Stephan Stieb,
Rechtsanwalt, Bonn/Estoril

Der Anfang vom Ende der "Sitztheorie" -- EuGH untersagt die Entrechtung von Auslandsgesellschaften !

Mit dem lang erwarteten Urt. v. 5.11.2002 -- Rs. C-280/00 -- "Überseering" --, GmbHR 2002, 1137 -- Volltext, hat der EuGH entschieden, daß es einen Verstoß gegen Art. 43 und 48 EG darstellt, wenn einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in dem Land, wohin sie ihren tatsächlichen Sitz verlegt hat, die Rechts- und damit Parteifähigkeit abgesprochen wird. Weiterhin urteilt der EuGH, daß eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet ist, wo sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, und die von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch macht, dieser andere Staat nach Art. 43 und 48 EG verpflichtet ist, "die Rechtsfähigkeit und damit Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats besitzt". Damit hat der EuGH die Sitztheorie, soweit sie in ihrer extremsten Konsequenz Auslandsgesellschaften, deren tatsächlicher Verwaltungs- von dem satzungsmäßigen Sitz abweicht, in Deutschland deren Rechts- und Parteifähigkeit verneint, für europarechtswidrig erklärt. Darüber hinaus hat er gefordert, daß Gesellschaften innerhalb der EU hinsichtlich ihrer Rechts- und Parteifähigkeit nach ihrem Gründungsrecht zu behandeln sind. Letzteres Gebot ist insofern beachtlich, weil dadurch die neueste Rechtsprechung des BGH zur Behandlung von Auslandsgesellschaften mit einem vom satzungsmäßigen abweichenden tatsächlichen Verwaltungssitz in Frage gestellt wird (vgl. auch Barnitzke, Die Welt v. 19.11.2002, S. 12). Der BGH hat nämlich -- sicher auch unter dem Eindruck der Schlußanträge des Generalanwalts Colomer zu "Überseering" (GmbHR 2002, 29 [LS] -- Volltext; dazu Stieb, GmbHR 2002, R 5) -- entschieden, daß eine ausländische Gesellschaft, die entsprechend ihrem Statut nach dem Recht des Gründungsstaats als rechtsfähige Gesellschaft ähnlich einer GmbH deutschen Rechts zu behandeln wäre, im Fall der Verlegung ihres Verwaltungssitzes nach Deutschland -- nach deutschem Recht jedenfalls -- eine rechtsfähige Personengesellschaft darstellt und damit parteifähig ist (BGH v. 1.7.2002 -- II ZR 380/00, GmbHR 2002, 1021 -- Volltext; dazu Stieb, GmbHR 2002, R 377). Nach dem Urt. des EuGH dürfte die Umdeutung einer ausländischen Gesellschaft in eine "jedenfalls" rechtsfähige Personengesellschaft nicht statthaft sein. Griffig formuliert Forsthoff, BB 2002, 2476, daß die ausländische Gesellschaft dadurch zu einer Art "Wechselbalg" werde. Was Rechts- und Parteifähigkeit einer in der EU ansässigen Gesellschaft angehen, gilt nach dem jetzigen Urteil des EuGH uneingeschränkt die Rechtsansicht des Gründungsstaats und damit die Gründungstheorie.

BGH will der Sitztheorie zum Zeitpunkt der Vorlage bei dem EuGH noch uneingeschränkt folgen ...

Dem Überseering-Urteil des EuGH liegt ein einfacher Sachverhalt zugrunde. Die im holländischen Handelsregister eingetragene Gesellschaft Überseering BV erwarb in Deutschland eine Immobilie und vergab an eine Baugesellschaft einen Auftrag zur Renovierung. Zwischenzeitlich gingen die Anteile der holländischen Gesellschaft auf zwei in Deutschland lebende Deutsche über. Als Überseering BV gegen das Bauunternehmen Mängelbeseitigung geltend macht und die beklagte Gesellschaft einwendet, die holländische Gesellschaft habe ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland, wird ihre Klage in den Vorinstanzen unter Verweis auf die in der deutschen Rechtsprechung und h.M. geltende Sitztheorie mangels Rechts- und damit Parteifähigkeit abgewiesen. Die holländische Gesellschaft, die unbestritten Eigentümerin einer Immobilie in Deutschland ist und dort auch schon auf Zahlung von Architektenhonoraren verurteilt worden ist, geht als nun rechtlos gestellt in Revision. Der BGH, der zu diesem Zeitpunkt der Sitztheorie noch uneingeschränkt folgen will, legt mit Beschl. v. 30.3.2000 -- VII ZR 370/98, GmbHR 2000, 715 -- Volltext (dazu Stieb, GmbHR 2000, R 213) dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vor. Er solle sich dazu äußern, ob bei der grenzüberschreitenden Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes nicht die in Art. 43 und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit einer Anknüpfung der Rechtstellung der Gesellschaft an das Recht des Mitgliedsstaats, in dem sich ihr tatsächlicher Verwaltungssitz befindet, entgegenstehe.

