Dr. Jens Kleinert / Nikolai Schwarz, LL.M.*

Droht vom EuGH ein neues "Daily Mail"?

Neue Vorlage zu Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit beim Wegzug in anderen EU-Staat

Eine neues Vorlageverfahren des ungarischen Regionalgerichts Szeged v. 20.4.2006 (Az. beim EuGH: Rs. C-210/06 -- Cartesio), ZIP 2006, 1536 = EWiR Art. 43 EG 1/06, 459 (Neye) zu gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen lässt aufhorchen. Die nach ungarischem Recht gegründete Cartesio KG wurde in 2004 im Handelsregister eingetragen. Der im Handelsregister eingetragene Verwaltungssitz war zunächst in Baja (Ungarn), Koksis Pál u. 3/c. Komplementär bzw. Kommanditist war ein ungarisches Ehepaar. Nach dem Recht Ungarns wird der Sitz einer KG zwingend durch den Ort der Hauptverwaltung bestimmt. In 2005 erklärte die Gesellschaft gegenüber dem ungarischen Registergericht, sie habe ihren Verwaltungssitz nach Italien verlegt, und beantragte daher, den Wechsel des Verwaltungssitzes in das ungarische Handelsregister einzutragen. Das Gericht lehnte die Eintragung ab, da im ungarischen Recht eine Regelung über die Sitzverlegung fehle. Die europäische Niederlassungsfreiheit, Art. 43 u. 48 EG, gewähre mangels Harmonisierung derzeit auch noch keine entsprechende Rechtsgrundlage. Gegen diese Entscheidung legte Cartesio unter Hinweis auf Art. 43, 48 EG Berufung beim Regionalgericht ein und regte eine Vorlage zum EuGH an. Dieser Anregung ist das Berufungsgericht nachgekommen.

Festhalten an "Daily Mail"…

Dieses Vorlageverfahren lässt hoffen. Knapp 20 Jahre ist es her, dass der EuGH im Jahre 1988 in der Rs. Daily Mail, in der es sich wie in der Rs. Cartesio um einen sog. Wegzugsfall handelte, ausführte: Der EWG-Vertrag betrachte die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeit und ggf. der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder des wahren Sitzes (Verwaltungssitzes) einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die Bestimmungen der Niederlassungsfreiheit nicht gelöst seien, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses bedürften. Eine derartige Lösung sei aber in 1988 noch nicht gefunden gewesen. Daher, so der EuGH in Daily Mail, gewährten Art. 52 u. 58 EWG-Vertrag (jetzt Art. 43 u. 48 EG) den Gesellschaften nationalen Rechts nicht das Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung (Verwaltungssitz) unter Wahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaft des Mitgliedstaats ihrer Gründung (identitätswahrend) in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.

... nach Centros, Überseering und Inspire Art ...

Der EuGH hatte in den Rs. Centros, Überseering und Inspire Art, bei denen es sich allesamt nicht um sog. Weg-, sondern um sog. Zuzugsfälle handelte, keine Veranlassung klarzustellen, ob er an der in Daily Mail vertretenen Auffassung weiterhin festhalte. Indessen wird er in der Rs. Cartesio nicht umhinkommen, eindeutig Stellung zu beziehen. Die europarechtliche Rechtslage, die 1988 galt, ist mit der heutigen identisch. Insbesondere fehlen auch heute noch Übereinkünfte der Mitgliedstaaten untereinander, welche i.S.d. Art. 293, 3. Spiegelstrich EG die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen regeln. Dennoch besteht die begründete Hoffnung, dass der EuGH diesmal genau anders und damit zugunsten eines extensiven Verständnisses der Grundfreiheiten entscheidet.

... sowie Sevic?

Hierfür spricht zum einen die Tatsache, dass der EuGH seit 1988 in sehr vielen Fällen und in konsequenter Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zugunsten der grundfreiheitenberechtigten natürlichen Personen und/oder der diesen gleichgestellten Gesellschaften und damit gegen die betroffenen Mitgliedstaaten entschieden hat. Jüngstes und eindrucksvollstes Beispiel ist seine Entscheidung v. 13.12.2005 in der Rs. Sevic. Auch dort hat der EuGH in einem Fall betreffend die grenzüberschreitende Hereinverschmelzung betont, die Existenz von Harmonisierungsvorschriften sei keine Vorbedingung für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit. Da sowohl die grenzüberschreitende Verschmelzung als auch die grenzüberschreitende Sitzverlegung in Art. 293, 3. Spiegelstrich EG genannt sind, ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der EuGH in dem hier zu besprechenden Fall Cartesio anders entscheiden sollte, als er in der Rs. Sevic bereits entschieden hat.

