EUROPÄISCHE UNION

Peter M. Wiesner,
Rechtsanwalt, Brüssel (BDI)

Fundgrube der globalen Reformdebatte -- zum Endbericht der "Expertengruppe über Gesellschaftsrecht und Unternehmensführung" (sog. Winter-Gruppe)

Hektischen Aktionismus bei der Angleichung des europäischen Gesellschaftsrechts kann man der EU-Kommission nicht vorwerfen. Das hat zwar so auch niemand von ihr verlangt. Seit langem sind sich alle Beteiligten aber darin einig, daß es noch gravierende legislative Lücken zu schließen gilt.

Die Auswertung der ca. 120 Antworten auf ein Konsultationsdokument (Moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen für Europa: Ein Konsultationspapier der Hochrangigen Expertengruppe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, Brüssel, 25.4.2002,
http://europa.eu.int/comm/internal_market/fr/company/company/modern/index.htm;
dazu s. Paulina Dejmek, GmbHR 2002, R 219) der Hochrangigen Expertengruppe, die Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein im letzten Jahr eingesetzt hatte ("Winter-Gruppe"), hat nun gezeigt, daß sich an diesen Defiziten nichts geändert hat. Beim Ausfüllen des Fragebogens blieb ein gewisses Déja-vu-Gefühl nicht aus. War da nicht schon einmal eine ähnliche Konsultationsrunde? Und richtig, fünf Jahre ist es her, als die Kommission viele der jetzt angesprochenen Problemfelder schon einmal abgefragt hatte.

In einer Zusammenfassung der damaligen Umfrage (Europäische Kommission, Konferenz zu Binnenmarkt und Gesellschaftsrecht, Dezember 1997) kam die Kommission u.a. zu dem Schluß, daß fast alle Vertreter aus Praxis, Wissenschaft und Regierungen eine Beseitigung der noch immer bestehenden Mobilitätsschranken im Binnenmarkt für überfällig hielten. Auch über eine Rechtsvereinfachung, über die Schaffung rechtlicher Voraussetzungen zum Einsatz moderner Kommunikationsmethoden und der grenzüberschreitenden Stimmrechtsausübung bestand bereits damals breiter Konsens.

Statt gesetzgeberischer Initiativen haben seither Expertengruppen die Brüsseler Bühne besetzt. Eine sog. SLIM-Gruppe gab Ende 1999 Anregungen zur Deregulierung der 1. und 2. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie (Ergebnisse der vierten Phase der SLIM-Initiative, KOM(2000) 56 end). Zwei Jahre später wurde der Winter-Gruppe das Mandat erteilt, darüber erneut und über einen weiteren gesellschaftsrechtlichen Modernisierungsbedarf nachzudenken. Der Endbericht liegt nun vor (Report of the High Level Group of Company Law Experts on a modern regulatory framework for company law in Europe, Brüssel, 4. November 2002. Fundstelle:
http://europa.eu.int/comm/internal_market/en/company/company/modern/consult/report_en.pdf).

Die Experten sprechen 60 Empfehlungen aus. Nach einem ersten Schock über die schiere Menge beginnt der Leser des 165 Seiten umfassenden englischsprachigen Dokuments -- die deutsche Fassung erscheint pünktlich zum Ablauf der Konsultationsfrist Ende des Jahres -- zu realisieren, daß die Experten bemüht waren, den Regulierungsaufwand in Grenzen zu halten. Sie gehen von dem richtigen Ansatz aus, daß Transparenz vor Regulierung steht. Haben sie dabei auch die Grenzen dieses Prinzips bedacht? Wenn der Anleger -- ähnlich wie der Verbraucher mit seinen Beipackzetteln -- von der Fülle der Informationen erschlagen wird, beginnt die Transparenz in ihr Gegenteil umzuschlagen.

Vernünftig ist die Empfehlung, neben den vielen nationalen Corporate Governance-Kodex nicht auch noch einen europäischen Superkodex zu kreieren. Die empfohlene Offenlegung der Managementgehälter auf individueller Basis scheint sich zu einem anerkannten Standard zu entwickeln. Wirklichen Informationswert für den Anleger hat indessen nur der gewinnmindernde Gesamtausweis. Eine jährliche Diskussion über die Gehaltspolitik in der Hauptversammlung nach anglo-amerikanischem Vorbild entspricht nicht dem deutschen System, das Gehaltsfragen dem Aufsichtsrat zuweist.

Die Empfehlungen zur Abschlußprüfung heben sich wohltuend ab von den überzogenen Anforderungen der neuen US-amerikanischen Börsengesetzgebung und entwickeln die europäischen Standards fort. Für die Richtigkeit der Bilanzberichte soll der Gesamtvorstand verantwortlich sein, für die nähere Ausgestaltung bleibt der nationale Gesetzgeber zuständig. Die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder wird künftig an schärferen Kriterien gemessen.

Die strengen Regeln des kontinentaleuropäisch geprägten Systems der Kapitalaufbringung und -erhaltung waren der britischen Geschäftswelt seit jeher ein Dorn im Auge. Ihr Versuch, über die Expertengruppe nun ein alternatives Modell ohne Grundkapital nach US-Vorbild ins Spiel zu bringen, dürfte bei der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten nicht auf Gegenliebe stoßen. Gute Chancen haben dagegen die Vorschläge der SLIM-Gruppe, denen ein gutes Konzept zur Vereinfachung der 2. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie zugrundeliegt.

Zur Mobilität der Gesellschaften im Binnenmarkt bestätigen die Experten, was alle seit Jahrzehnten wissen. Das Urt. des EuGH v. 5.11.2002 -- Rs. C 208/00 -- "Überseering", GmbHR 2002, 1137 -- Volltext -- macht nun den Weg frei für den Expertenvorschlag, daß der Aufnahmestaat der zuziehenden Gesellschaft die unternehmerische Mitbestimmung nur dann aufzwingen kann, wenn die Mehrheit der Arbeitnehmer dort auch beschäftigt ist. Dem liberalen Geist des Luxemburger Richterspruchs dürfte es kaum entsprechen, wenn einer Gesellschaft die Rechts- und Parteifähigkeit nur dann nicht abgesprochen wird, wenn ihr eine neue Organstruktur und damit eine partielle Neugründung aufgenötigt würde.

Der Winter-Bericht ist eine Fundgrube und reflektiert das ganze Spektrum der aktuellen Reformdiskussion. Die Empfehlungen sind bedenkenswert, auch wenn einige noch unter dem Vorbehalt der Praxistauglichkeit stehen. Anschließend ist die EU-Kommission gefordert. Sie will im Frühjahr nächsten Jahres in einer Mitteilung klarstellen, welche Vorschläge mit welcher Priorität legislativ umgesetzt werden sollen.

Das mag für die noch nicht ausdiskutierten Reformansätze richtig sein. Für überfällige legislative Aktionen wie die grenzüberschreitende Fusion und Sitzverlegung wird es Zeit, endlich zur Sache zu kommen und die legislative Initiativen ohne weitere Debatten einzuleiten.


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