Gewinnausschüttung: Mittelbare Quellenbesteuerung nur bei Ausschüttungen von Tochtergesellschaften ins EU-Ausland als Verstoß gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie

Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6) Art. 5 Abs. 1

Es stellt einen Steuerabzug an der Quelle i.S.v. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten dar, wenn das nationale Recht vorschreibt, daß bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine Tochtergesellschaft (eine Aktiengesellschaft oder eine entsprechende Gesellschaft) an ihre Muttergesellschaft für die Bestimmung der steuerbaren Gewinne der Tochtergesellschaft deren gesamter Reingewinn einschließlich der Einkünfte, die einer besonderen, zum Erlöschen der Steuerschuld führenden Besteuerung unterliegen, sowie der nichtsteuerbaren Einkünfte berücksichtigt wird, obwohl diese beiden Arten von Einkünften nach nationalem Recht nicht besteuert würden, wenn sie bei der Tochtergesellschaft verblieben und nicht an die Muttergesellschaft ausgeschüttet würden.

EuGH, Urt. v. 4.10.2001 -- Rs. C-294/99 – Athinaïki Zythopoiia AE
(FR 2001, 1119 mit Komm. -- IMN --)

 

Urteil

1. Das Dioikitiko Protodikeio Athinon (Erstinstanzliches Verwaltungsgericht Athen) hat mit Beschl. v. 26.7.1999, beim Gerichtshof eingegangen am 5.8.1999, gemäß Art. 234 EG eine Frage nach der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsameSteuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6, im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit, der aufgrund der Klage der Athinaïki Zythopoiia AE gegen die stillschweigende Zurückweisung des von dieser Gesellschaft hinsichtlich der Besteuerung ihrer Einkünfte eingelegten Einspruchs durch den Leiter des Finanzamts Athen anhängig ist.

Die Richtlinie

3. Die Richtlinie stellt einen der drei Rechtsakte dar, die am 23.7.1990 beschlossen wurden, um bestimmte steuerliche Hindernisse für Zusammenschlüsse von Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten zu beseitigen. Die anderen Rechtsakte sind die Richtlinie 90/434/EWG des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (ABl. L 225, S. 1), und das Übereinkommen 90/436/EWG über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (ABl. L 225, S. 10).

4. Nach ihrer ersten Begründungserwägung sollen durch die Richtlinie wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Gemeinsamen Marktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen. Nach ihrer dritten Begründungserwägung sollen durch sie insbesondere die steuerlichen Benachteiligungen der Unternehmensgruppen aus verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber den Unternehmensgruppen aus ein und demselben Mitgliedstaat beseitigt werden.

5. Die Notwendigkeit der Richtlinie ergibt sich daraus, daß in mehreren Staaten niedergelassene Unternehmensgruppen einer Doppelbesteuerung unterworfen werden können.

6. Vorbehaltlich einer von den Staaten entweder einseitig oder aufgrund von bilateralen Abkommen gewährten Freistellung können die von einer Tochtergesellschaft erzielten Gewinne gleichzeitig im Staat der Tochtergesellschaft als Einkünfte aus dem Betrieb dieser Gesellschaft und im Staat der Muttergesellschaft als Dividenden besteuert werden.

7. Um Steuerhinterziehungen zu verhindern und die Erhebung der Steuer auf die Dividenden zu vereinfachen, greifen die Staaten häufig auf die Technik des Steuerabzugs an der Quelle zurück. In diesem Fall muß die Gesellschaft, die die Dividenden ausschüttet, einen Teil davon zurückbehalten, den sie dann an die Steuerbehörden auszahlt. Dieser abgezogene Betrag ist auf die Gesamtsteuerschuld der Aktionäre anrechenbar, die in dem Staat wohnen, in dem die Gesellschaftniedergelassen ist. Beziehen sich diese Abzüge dagegen auf Dividenden, die an Aktionäre ausgeschüttet werden, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind, so stellen sie die Erhebung einer zusätzlichen Steuer zu Lasten dieser Aktionäre durch den Staat dar, in dem die Gesellschaft niedergelassen ist, und der Wohnstaat dieser Aktionäre kann sie nicht berücksichtigen, wenn er deren Einkommen besteuert.

8. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie lautet wie folgt:

Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

– auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staates von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;

– auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Staates an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten.

9. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie, die Vorschrift, die im Mittelpunkt des Ausgangsverfahrens steht, bestimmt:

Die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne sind, zumindest wenn diese einen Anteil am Gesellschaftskapital der Tochtergesellschaft von wenigstens 25 % besitzt, vom Steuerabzug an der Quelle befreit.

10. Art. 7 Abs. 1 definiert die Bedeutung des Begriffes Steuerabzug an der Quelle wie folgt:

Der in dieser Richtlinie verwendete Ausdruck ‚Steuerabzug an der Quelle‘ umfaßt nicht die in Verbindung mit der Ausschüttung von Gewinnen an die Muttergesellschaft erfolgende Vorauszahlung der Körperschaftsteuer an den Sitzmitgliedstaat der Tochtergesellschaft.

11. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie lautet wie folgt:

Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinne, die nicht anläßlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so

– besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese Gewinne entweder nicht oder

– läßt er im Fall einer Besteuerung zu, daß die Gesellschaft auf die Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, und gegebenenfalls die Quellensteuer, die der Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft nach denAusnahmebestimmungen des Artikels 5 erhebt, bis zur Höhe der entsprechenden innerstaatlichen Steuer anrechnen kann.

12. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie sieht vor:

Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen, die die Beseitigung oder Minderung der Doppelbesteuerung der Dividenden bezwecken, und insbesondere nicht die Bestimmungen, die die Auszahlung von Steuerkrediten an die Dividendenempfänger betreffen.

Die innerstaatlichen Rechtsvorschriften

13. Art. 99 Abs. 1 des griechischen Gesetzes Nr. 2238/1994 über das Einkommensteuergesetzbuch (im folgenden: Einkommensteuergesetzbuch) bestimmt:

Gegenstand der Steuer sind:

a) bei inländischen Aktiengesellschaften im Allgemeinen ... das gesamte Nettoeinkommen oder der gesamte Reingewinn, das bzw. der in Griechenland oder im Ausland erzielt worden ist. Die ausgeschütteten Gewinne entsprechen den nicht ausgeschütteten Gewinnen nach Abzug der Körperschaftsteuer. ...

Zur Ermittlung des Gewinnanteils, der den nicht steuerbaren Einkünften oder den Einkünften entspricht, die einer zum Erlöschen der Steuerschuld führenden besonderen Besteuerung unterliegen, werden die gesamten Reingewinne anteilmäßig auf die Beträge der steuerbaren Einkünfte und der nicht steuerbaren Einkünfte oder auf die Einkünfte verteilt, die einer zum Erlöschen der Steuerschuld führenden besonderen Besteuerung unterliegen; ferner wird bei Gewinnausschüttung zu den oben genannten sich ergebenden steuerbaren Gewinnen der Teil der nicht steuerbaren Gewinne oder der Gewinne, die einer besonderen Besteuerung unterliegen, die zum Erlöschen der Steuerschuld führt, hinzugerechnet, der den auf irgendeine Weise ausgeschütteten Gewinnen entspricht, nachdem der ermittelte Betrag durch Hinzurechnung der auf ihn entfallenden Steuer in einen Bruttobetrag umgewandelt worden ist.

14. Art. 106 des Einkommensteuergesetzbuchs, dessen Absätze 2 und 3 von der Klägerin des Ausgangsverfahrens als unvereinbar mit der Richtlinie angesehen werden, lautet wie folgt:

1. Umfassen die Einkünfte juristischer Personen im Sinne von Artikel 101 Absatz 1 dieses Gesetzes auch Dividenden oder Gewinne aus der Beteiligung an anderen Gesellschaften, deren Gewinne gemäß diesem Artikel oder gemäß Artikel 10 besteuert worden sind, so werden diese Einkünfte zur Berechnung der steuerbaren Gewinne der juristischen Person von den gesamten Reingewinnen abgezogen.Gehören zu den Reingewinnen einer inländischen Gesellschaft, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder einer Genossenschaft jedoch außer Dividenden und Gewinnen aus der Beteiligung an anderen Gesellschaften im oben genannten Sinne auch Einkünfte, die einer zum Erlöschen der Steuerschuld führenden besonderen Besteuerung unterliegen, oder nicht steuerbare Einkünfte und findet ferner eine Gewinnausschüttung statt, so werden zur Bestimmung der ausgeschütteten Gewinne, die den in den Absätzen 2 und 3 dieses Artikels vorgesehenen Einkünften entsprechen, die gesamten Reingewinne zugrunde gelegt, die sich aus den Bilanzen dieser juristischen Personen ergeben.