EuGH straft erwartungsgemäß Aussitzen der Exekutive ...

Der EuGH sieht in der als Konsequenz der Sitztheorie resultierenden Entrechtung der holländischen Gesellschaft vor deutschen Gerichten einen schweren Eingriff in die durch Art. 43 und 48 EG geschützte Niederlassungsfreiheit, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Bevor das Gericht einen Eingriff feststellt, muß es zunächst -- so erstaunlich es klingt -- darlegen, daß eine Negierung der Rechts- und Parteifähigkeit die Freiheit der Niederlassung überhaupt tangieren kann. Die deutsche, spanische und italienische Regierung haben nämlich eingewendet, daß entsprechend Art. 293 Abs. 3 EG, "soweit erforderlich", die Mitgliedstaaten untereinander Verhandlungen einleiten, um u.a. die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften und die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeiten bei Verlegung des Sitzes von einem in einen anderen Staat sicherzustellen. Da es aber auf diesem Gebiet noch keine gültigen multilateralen Übereinkommen gebe und das am 29.2.1968 unterzeichnete Brüsseler Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen nie in Kraft getreten sei, unterliege die Frage, ob im Aufnahmestaat das nach den Kollisionsregeln anwendbare Recht eine Gesellschaft fortbestehen lasse, nicht den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit; vielmehr falle diese Frage nach dem gegenwärtigen Stand der -- fehlenden -- Harmonisierung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diesmal hat der EuGH, wie es zu erwarten war, das Aussitzen untätiger Regierungen (vgl. dazu Stieb, GmbHR 1992, R 25 und Stieb, GmbHR 2000, R 213) gestraft! Das Argument "soweit erforderlich, aber was erforderlich ist, das bitte bestimmen wir" hat er zurückgewiesen und deutlich gemacht, daß Art. 293 EG, wie schon vorher vom Generalanwalt dargestellt, keinen Rechtsetzungsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten darstellt. Die Untätigkeit der Politik sei kein Grund für eine Beschränkung der in Art. 43 und 48 EG geschützten Niederlassungsfreiheit. Das Urt. des EuGH sendet damit auch ein Signal für zukünftiges zu langsames und taktierendes Verhandeln zu anderen Themen innerhalb der Mitgliedstaaten aus (vgl. Wiesner, GmbHR 2002, R 457).

Rechtsabschneidung bedeutet Negierung der Niederlassungsfreiheit ...

Die Folge der Sitztheorie, eine ausländische Gesellschaft vollkommen zu entrechten, kommt nach Auffassung des EuGH nicht nur einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gleich, sondern deren Negierung. Das Argument, eine solche Gesellschaft könne sich in Deutschland neu gründen, um dann ihre Ansprüche geltend zu machen, wird kurzerhand abgebügelt, da eine derartige Gesellschaft, die aufgrund einer anderen Rechtsordnung existent sei, "keine Realität" habe. Auf die ausführlichen Darstellungen des Generalanwalts zu der Frage, daß die Sitztheorie bzw. deren Folgen, nämlich die Negierung des Rechtsschutzes gegen Art. 6 Abs. 1 der Menschenrechtskonvention (MRK) verstößt, geht das Gericht gar nicht mehr ein. Diese Ausführungen und insbesondere Meilickes Abhandlung zur Vereinbarkeit der Sitztheorie mit der MRK und anderem höherrangigen Recht (BB 1995, Beilage 9, S. 1) haben aber auch zukünftig Bestand, sollte die deutsche Rechtsprechung die bisherige Sitztheorie weiterhin auf nicht in der EU ansässige Unternehmen anwenden wollen. Die Furcht vor "Delawarization" (vgl. Meilicke, BB 1995, Beilage 9, S. 17) und Begriffe wie "race to the bottom" (vgl. BGH v. 30.3.2000 -- VII ZR 370/98, GmbHR 2000, 715 -- Heft 14/00) sitzen bei den Verfechtern der Sitztheorie tief, so daß nicht ausgeschlossen ist, daß diese Argumente zur Abwehr von Gesellschaften aus Nicht-EU-Ländern erneut hochkommen. Dabei ist zumindestens im Bereich der Wirtschaft nicht einmal sicher, ob der Wettbewerb der Gesellschaftsrechte zwangsweise in Richtung "bottom" führt. Eidenmüller, ZIP 2002, 83 erinnert an empirische Untersuchungen zu Eigenkapitalgebern, aufgrund derer sich bei der Rechtswahl eher ein Trend zu "race to the top" ergibt, und gelangt zu dem Schluß, daß Unternehmer auf Investoren angewiesen sind und diese sich nicht systematisch ausbeuten lassen. Und apropos Delaware: es sind ein schneller Verwaltungsapparat und steuerliche Vorteile, die den amerikanischen Bundesstaat attraktiv machen, so daß dort immerhin mehr als die Hälfte aller börsennotierten US-Unternehmen registriert sind (vgl. Kort, Handelsblatt v. 13.11.2002).

