Dr. Jobst-Joachim Neuss, Luxemburg*

Stochern im Schwarzen Loch -- Gedanken zur Krise der Finanzmärkte

Hartnäckige Weltuntergangsängste begleiteten die spektakuläre Inbetriebnahme des Teilchenbeschleunigers im Genfer CERN: ein Erfolg auf der Suche nach dem Ursprung des Universums, so grauste es die Propheten, könnte die uns bekannte Welt in einem künstlichen schwarzem Loch verschlucken.

Die Finanzwelt war schneller.

Zahlungsschwierigkeiten überschuldeter "Häuslebauer" im amerikanischen Mittelwesten mündeten in eine rasante Kettenreaktion, die den Kern des amerikanischen Bankenwesens schmelzen ließ und haben begonnen, auch europäische Finanzhäuser in das schwarze Loch zu ziehen, das mitten auf der Wall Street renommierte Namen wie Lehmann, Merill Lynch oder den Versicherungsriesen AIG von einem auf den anderen Tag gleichsam zur "Happy Hour" schlürfen konnte. Gigantische Mittel werden zu Rettungsmaßnahmen bereitgestellt, Banken verstaatlicht, eine Krisensitzung jagt die andere. Island steht vor dem Staatsbankrott, in Deutschland werden verschiedenerlei Schirme über dem Anleger aufgespannt und mysteriöse "Pläne B" geschmiedet.

Hinterher wollen alle es gewusst haben.

Intensiv wird über Heuschrecken, Sub-Primes und Credit Default Swaps sowie über tölpelhafte Banker gefachsimpelt, die von nichts noch weniger Ahnung hätten als ihre Kritiker im Nachhinein beweisen. Politiker klagen über mangelnde Finanzregeln, Weltökonomen fordern eine Weltfinanzaufsicht, im Dutzend werden gerade noch hoch gelobte Vorstände aus ihren Sesseln gekegelt.

 

Kreditverbriefung: des Zauberlehrlings Besen

Im Mittelpunkt steht nicht zuletzt eine Finanzierungstechnik, die in Deutschland als Kreditverbriefung angewandt wird: Kredite an Endkreditnehmer werden über die Ausgabe von Anleihen auf den Finanzmärkten breit gestreut.

Mit Hilfe dieser Finanzierungstechnik wird ein ursprüngliches Kreditrisiko in "strukturierten" Anleiheemissionen dargestellt, die auf den internationalen Kapitalmärkten platziert werden. Diese Anleihen sind ausschließlich forderungsbesicherte Wertpapiere (nach dem englischen Fachbegriff "asset backed securities" oder "ABS"), deren Rückzahlung und Zinsendienst durch die korrespondierenden Zahlungsströme aus dem Kreditportefeuille definiert werden. "Strukturiert" werden diese Emissionen deshalb genannt, weil sie in Risikotranchen eingeteilt werden: internationale Ratingagenturen schichten das durchschnittliche Kreditausfallrisiko des gegenständlichen Kreditportfolios in hierarchisch gegliederte Risikoklassen, wobei das beste Risiko (das sog. "AAA"-Rating) für den Anleger auch am teuersten (oder am wenigsten rentabel) ist, wohingegen die Renditen der Emissionen steigen, je höher das Risiko ist. Die "ungerateten" Tranchen versprechen hohen Ertrag sind aber von Zahlungsausfällen im ursprünglichen Kreditportefeuille zuerst betroffen; je umfangreicher diese Zahlungsausfälle zu Buche schlagen, desto höher "schleicht" sich das Ausfallrisiko in der Hierarchie der Anleihetranchen.