2. Gehören zu den Reingewinnen, die sich aus den Bilanzen von Genossenschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und inländischen Aktiengesellschaften mit Ausnahme von Bank- und Versicherungsgesellschaften ergeben, auch nicht steuerbare Einkünfte, so wird zur Bestimmung der steuerbaren Gewinne der juristischen Person zu diesen der Teil der nicht steuerbaren Einkünfte hinzugerechnet, der den auf irgendeine Weise ausgeschütteten Gewinnen entspricht, nachdem der ermittelte Betrag durch Hinzurechnung der darauf entfallenden Steuer in einen Bruttobetrag umgewandelt worden ist. ...

3. Der vorstehende Absatz gilt entsprechend auch für die Ausschüttung von Gewinnen durch Gesellschaften mit beschränkter Haftung, durch inländische Aktiengesellschaften mit Ausnahme von Bank- und Versicherungsgesellschaften und durch Genossenschaften, zu deren Gewinnen auch Gewinne gehören, die unter ihrem Namen nach einer besonderen Regelung bestimmt oder besteuert werden.

15. Aus Art. 99 und Art. 106 des Einkommensteuergesetzbuchs ergibt sich, daß dann, wenn eine Aktiengesellschaft griechischen Rechts, die bei ihren Bruttoeinkünften über nichtsteuerbare Einkünfte oder über einer besonderen – d.h. einer verringerten – Besteuerung unterliegende Einkünfte verfügt, Gewinne ausschüttet, angenommen wird, daß diese Gewinne proportional aus diesen Einkünften herrühren. Bei der Bestimmung der Besteuerungsgrundlage werden folglich die nichtsteuerbaren Einkünfte und die einer besonderen Besteuerung unterliegenden Einkünfte in gebotener Höhe nach Umwandlung in Bruttobeträge in die Steuerbemessungsgrundlage wiedereingerechnet.

Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Hellenischen Republik und dem Königreich der Niederlande

16. Die Hellenische Republik und das Königreich der Niederlande haben am 16.7.1981 in Athen ein Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet. Art. 10 Abs. 1 und 2 dieses Abkommens lautet wie folgt:

(1) Dividenden, die von einer in einem der Staaten niedergelassenen Gesellschaft an einen Einwohner des anderen Staates gezahlt werden, dürfen in dem anderen Staat besteuert werden.

(2) Solche Dividenden dürfen jedoch auch in dem Staat, in dem die Gesellschaft, die die Dividenden zahlt, niedergelassen ist, gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates besteuert werden; ist der Empfänger der Dividendenberechtigte, so darf die erhobene Steuer folgende Beträge nicht übersteigen:

a) ... b) bei Dividenden, die von einer in Griechenland niedergelassenen Gesellschaft an einen Einwohner der Niederlande gezahlt werden: 35 % des Bruttobetrags der Dividenden.

Der Ausgangsrechtsstreit und die Vorabentscheidungsfrage

17. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine Aktiengesellschaft griechischen Rechts, deren Hauptgegenstand die Herstellung von und der Handel mit Brauereierzeugnissen ist. Die niederländische Gesellschaft Amstel International hält eine Beteiligung am Gesellschaftskapital i.H.v. 92,17 %.

18. Nach Angabe des vorlegenden Gerichts nannte die Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihrer Erklärung für das Steuerjahr 1996 einen Einkommensteuerbetrag i.H.v. 7.026.210.797 GRD. Darin eingeschlossen war ein Betrag von 794.291.553 GRD, der sich auf nichtsteuerbare Einkünfte und auf einer besonderen Besteuerung unterliegende Einkünfte gemäß Art. 106 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzbuchs bezog.