Gleiches Recht für Gesellschaften und natürliche Personen

Es ist im Übrigen auch kein Grund ersichtlich, weshalb er in der Sache nicht anders entscheiden bzw. -- anders gewendet -- an Daily Mail festhalten sollte. Liest man den Wortlaut des Art. 48 EG, so fragt man sich ohnehin, wie es zu Daily Mail überhaupt kommen konnte: In Art. 48 EG steht ausdrücklich geschrieben, dass für Zwecke der Niederlassungsfreiheit die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb des Gemeinschaftsgebiets haben, den natürlichen Personen gleichstehen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Auf den Fall angewandt bedeutet dies: Cartesio ist nach dem Recht des Mitgliedsstaat Ungarn gegründet. Cartesio wird -- auch nach Verlegung ihrer Hauptverwaltung (Verwaltungssitz) nach Italien -- ihren Satzungssitz weiterhin in Ungarn haben, und zudem ihren Verwaltungssitz im Mitgliedstaat Italien. Damit ist Art. 48 EG tatbestandlich erfüllt. Denn Art. 48 EG verlangt -- wie auch das vorlegende Berufungsgericht ausdrücklich hervorhebt und sich aus der Konjunktion "oder" zweifelsfrei ergibt --, dass der Verwaltungssitz der Gesellschaft sich im Gründungsmitgliedstaat befindet.

Die Rechtsfolge von Art. 48 EG ist eindeutig: Die Gesellschaft steht natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind. Natürliche Personen, die entweder in einem Mitgliedsstaat der EU geboren werden (ius soli) oder aber Abkömmlinge eines Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats sind (ius sanguinis), sind aber gemäß Art. 17 Abs. 1 EG auch automatisch zum einen Angehörige dieses Mitgliedsstaats und zugleich EU-Bürger. Niemand käme auf die Idee, einer natürlichen Person, die z.B. in Deutschland geboren ist, damit deutscher Staatsangehöriger ist und dann später -- nach Wohnsitznahme in Italien -- beim für sie zuständigen Einwohnermeldeamt -- analog einem dt. Handelsregister -- die Eintragung ihres neuen italienischen Wohnsitzes in den deutschen Reisepass (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 9 PassG bzw. § 1 Abs. 2 Nr. 8 PAuswG) zu verweigern. Entsprechend würde man dieser Person nicht vorhalten, sie sei aufgrund ihres Umzugs von Deutschland nach Italien nunmehr kein deutscher Staatgehöriger mehr; wollte sie deutscher Staatsangehöriger bleiben, müsse sie ihren Wohnsitz vielmehr von Italien nach Deutschland zurückverlegen. Im Übrigen ist ein inländischer Verwaltungssitz auch nicht notwendig, um die Anwendbarkeit des Gründungsrechts des Herkunftsmitgliedstaats zu gewährleisten, da die Gesellschaft solange, wie sie ihren Satzungssitz im Herkunftsmitgliedstaat nicht aufgibt, ohnehin nach der vom EuGH favorisierten Gründungstheorie (Centros, Überseering, Inspire Art) sowie nach der von der EU-Kommission vertretenen Auffassung (Öffentliche Konsultation betreffend die 14. EU-Richtlinie, sog. Sitzverlegungsrichtlinie, Tz. 3 UAbs. 2 S.2, zu laden über http://ec.europa.eu/internal_market/company/seat-transfer/2004-consult_de.htm) dessen Recht unterliegt. Ergo: Steht die Gesellschaft der natürlichen Person gleich, was gemäß Art. 48 EG ausdrücklich der Fall ist, so muss denklogisch der Ausgang der Rs. Cartesio sein, dass ihr das Recht zusteht, identitätswahrend ihren Verwaltungssitz von Ungarn nach Italien zu verlegen.

Ländergrenzen spielen keine Rolle

Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Grundfreiheiten vorrangig nur einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung gewähren und es allen ungarischen Gesellschaften -- nicht nur Cartesio -- nach ungarischem Recht verwehrt ist, den Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedsstaat zu verlegen. Denn die Grundfreiheiten gewähren neben dem Anspruch auf Inländergleichbehandlung spiegelbildlich auch gegenüber dem Herkunftsmitgliedstaat das Recht, von dort wegzuziehen, sich in einem anderen Mitgliedsstaat niederzulassen und sich dort zu entfalten (vgl. z.B. Rs. C-9/92 -- de Lasteyrie du Saillant, Rz. 42). Daher darf es europarechtlich vor dem Hintergrund des bestehenden gemeinsamen Binnenmarkts keine unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, ob Cartesio seinen Verwaltungssitz nur innerhalb Ungarns verlegt hätte oder aber -- wie vorliegend -- von Ungarn in den Mitgliedstaat Italien verlegt hat. Ländergrenzen spielen im europäischen Binnenmarkt keine Rolle.

Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH die durch die Rs. Cartesio eröffnete Gelegenheit nutzt und sich von seinen im Jahre 1988 in der Rs. Daily Mail getroffenen Aussagen deutlich distanziert. Die jüngsten Urteile des EuGH v. 12.9.2006 -- Rs. C-196/04 -- Cadbury Schweppes, GmbHR 2006, 1049 m. Komm. Kleinert (dazu auch Wassermeyer/Schönfeld, GmbHR 2006, 1065 -- in diesem Heft) zur britischen Hinzurechungsbesteuerung bzw. insbesondere EuGH v. 7.9.2006 -- Rs. C-470/04 -- N, GmbHR 2006, 1111 (LS) -- in diesem Heft (Volltext) zur niederländischen Wegzugsbesteuerung geben insoweit begründeten Anlass zur Hoffnung.

 

* Dr. Jens Kleinert ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht; Nikolai Schwarz, LL.M. (VUW) ist Rechtsanwalt, beide Dewey Ballantine LLP, Frankfurt a. M.



Zurück