Zwei grundsätzliche Verbriefungstechniken werden auf den internationalen Finanzmärkten angewandt: In der "true sale"-Verbriefung wird das ursprüngliche Kreditportefeuille auf eine Zweckgesellschaft ohne Eigenvermögen ("special purpose vehicle" oder "conduit") übertragen, deren einziger Gesellschaftszweck der Erwerb eines oder mehrerer Kreditportefeuilles auf der einen Seite und die Begebung von strukturierten Anleihen zur Finanzierung ebendieses Erwerbs auf der anderen Seite ist; es kommt also rechtlich zu einem Forderungsübergang aus dem ursprünglichen Kreditverhältnis, Gläubiger ist nicht mehr die kreditierende Bank, sondern die Zweckgesellschaft. Die "synthetische" Verbriefung lässt die ursprünglichen Rechtsbeziehungen unverändert; auch hier wird das Kreditportefeuille mit Hilfe von Ratingagenturen strukturiert und Anleihen auf die einzelnen Risikoklassen emittiert, jedoch veräußert die kreditvergebende Bank nicht die zugrunde liegende Kreditforderung, sondern nur das korrespondierende, strukturierte Kreditrisiko über "Credit Default Swaps", vergleichbar einer Kreditversicherung. Hier gilt, dass der Preis für einen solchen Verkauf, die "Swap-Prämie" umso höher ist, je höher das übertragene Risiko ist.

Sequenz und Ziel der Kreditverbriefung lässt sich somit wie folgt darstellen: zunächst wird ein "horizontales", d.h. über das Kreditportefeuille verteiltes Risiko in ein "vertikales" Risiko umgewandelt, dessen Risikohierarchie die Ausfallwahrscheinlichkeit abbildet. Dies ist notwendig, will man Kreditportefeuilles in marktgängige Wertpapiere "übersetzen", die ihrerseits an Börsen platziert werden können. Die Börsenplatzierung wiederum ermöglicht eine erhebliche Streuung des ursprünglichen Risikos.

Vor allem aber ist das ursprüngliche Kreditrisiko des Portefeuilles sowohl im Falle der "true sale" Kreditverbriefung als auch im Falle der synthetischen Kreditverbriefung mindestens weitgehend (häufig übernehmen die kreditvergebenden Banken das "first loss", d.h. das höchste Ausfallrisiko ihres ursprünglichen Portefeuilles) aus den Bilanzen der kreditvergebenden Bank verschwunden und findet sich auf den internationalen Anleihemärkten wieder. Da nach den international gültigen Eigenkapitalvorschriften die Kreditforderungen jeder Bank durch das Vorhalten von festgeschriebenen Eigenkapitalquoten gedeckt werden müssen, ermöglicht diese "Befreiung" der Bankenbilanz, zusätzliche Kreditvergaben, die ohne diese komplexen Finanzierungstechniken nur durch zusätzliches Eigenkapital möglich gewesen wären.

Damit aber steht einer -- grundsätzlich risikoreduzierend wirkenden -- Risikostreuung auf der einen Seite, eine Risikovervielfältigung auf der anderen Seite gegenüber. Und auch der segensreiche Effekt der Risikostreuung durch die Börsenplatzierung wurde dadurch in Frage gestellt, dass die Beliebtheit des Verbriefungsinstruments eine unübersichtliche Vernetzung der letztendlichen Risikoträger zur Folge hatte.

 

Sub-Primes: was niemand wollte und viele bekamen

Die Krise der sog. Sub-Primes war zunächst nichts anderes als eine "klassische" Krise eines lokalen Marktsegments, auf dem Hypothekenkredite nicht auf der Grundlage der Finanzkraft des Kreditschuldners oder der Werthaltigkeit von kreditunabhängigen Sicherheiten begeben wurden, sondern nahezu ausschließlich in Erwartung der Wertentwicklung ebenjener kreditfinanzierten Immobilie -- mit anderen Worten: ein Scheck auf die Zukunft, der irgendwann einmal platzen musste und dies bei steigenden Zinsen auch tat. Nur lag das Risiko aus den Sub-Prime Finanzierungen inzwischen längst nicht mehr bei den kreditvergebenden Banken, sondern war im Wege der Kreditverbriefung weitflächig auf den internationalen Finanzmärkten verteilt und von institutionellen Anlegern, vor allem Investmentbanken übernommen worden die neben Sub-Prime unterlegten Anleihen noch umfangreiche weitere "ABS"-Bestände hielten: ABS-Emissionen wurden im Zeichen eines zehnjährigen Booms zu einem Refinanzierungsinstrument für Banken, vorbei an der klassischen, aber teuren und letztlich auch nur begrenzt verfügbaren Refinanzierung über Kapitalerhöhung oder Zentralbankmittel.