19. Von diesem Gesamtbetrag zusätzlicher Steuern i.H.v. 794.291.553 GRD forderte die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Erstattung von 738.384.406 GRD. Zur Begründung dieser Forderung machte sie geltend, Art. 106 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzbuchs sehe eine Art von Besteuerung vor, die allein deshalb, weil sie mit der Ausschüttung von Gewinnen verbunden sei, einen nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie verbotenen Steuerabzug an der Quelle darstelle.

20. Nachdem der Leiter der für Aktiengesellschaften zuständigen Finanzbehörde in Athen sich innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Monaten nicht geäußert hat, gilt dieser Einspruch als stillschweigend zurückgewiesen.

21. Die Klägerin erhob beim Dioikitiko Protodikeio Athinon Klage auf Aufhebung der stillschweigenden Zurückweisung ihres Einspruchs und auf Erstattung eines Betrags i.H.v. 738.384.406 GRD.

22. Das Dioikitiko Protodikeio Athinon hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stellt es einen Steuerabzug an der Quelle im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juni 1990 dar, wenn das nationale Recht vorschreibt, daß bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine Tochtergesellschaft – eine Aktiengesellschaft oder eine entsprechende Gesellschaft – an ihre Muttergesellschaft für die Bestimmung der steuerbaren Gewinne der Tochtergesellschaft deren gesamter Reingewinn einschließlich der Einkünfte, die einer besonderen Besteuerung unterliegen, die zum Erlöschen der Steuerschuld führt, sowie der nicht steuerbaren Einkünfte berücksichtigt wird, obwohl diese beiden Arten von Einkünften nach nationalem Recht nicht besteuert würden, wenn sie bei der Tochtergesellschaft verblieben und nicht an die Muttergesellschaft ausgeschüttet würden?

Zur Vorabentscheidungsfrage

23. Die griechische Regierung macht geltend, das einzige Ziel der Richtlinie bestehe darin, eine Doppelbesteuerung zu verhindern. Die Richtlinie sehe keine Steuerbefreiung vor. Art. 4 der Richtlinie setze nämlich eine Besteuerung der Tochtergesellschaft voraus, und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie schließe nur im Zeitpunkt der Gewinnausschüttung einen Steuerabzug an der Quelle aus.

24. Die im Ausgangsverfahren streitigen Vorschriften stellten keinen Steuerabzug an der Quelle dar, sondern gehörten zur Besteuerung der Einkünfte der Tochtergesellschaft. Die in Art. 106 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzbuchs vorgesehene Art der Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne stehe nämlich in keinerlei Zusammenhang mit dem nach der Richtlinie verbotenen Steuerabzug an der Quelle. Unerheblich sei, daß die Zahlung der Steuer im Zeitpunkt der Ausschüttung der Gewinne an die Tochtergesellschaft erfolge, da diese Gewinne im Namen der Tochtergesellschaft besteuert würden.

25. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie, wie sich insbesondere aus ihrer dritten Begründungserwägung ergibt, bezweckt, durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats zu beseitigen und damit den Zusammenschluß von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene zu erleichtern. Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sieht Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie vor, daß im Staat der Tochtergesellschaft bei der Gewinnausschüttung eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle gewährt wird (EuGH v. 17.10.1996 – Rs. C-283/94, C-291/91 und C-292/94, Denkavit u.a., Slg. 1996, I-5063, Rz. 22).

26. Bei der Prüfung der Frage, ob die Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne nach den im Ausgangsverfahren streitigen griechischen Rechtsvorschriften unter Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie fällt, ist zum einen auf den Wortlaut dieser Vorschrift abzustellen und festzustellen, daß der darin verwendete Begriff Steuerabzug ander Quelle nicht auf bestimmte feststehende Arten innerstaatlicher Besteuerung beschränkt ist (vgl. Urteil v. 8.6.2000 – Rs. C-375/98, Epson Europe, Slg. 2000, I-4243, Rz. 22).

27. Zum andern ergibt sich aus der st. Rspr., daß die Qualifizierung einer Steuer, Abgabe oder Gebühr nach Gemeinschaftsrecht vom Gerichtshof nach den objektiven Merkmalen der Steuer unabhängig von ihrer Qualifizierung im nationalen Recht vorzunehmen ist (vgl. u.a. Urt. v. 13.2.1996 – Rs. C-197/94 und C-252/94, Bautiaa und Société française maritime, Slg. 1996, I-505, Rz. 39).