... für die es keine Rechtfertigung geben kann

Der EuGH stellt im übrigen fest, daß die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit von Überseering durch nichts gerechtfertigt werden kann. Die Bundesregierung hat nämlich in dem Verfahren eingewendet, daß -- sollte eine Beschränkung festgestellt werden -- diese nicht diskriminierend und durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei und in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehe. Eine Diskrimierung sei nicht festzustellen, weil deutsche Gesellschaften, die ihren Sitz aus Deutschland herausverlegen, aufgrund der Sitztheorie das gleiche Schicksal wie die Klägerin erlebten. Die Sitztheorie diene weiterhin der Rechtssicherheit und dem Gläubigerschutz (sic !); sie gewährleiste Mindestkapitalausstattungen von Gesellschaften und schütze Minderheitsgesellschafter sowie Arbeitnehmer durch die Mitbestimmung in Unternehmen und sei schließlich durch Fiskalinteressen gerechtfertigt. Der EuGH schließt nicht aus, daß "unter bestimmten Umständen und unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen" zwingende Gründe des Gemeinwohls eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können. Aber eine Entrechtung einer Gesellschaft durch Wegnahme von Rechts- und Parteifähigkeit habe nichts mit einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu tun, sondern bedeute deren Negierung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Wer in Zukunft mit der Sitztheorie die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften in Deutschland beschränken will, muß nach den übervorsichtigen Formulierungen des Gerichts gewichtige Argumente vorlegen. Jedenfalls wird es nicht mehr einfach sein, weiterhin mit der Sitztheorie das Bollwerk "Deutschland-AG" (vgl. Meilicke, GmbHR 2000, 693) verteidigen zu wollen. Mit Recht haben niederländische und englische Regierungsvertreter eingewandt, daß das Argument des Gläubigerschutzes durch Beachtung und Überwachung von Mindestkapitalvorschriften zweifelhaft sei. Schließlich sei auch in der Rechtssache "Centros" (EuGH v. 9.3.1999 -- Rs. C-212/97, GmbHR 1999, 474 -- Volltext; vgl. Stieb, GmbHR 1999, R 257) der dänische Staat an diesem Argument gescheitert, als er eine Zweigniederlassung einer in Großbritannien rechtswirksam gegründeten Gesellschaft nicht ins Handelsregister eintragen wollte. Inwieweit die Niederlassungsfreiheit beschränkt werden kann, wird ein vor dem EuGH anhängiges Vorabentscheidungsverfahren (Rs C-167/01) demnächst zeigen (vgl. Neye, EWiR Art. 43 EG, S. 1004).

Ausblick: Rechtssicherheit fordert Klärungsbedarf !

Die Sitztheorie hat in Deutschland eine über 100-jährige Tradition. Sie wird nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen europäischen und nichteuropäischen Ländern vertreten. Daß sie in Deutschland in ihrer Konsequenz so hart vertreten wurde, daß ausländische Gesellschaften nicht mehr zu ihrem Recht kamen und erst der EuGH diese Folge ihrer Anwendung unterbinden mußte, gibt zu denken. Der Hinweis darauf, daß die Sitztheorie auch in anderen Ländern vertreten wird, kann nicht bedeuten, daß auch in diesen Ländern dieselben Konsequenzen gezogen wurden. Insofern hatte sich der EuGH mit einem rein deutschen Problem auseinanderzusetzen. Es stellt sich nun die Frage, ob das eindeutige Urteil des EuGH zu Rechtssicherheit führt. Wie und in welchem Umfang kann die Sitztheorie weiterleben, ohne daß erneut der EuGH ihr bescheinigen muß, daß sie die Niederlassungsfreiheit unzulässig beschränkt? Forsthoff ahnt schon heute "längere Rückzugsgefechte" ihrer Vertreter und sieht, daß Rechtssicherheit erst in einigen Jahren herrschen wird (FAZ v. 13.11.2002). Es bleibt daher bei einer Empfehlung: "Sitz- oder Gründungstheorie: Der Gesetzgeber muß endlich Farbe bekennen!" (vgl. Stieb, GmbHR 1999, R 257).


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