Mit dem Zusammenbruch des Sub-Prime-Markts wurde gleichsam ein Bierdeckel aus dem komplizierten Turm gezogen, den zu viele Zauberlehrlinge auf dem Wirtshaustisch aufgebaut hatten. Die Folge war zunächst eine Vertrauenskrise im U.S.-Finanzsektor, die sich ausweitete und zwangsläufig Folgen für die Wertpapierratings hatte; Verschlechterungen in Ratings jedoch verstärken die Vertrauenskrise, die Kreditvergabe unter den Banken bricht zusammen, der Kreislauf liquider Mittel im Interbankenverkehr kommt zum Erliegen. In einer Zeit des schnellen Geldes jedoch, da viele Banken langfristige Forderungen kurzfristig refinanzieren, wirkt diese Liquiditätsknappheit verheerend. Der Geldkreislauf wird zum Malstrom, in dessen Sog noch andere Leichen aus den Kellern der Finanzinstitute an die Oberfläche gespült werden.

 

Das Placebo Regulierung

Der Ruf nach verstärkter, internationaler, gar weltweiter Regulierung indessen übersieht den katalytischen Einfluss, den gerade die existierende Regulierung auf die internationale Finanzkrise hatte. Nicht zuletzt verstärkte und international standardisierte Eigenkapitalvorschriften waren es, die eine Eigenkapitalentlastung durch Kreditverbriefung für Finanzinstitute so interessant machten.

Man muss sich auch von der Vorstellung lösen, dass die verbrieften Kreditportefeuilles und damit die Zahlungsverpflichtungen aus den Anleihen mit einem Schlag notleidend geworden wären. Neue Bewertungsvorschriften, vor kurzem noch gerühmt ob ihrer Transparenz, zwingen Finanzinstitute jedoch, ihre Vermögenswerte unabhängig von der jeweiligen Fälligkeit grundsätzlich zum Marktwert zu bilanzieren. In einer Vertrauenskrise des eben erlebten Ausmaßes indessen kann diese Vorschrift zu einer Unterbewertung nicht fälliger Vermögenswerte zwingen, was die Spirale des Vertrauensverlusts noch einmal beschleunigt. In diesem Zusammenhang war es durchaus aufschlussreich zu lernen, dass kein geringerer als der französische Staatspräsident in seiner Touloner Rede diese, nicht etwa von Hedgefonds, sondern von der ehrwürdigen Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich -- mithin der Bank der Zentralbanken -- ganz im Sinne der Bilanzwahrheit geforderten Transparenzvorschriften als "Wahnsinn" geißelte.

Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die vor allem in Mitleidenschaft gezogenen U.S.-Investmentbanken einer wesentlich strengeren Aufsicht durch die SEC unterliegen, als z.B. die kleinen und mittleren lokalen U.S.-Hypothekenbanken, deren Kreditvergabe am Anfang der Sub-Prime-Krise standen. Allerdings ist das Geschäftsmodell der U.S.-Investmentbanken eine Monokultur: die Diversifizierung durch ein starkes Privatkundengeschäft, welche europäischen Universalbanken im Kampf gegen die Krise hilft, fehlt – ursprünglich eine Folge der Reaktion des U.S.-amerikanischen Gesetzgebers auf die große Depression von 1929 ...

