Frank Schönherr und Claus Lemaitre, München*

Wie viel ist das Gebot des fairen Besteuerungsverfahrens in Zeiten leerer Haushaltskassen in Fällen der Aufdeckung von verdeckten Gewinnausschüttungen noch wert?

Kritische Anmerkungen zum BMF-Schreiben vom 29.9.2005

Wird bei einer Kapitalgesellschaft im Rahmen einer Betriebsprüfung eine verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) festgestellt, so erhöht sich ihr körperschaftsteuerpflichtiges Einkommen bzw. ihr Gewerbeertrag. In den Fällen, in denen die Einnahmen aus dem die vGA auslösenden Vorgang auf Ebene des Anteilseigners der Kapitalgesellschaft bereits vollumfänglich besteuert worden sind (z.B. Geschäftsführervergütung, Zinsen für Gesellschafterdarlehen), führt die Aufdeckung einer vGA partiell oder vollumfänglich zu einer Umqualifizierung und somit zu einer Reduzierung des steuerpflichtigen Einkommens des Gesellschafters. Bei körperschaftlichen Anteilseignern sind Gewinnausschüttungen und damit auch vGA im Ergebnis zu 95% steuerfrei (§ 8b Abs. 1 und 5 KStG). Bei natürlichen Personen gilt das Halbeinkünfteverfahren (§ 3 S. 1 Nr. 40d EStG) mit dem Ergebnis, daß die Gewinnausschüttungen zur Hälfte steuerfrei sind. Während zu Zeiten des Anrechnungsverfahrens die Aufdeckung von vGA demnach noch zu einer Erhöhung des steuerpflichtigen Einkommens des Anteilseigners, und zwar in Höhe des Körperschaftsteuer-Guthabens führte, reduziert sich seit der Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens das steuerpflichtige Einkommen des Anteilseigners, wenn vGA nachträglich aufgedeckt werden.

Rechtsgundlage für Änderung des Steuerbescheids von Anteilseignern?

Seit einiger Zeit wird daher diskutiert, auf welche Rechtsgrundlage eine Änderung des Steuerbescheids des Anteilseigners nach dem Aufdecken der vGA bei der Kapitalgesellschaft gestützt werden kann. Bei Anteilseignern von Kapitalgesellschaften, die ihre Beteiligungen im Betriebsvermögen halten, insbesondere Kapitalgesellschaften, ergehen Steuerbescheide häufig unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), weil sie, abhängig von der Größenklasse, einer Betriebsprüfung unterliegen. Änderungen von Steuerbescheiden dieser Anteilseigner sind nach der Aufdeckung von vGA, soweit noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, unproblematisch, da sie auf § 164 Abs. 2 AO gestützt werden können. Einkommensteuerbescheide natürlicher Personen, die keine Gewinneinkünfte erzielen, ergehen jedoch regelmäßig nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, so daß eine Änderung der Steuerbescheide nur nach den allgemeinen Änderungsvorschriften der AO möglich ist.

Ein Fall widerstreitender Steuerfestsetzungen gemäß § 174 AO liegt nicht vor. Da der Körperschaftsteuerbescheid der Gesellschaft kein Grundlagenbescheid für den Einkommensteuerbescheid des Anteilseigners ist, scheidet auch eine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO aus. Eine Änderung kann auch nicht auf § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO gestützt werden, da die Aufdeckung einer vGA lediglich eine Änderung der steuerlichen Wertung eines Sachverhalts ist, nicht aber ein rückwirkendes Ereignis darstellt.

Das deutsche wissenschaftliche Institut der Steuerberater (DWS-Institut) ist in seinem Gutachten aus dem April diesen Jahres zu dem Ergebnis gekommen, daß die verfahrensrechtlichen Regelungen nicht ausreichend sind, um eine Änderung der Bescheide der Anteilseigner in allen Fällen zu gewährleisten. Das DWS-Institut hatte daher empfohlen, § 174 AO um einen neuen Abs. 2a zu erweitern (Datev Dok.-Nr.0171718). Das DWS-Institut hielt es für dringend erforderlich, daß die Finanzverwaltung bis zu einer gesetzlichen Änderung, alle ihr zustehenden Möglichkeiten nutzt, insbesondere den ihr durch § 164, § 165 AO eingeräumten Ermessensspielraum, um die betreffenden Bescheide der Anteilseigner offen zu halten und so nachträglich eine Änderungsmöglichkeit zu schaffen (Tz. 5 des DWS-Gutachtens).

BMF: Keine vorläufige Steuerfestsetzung

Das BMF hat nun mit dem Schr. v. 29.9.2005 -- IV A 4 - S 0350 - 12/05, GmbHR 2005, 1581 mit Komm. Graf/Weber -- in diesem Heft, die Finanzämter ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Voraussetzungen für eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 S. 1 AO grundsätzlich nicht vorläge. Die Ungewißheit über die steuerliche Behandlung bei der Kapitalgesellschaft habe "keine Bedeutung für die Besteuerung des Anteilseigners".