28. Aus dem Vorlagebeschluß und den gemäß Art. 20 der EG-Satzung des Gerichtshofes eingereichten Erklärungen geht hervor, daß die in den Rz. 13 bis 15 des vorliegenden Urteils beschriebene, im Ausgangsverfahren streitige Besteuerung durch die Zahlung der Dividenden ausgelöst wird. Darüber hinaus richtet sich die Besteuerung unmittelbar nach dem Umfang der vorgenommenen Ausschüttung.

29. Entgegen dem Vorbringen der griechischen Regierung kann sie nicht einer in Verbindung mit der Ausschüttung von Gewinnen auf die Muttergesellschaft erfolgenden Vorauszahlung der Körperschaftsteuer an den Sitzmitgliedstaat der Tochtergesellschaft i.S.v. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie gleichgestellt werden. Die im Ausgangsverfahren streitige Besteuerung bezieht sich nämlich auf Einkünfte, die nur bei Ausschüttung von Dividenden bis zur Höhe der gezahlten Dividenden besteuert werden. Ein Beweis dafür besteht, wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens und die Kommission vorgetragen haben, darin, daß die Tochtergesellschaft gegenüber der Erweiterung ihrer Besteuerungsgrundlage, die nach Art. 106 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzbuchs durch die Ausschüttung von Gewinnen bewirkt wird, nicht mit negativen Einkünften aufrechnen darf, die sie in vorangehenden Steuerjahren erzielt haben könnte, und zwar entgegen dem steuerlichen Grundsatz des Verlustvortrags, der jedoch im griechischen Recht niedergelegt ist.

30. Die griechische Regierung beruft sich außerdem auf das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Hellenischen Republik und dem Königreich der Niederlande, um zu rechtfertigen, daß die Dividenden, die sich bei der Beteiligung von ausländischen Gesellschaften an griechischen Gesellschaften ergeben, in Griechenland besteuert werden. Ihrer Ansicht nach ist ein solches Abkommen nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie zulässig.

31. In diesem Zusammenhang genügt die Feststellung, daß das Abkommen zwischen der Hellenischen Republik und dem Königreich der Niederlande die Doppelbesteuerung von Dividenden keineswegs beseitigt oder mindert, sondern vielmehr eine solche Doppelbesteuerung regelt. Zum einen ermächtigt Art. 10 Abs. 1 dieses Abkommens den Wohnstaat des Aktionärs, die ausgeschüttetenDividenden zu besteuern. Zum anderen erlaubt Art. 10 Abs. 2 des Abkommens dem Sitzstaat der Gesellschaft, die Dividenden ausschüttet, diese ebenfalls zu besteuern, jedoch zu einem Satz, der bei Dividenden, die von einer in Griechenland niedergelassenen Gesellschaft an einen in den Niederlanden ansässigen Aktionär gezahlt werden, 35 % nicht überschreiten darf.

32. Im übrigen sind die Rechte, die sich für die Wirtschaftsteilnehmer aus Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie ergeben, wenn die Ausnahmeregelung des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie nicht anwendbar ist, unbedingt, und ein Mitgliedstaat kann ihre Beachtung nicht vom Inhalt eines mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen Abkommens abhängig machen (in diesem Sinne Urt. v. 28.3.1986 – Rs. 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Rz. 26).

33. Nach alledem ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß es einen Steuerabzug an der Quelle i.S.v. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, wenn das nationale Recht vorschreibt, daß bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine Tochtergesellschaft (eine AG oder eine entsprechende Gesellschaft) an ihre Muttergesellschaft für die Bestimmung der steuerbaren Gewinne der Tochtergesellschaft deren gesamter Reingewinn einschließlich der Einkünfte, die einer besonderen, zum Erlöschen der Steuerschuld führenden Besteuerung unterliegen, sowie der nichtsteuerbaren Einkünfte berücksichtigt wird, obwohl diese beiden Arten von Einkünften nach nationalem Recht nicht besteuert würden, wenn sie bei der Tochtergesellschaft verblieben und nicht an die Muttergesellschaft ausgeschüttet würden.