Regulierung macht Märkte meist nicht einfacher, sondern eher komplizierter, nicht zuletzt, weil jedwede Regulierung unweigerlich die Phantasie von Bankern und Anwälten anregt. Transparenz scheint eher als Regulierung ein geeignetes Schlüsselwort zu sein, um die Lehren aus dem Desaster zu beschreiben: die unkontrollierte Vervielfältigung von Risiken und Risikoträgern im Rahmen der Kreditverbriefung hatte letztlich zur Folge, dass die ursprünglich verbrieften Kreditrisiken nicht mehr zugeordnet werden konnten -- sie hatten sich ebenso verselbständigt wie des Zauberlehrlings Besen.

 

Mittelstandsfinanzierung: der Nutzen von Innovation

Fraglich erscheint es insbesondere, pauschal bestimmte Finanzierungstechniken zu verteufeln, die ihre Berechtigung in einem komplex strukturierten, globalisierten Finanzmarkt haben und die in den vergangenen Jahren wichtige Impulse für die Mittelstandsfinanzierung in Deutschland geben konnten. Kreditverbriefungs-"Plattformen", welche in Zusammenarbeit zwischen der KfW und namhaften deutschen Banken entwickelt und mit Garantien des Europäischen Investitionsfonds unterlegt wurden, erweiterten den Spielraum deutscher Banken für die Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen beträchtlich. Diese Transaktionen nutzten sowohl den Effekt der Risikostreuung als auch die Möglichkeit der Kapitalentlastung, welche durch die Verbriefungstechnik geboten wurden um zusätzliche Kreditfazilitäten für den deutschen Mittelstand zu öffnen. Im Rahmen der PROMISE-Plattform organisierte die KfW spezielle Mittelstandskreditverbriefungen für ein Gesamtvolumen seit dem Jahr 2000 von nahezu 34 Mrd. €; insgesamt betrug der Anteil von Mittelstandskreditverbriefungen am gesamten Verbriefungsmarkt in Deutschland noch 2008 25 %. Im Mittelpunkt dieser Transaktionen standen allerdings Kredite, die nach klassischen Bewertungskriterien vergeben worden waren und Portfolios, deren Ausfallwahrscheinlichkeiten durch Finanzmodellrechnungen simuliert wurden: solche Schecks werden nicht auf die Zukunft, sondern auf bankmäßig vorgenommene Vergangenheitsanalyse ausgestellt. Dass auch eine solche Analyse einmal fehlgehen kann, steht außer Frage, doch dieses klassische Finanzierungsrisiko ist kaum vergleichbar mit der kettenbriefartigen Spekulation auf einen immer wachsenden Markt, welche die Sub-Prime Kredit charakterisierte.

 

Was an Fragen übrig bleibt

Die jüngsten Entwicklungen lassen, bei Lichte besehen, einige Fragen offen, die zu stellen nicht notwendig politisch korrekt sein mag: so bleibt unklar ob dem staatlichen Sparerschutz im großen Stil wirklich die drohende Massenpanik des Publikums gegenüber steht, Steinbrücks Schirm also wirklich das Gewitter vorwegnimmt: es ist Kreditkrise, aber -- geht jemand hin? Auch liest man wenig vom Schicksal der Investmentfonds, die während der langen Erfolgssträhne der Finanzmärkte von den Sparern mit Milliardenbeträgen gefüttert wurden. Die Frage nach Spekulationen auf fallende Börsenkurse und deren Rolle bei der Beschleunigung ebendieses Kursniedergangs wird kaum gestellt. Und schließlich mag man durchaus darüber nachdenken, ob all die Banken, die untergingen oder Signalraketen feuern mussten, für den Kurs der vergangenen Jahre wirklich seetüchtig waren.

Doch -- hinterher wollen es eben alle gewusst haben.

CERN wurde erst einmal abgeschaltet: das Schwarze Loch muss warten. Und auch Wall Street wird aus der Asche neu entstehen, wenn gerade der angeprangerte Kapitalismus seine inhärenten Qualitäten einmal mehr zur Geltung gebracht haben wird: die Fähigkeit zur selbstkritischen Korrektur im Zusammenspiel von Markt und Gesetz.

 

 

 

*              Compliance, Europäischer Investitionsfonds.

 

 

 

 

 



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