden involvierten Mitgliedstaaten in den Blick nimmt und sie einheitlich auf das allgemeine inländische Belastungsniveau zurückführt. So soll es offenbar gerechtfertigt sein, verminderte Anrechnungsguthaben für ausländische Dividenden zu gewähren, soweit auch die ausländische Körperschaftsteuer-Vorbelastung niedriger ist; hiervon sind in Deutschland noch offene Altfälle des Dividendenbezugs unter Geltung des abgeschafften Anrechnungsverfahrens betroffen. Für eine nähere Erörterung der damit einhergehenden Fragestellungen sei auf die Anm. von Englisch, IStR 2004, 684 verwiesen. In Sicherheit wähnen sollte sich der Gesetzgeber allerdings auch beim Halbeinkünfteverfahren nicht: Die EU-Kommission hat zu Recht angemahnt, daß beschränkt steuerpflichtige Gesellschafter im Quellenstaat nicht durch Abgeltungssteuern um dessen Anwendung gebracht werden dürfen (Mitteilung KOM [2003] 810 endg.). Hier stellt sich allerdings die spannende Frage, ob dies nach "Manninen" auch dann noch gilt, wenn der Ansässigkeitsstaat ebenfalls einen "shareholder relief" gewährt.

Der an inländischer Belastungsgleichheit orientierte Kohärenzgedanke der "Bachmann"-Entscheidung (EuGH v. 28.1.1992 -- Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249, Rz. 23) ist im "Manninen"-Urteil letztlich zum Grundsatz supranationaler Belastungsgleichheit unter den Bedingungen der Kapitalexportneutralität mutiert. Diese neue Kohärenzbetrachtung bringt nun allerdings für Gesellschafter in einem Hochsteuerland wie Deutschland einen gravierenden Nachteil mit sich: Sie bricht mit dem Dogma des Verbots einer Berufung auf ausländische Minderbelastungen zur Rechtfertigung inländischer Mehrbelastungen. Denn wenn ausländische Minderbelastungen für diskriminierende, weil geringere inländische Steuerentlastungen herhalten können, ist nicht ersichtlich, wieso sie nicht auch diskriminierende Mehrbelastungen rechtfertigen sollten. Die Hinzurechnungsbesteuerung nach §§ 7 ff. AStG erscheint damit als im Ansatz rechtfertigungsfähig und könnte nur noch unter Hinweis auf die fehlende Kompensation der damit verbundenen zeitlichen Vorverlagerung der Gesellschafterbesteuerung europarechtlich in Frage gestellt werden.

III. Territorialitätsprinzip

Von ähnlicher Tragweite sind schließlich die Ausführungen zur steuerlichen Territorialität. Von manchen als besondere Ausprägung einer zwischenstaatlichen "Makro-Kohärenz" dahingehend interpretiert, daß steuerliche Gewinn- und Verlustzuweisung einander entsprechen müßten, wird dieser Grundsatz vom EuGH jedenfalls im Ansässigkeitsstaat als de facto unanwendbar deklariert. Denn er soll dann nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden können, wenn Auslands- und Inlandseinkünfte objektiv vergleichbar sind (vgl. Rz. 39). Da es nur dann auf eine Rechtfertigung überhaupt ankommen kann, wird das Territorialitätsprinzip künftig allenfalls noch für die Ausgestaltung der beschränkten Steuerpflicht im Quellenstaat Relevanz erlangen. Dahinter dürfte die Überlegung stehen, daß die Mitgliedstaaten für ihre Ansässigen "Inseln der Territorialität" im Meer des Welteinkommens freiwillig durch unilaterale oder bilaterale Maßnahmen schaffen, ohne dazu wie bei Nichtansässigen durch völkerrechtliche Grundsätze verpflichtet zu sein. Der EuGH ist nun aber offensichtlich nicht gewillt, die Durchsetzung der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote auf diese Weise mittelbar ins Belieben der Mitgliedstaaten zu stellen. Daß die Verteilungswirkungen der DBA, die oft maßgeblich auf tradierten Diskriminierungen aufbauen, dadurch aus den Fugen geraten, wird von ihm in Kauf genommen. Nun ist gerade das steuerliche Territorialitätsprinzip das Hauptargument vieler Mitgliedstaaten zur Versagung eines grenzüberschreitenden Verlustausgleichs, und insbesondere gegen die EG-rechtliche Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Organschaft. Die "Manninen"-Entscheidung läßt daher erwarten, daß die bereits anhängigen Verfahren (insbesondere die Rechtssache "Marks & Spencer" zum britischen "group relief") im Sinne der Steuerpflichtigen entschieden werden. Deutschland sollte dies nicht tatenlos abwarten, sondern am Beispiel Österreichs das drohende Verdikt aus Luxemburg als Chance zur Neugestaltung einer international wettbewerbsfähigen Gruppenbesteuerung begreifen. Insoweit bestätigt sich einmal mehr, daß die Grundfreiheiten einer nationalen Abschottungspolitik entgegenstehen und dazu zwingen, sich dem internationalen Steuerwettbewerb aktiv zu stellen.

 

* Institut für Steuerrecht, Universität zu Köln.

 


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