Zu den zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils

34. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der griechischen Regierung beantragt, für den Fall, daß festgestellt werden sollte, daß das Gemeinschaftsrecht einer Besteuerung der im Ausgangsverfahren streitigen Art entgegensteht, die zeitlichen Wirkungen des Urteils des Gerichtshofes zu beschränken. Er hat sich dabei auf die erheblichen Kosten berufen, die durch die Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuern verursacht würden.

35. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach st. Rspr. durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 234 EG vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (vgl. Urt. v. 27.3.1980 – Rs. 61/79, Denkavititaliana, Slg. 1980, 1205, Rz. 16, sowie Bautiaa und Société française maritime, Rz. 47).

36. In Anbetracht dieser Grundsätze muß eine Beschränkung der Wirkungen eines Urteils, durch das über ein Auslegungsersuchen entschieden wird, eine absolute Ausnahme bleiben. Der Gerichtshof hat von seiner dahin gehenden Befugnis nämlich nur unter ganz bestimmten Umständen Gebrauch gemacht. Dies war der Fall, wenn die Gefahr von schweren wirtschaftlichen Folgen bestand, die insbesondere auf die große Zahl von Rechtsverhältnissen zurückzuführen waren, die in gutem Glauben auf der Grundlage einer als rechtswirksam angesehenen Regelung begründet worden waren, und sich zeigte, daß die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehenden Verhalten aufgrund einer objektiven und erheblichen Unsicherheit in Bezug auf die Tragweite von gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften veranlaßt worden waren, zu der unter Umständen gerade das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte (vgl. Urt. Bautiaa und Société française maritime, Rz. 48).

37. In der vorliegenden Rechtssache ist eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß ein Auslegungsurteil auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurückwirkt, durch nichts gerechtfertigt.

38. Erstens hat die griechische Regierung nicht dargetan, daß das Gemeinschaftsrecht zu der Zeit, als die innerstaatlichen Vorschriften über die im Ausgangsverfahren streitige Besteuerung erlassen wurden, bei vernünftiger Betrachtung dahin verstanden werden konnte, daß es eine solche Besteuerung zuließ.

39. Zweitens ist dem Vorbringen, das sich auf den Umfang des finanziellen Schadens bezieht, den die griechische Regierung zu tragen hätte, nicht zu folgen. Die möglichen finanziellen Konsequenzen der Rechtswidrigkeit einer Steuer für eine Regierung haben für sich allein niemals die Beschränkung der Wirkungen eines Urteils des Gerichtshofes gerechtfertigt. Wäre dies nicht so, würden die schwersten Verstöße außerdem günstiger behandelt, da sie es sind, die die bedeutendsten finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten haben können (vgl. Urt. v. 11.8.1995 – Rs. C-367/93 bis C-377/93, Roders u.a., Slg. 1995, I-2229, Rz. 48). Zudem würde eine allein auf diese Art von Erwägungen gestützte Beschränkung der Wirkungen eines Urteils darauf hinauslaufen, daß der gerichtliche Schutz der Rechte, die die Steuerpflichtigen aus den Steuervorschriften der Gemeinschaft herleiten, wesentlich eingeschränkt wäre (vgl. Urt. Bautiaa und Société française maritime, Rz. 55).

40. Unter diesen Voraussetzungen besteht kein Anlaß, die Wirkungen des vorliegenden Urteils zeitlich zu beschränken.

Kosten

41. Die Auslagen der griechischen und der französischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Dioikitiko Protodikeio Athinon mit Beschl. v. 26.7.1999 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Es stellt einen Steuerabzug an der Quelle i.S.v. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten dar, wenn das nationale Recht vorschreibt, daß bei der Ausschüttung von Gewinnen durch eine Tochtergesellschaft (eine Aktiengesellschaft oder eine entsprechende Gesellschaft) an ihre Muttergesellschaft für die Bestimmung der steuerbaren Gewinne der Tochtergesellschaft deren gesamter Reingewinn einschließlich der Einkünfte, die einer besonderen, zum Erlöschen der Steuerschuld führenden Besteuerung unterliegen, sowie der nichtsteuerbaren Einkünfte berücksichtigt wird, obwohl diese beiden Arten von Einkünften nach nationalem Recht nicht besteuert würden, wenn sie bei der Tochtergesellschaft verblieben und nicht an die Muttergesellschaft ausgeschüttet würden.


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