Diese Wertung des BMF überrascht. Denn das FG Baden-Württemberg hatte mit einer ersten rechtskräftigen Entscheidung zu dieser Problematik festgestellt, daß "das Finanzamt [des Anteilseigners] verpflichtet ist, bei der in seinem pflichtgemäßen Ermessen stehenden Entscheidung über den Antrag auf Erlaß eines hinsichtlich der dem Halbeinkünfteverfahren unterliegenden Einkünfte vorläufigen Einkommensteuerbescheids des Anteilseigners einer Kapitalgesellschaft zu berücksichtigen, möglicherweise eine bisher in voller Höhe als Arbeitslohn versteuerte, nunmehr als vGA zu qualifizierende Vergütung nur unter Berücksichtigung der Steuerbefreiung des § 3 S. 1 Nr. 40d EStG versteuern zu müssen. Die Ablehnung der Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks zu einer Steuerfestsetzung ist geeignet, in Bezug auf diese Festsetzung eine Beschwer auszulösen." (FG Baden-Württemberg v. 9.12.2004 -- 3 K 61/03, EFG 2005, 497). Das o.g. Urt. des FG Baden-Württemberg bestätigt ausdrücklich, daß, wenn sich das für die Besteuerung einer Kapitalgesellschaft zuständige FA durch eine Nebenbestimmung i.S.d. § 164 AO die Nachprüfung einer bestimmten Steuerfestsetzung vorbehält und damit den Eintritt der materiellen Bestandskraft dieser Festsetzung verhindert, es als ein Gebot fairen Verfahrens erscheint, daß die für die Besteuerung des Anteilseigners zuständige Behörde auf dessen Antrag hin ebenfalls eine die Bestandskraft einschränkende Regelung mindestens hinsichtlich solcher Sachverhalte trifft, deren geänderte steuerliche Würdigung bei Gesellschaft und Gesellschafter gegenläufige steuerliche Folgen hätte (vgl. FG Baden-Württemberg v. 9.12.2004, aaO). Aus verfahrensrechtlicher Sicht wäre ein entsprechender Vorläufigkeitsvermerk im Einkommensteuerbescheid des Anteilseigners notwendig, um die steuerlich notwendigen Konsequenzen aus der nachträglichen Aufdeckung von vGA beim Anteilseigner ziehen zu können. Anderenfalls droht durch Bestandskraft oder Festsetzungsverjährung eine Doppelbesteuerung der vGA.

Weitere Lösungsalternativen?

Der beratende Steuerpraktiker muß nun mit Verwunderung feststellen, daß das BMF in seinem Schreiben nicht nur eine vorläufige Steuerfestsetzung ablehnt, sondern auch jeden Hinweis auf eine weitere Lösungsalternative des erkannten Problems vermissen läßt. Denn den Finanzämtern wird vom BMF nicht die Möglichkeit aufgezeigt, eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO vorzunehmen und ein, im Ergebnis objektiv faires Besteuerungsverfahren zu gewährleisten. Die Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung würde zwar wegen der möglichen Festsetzungsverjährung nicht in allen Fällen Abhilfe schaffen, jedoch zumindest die Gesamtdimension der Problematik abmildern. Daß die Doppelbesteuerung von Einkünften, die später nach der Betriebsprüfung der Kapitalgesellschaft als vGA eingestuft werden, unbillig ist, bedarf u.E. keiner weiteren Begründung. Zwar deutet das Schreiben in einem Klammerzusatz eine Lösungsmöglichkeit durch eine auf § 173 AO gestützte Änderung an (s. bereits OFD München v. 21.8.2002 -- S 0352-30 St 312, GmbHR 2002, 1044, kritisch und stark einschränkend OFD Magdeburg v. 13.12.2004 -- S-0350-8-St 251, AO-Kartei § 172 AO Karte 3), aber eben gerade diese Änderungsvorschrift wird als nicht alle Fälle abdeckend eingestuft (vgl. FG Baden-Württemberg v. 9.12.2004, aaO). Es wäre daher eine klare Anweisung an die Finanzämter, eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung vorzunehmen, zu begrüßen gewesen. Denn auch diese Lösungsalternative wird ausdrücklich im o.g. Urt. des FG Baden-Württemberg v. 9.12.2004, aaO, genannt. Die gleiche Auffassung vertritt i.ü. auch die OFD Magdeburg, nach der eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO dann er folgen soll, wenn dem für die Einkommensteuerveranlagung des Anteilseigners zuständigen Finanzamt bekannt ist, daß bei der Kapitalgesellschaft, an der der Anteilseigner beteiligt ist, eine Außenprüfung (werden) wird (vgl. OFD Magdeburg v. 13.12.2004, aaO).

Schlußbemerkung

Das BMF wäre gut beraten, die Finanzämter anzuweisen, in den genannten Fällen Steuerbescheide vorläufig oder zumindest unter dem Vorbebehalt der Nachprüfung zu erlassen. Sollte das BMF seine Auffassung nicht überdenken, so liegt der Verdacht nahe, daß in Zeiten leerer Haushaltskassen, mit allen formalrechtlichen Möglichkeiten dem Gebot des fairen Besteuerungsverfahrens wenig Beachtung geschenkt wird. In Zeiten verstärkter Abwanderung von Unternehmen und Unternehmern aus Deutschland dürfte das BMF-Schreiben v. 29.9.2005 u.E. auf jeden Fall ein weiteres falsches Signal sein und sollte daher kurzfristig vom BMF überdacht und geändert werden.

 

* Dipl.-Finw. Frank Schönherr und Dipl.-Kfm. Claus Lemaitre sind Steuerberater und Partner bei RP RICHTER & PARTNER Steuerberater Wirtschaftsprüfer Rechtsanwälte, München.



Zurück