Dipl.-Kfm. Karl-Heinz Jäger,
Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Stuttgart

Zweifelsfragen zur Zahlungsunfähigkeit nach der Insolvenzordnung

Die Beiträge und Entscheidungen in diesem Heft zeigen es leider sehr deutlich: Insolvenzfälle bei Unternehmen sind nach wie vor ein aktuelles Thema, und Insolvenzverwalter und Betroffene streiten oft um Frage und Zeitpunkt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit war im Gesetz nach der bis 31.12.1998 geltenden Rechtslage nicht definiert. Aus § 102 Abs. 2 KO ergab sich lediglich, daß die Zahlungseinstellung für die Zahlungsfähigkeit symptomatische Bedeutung hatte. Die Definition, die sich in Literatur und Rechtsprechung herausgebildet hatte, bestimmte die Zahlungsunfähigkeit als "das auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhende dauernde Unvermögen eines Schuldners, seine sofort zu erfüllenden Geldschulden im wesentlichen zu berichtigen", wobei lediglich die ernstlich eingeforderten Verbindlichkeiten zu berücksichtigen waren (vgl. z.B. WP-Handbuch 2000, Band I, S. 2064).

I. Neue Definition des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit

Nach der am 1.1.1999 in Kraft getretenen neuen Insolvenzordnung liegt Zahlungsunfähigkeit vor, wenn ein Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (vgl. § 17 InsO). Drohende Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit zu erfüllen (vgl. § 18 Abs. 2 InsO).

Entgegen den Empfehlungen der Betriebswirtschaftslehre hat die Insolvenzrechtskommission in ihrem Definitionsvorschlag auf das Merkmal der "Wesentlichkeit" verzichtet, während in diesem Vorschlag das Erfordernis der "Dauerhaftigkeit" beibehalten wurde (vgl. Himmelsbach/Thonfeld, NZI 2001, 11). In der Legaldefinition wurden indessen beide Merkmale weggelassen. Den Wegfall des Merkmals der Dauer erklärt die Begründung zum Regierungsentwurf damit, daß eine eindeutig nur vorübergehende Illiquidität selbstverständlich keine Zahlungsunfähigkeit darstelle und dies deshalb nicht besonders zum Ausdruck gebracht werden müsse (vgl. Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 1999, S. 223). Den Wegfall des Merkmals des "wesentlichen Teils der Verbindlichkeiten" erläutert die Begründung zum Regierungsentwurf damit, daß den bisherigen Tendenzen zu einer übermäßig einschränkenden Auslegung des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit entgegengewirkt werden müsse, und daß andererseits selbstverständlich sei, daß ganz geringfügige Liquiditätslücken außer Betracht bleiben müßten (vgl. Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 1999, S. 223.). Zum Merkmal der "ernstlichen Einforderung der fälligen Verbindlichkeiten" äußert sich die Begründung zum Regierungsentwurf nicht.

Daß durch die erstmalige Legaldefinition die Unklarheiten der Vergangenheit beseitigt wurden, läßt sich nicht behaupten. Vielleicht war dies auch nicht beabsichtigt. Die Diskussion hat sich lediglich bezüglich der Dimensionen verändert. Heute wird nicht mehr darüber gestritten, was ein wesentlicher Teil sein könnte, sondern nunmehr was ganz geringfügige Liquiditätslücken sein können. Was als lediglich vorübergehende Illiquidität zu verstehen ist, ist nahezu im gleichen Umfang unklar geblieben und streitig.

Für die nicht nur vorübergehende Illiquidität besteht anscheinend eine h.M., daß sie nach Ablauf eines Monats des Bestehens der Liquiditätslücke nicht mehr gegeben sein soll (vgl. z.B. Uhlenbruck, GmbHR 1999, 320). Eine nicht mehr ganz geringfügige Liquiditätslücke ist nach h.M. oberhalb einer Unterdeckung von 10 % nicht mehr gegeben (vgl. z.B. Tenzlin, NZG 1999, 1206). Während der h.M. zur Höhe einer geringfügigen Liquiditätslücke vom Verfasser zugestimmt werden kann, trifft dies für die Merkmale der "Dauerhaftigkeit" und der "ernstlichen Einforderung" nicht zu.

II. Vorübergehende Illiquidität

Es ist einzusehen, daß für die Auslösung der Insolvenzantragspflicht eine greifbare Grenze bestimmt werden muß, damit die Verpflichtung einschließlich der Strafbewehrung nicht beliebig bestimmt werden kann. Die von der h.M. gesetzte Grenze von einem Monat für den Beginn des Andauerns einer Illiquidität erscheint auch nachvollziehbar.

Jedoch hat sich bei der nachträglichen Beurteilung des Eintretens einer Zahlungsunfähigkeit in der Praxis ergeben, daß auch nach Zeiträumen von mehr als einem Monat, in denen ein Unternehmen eine Illiquidität aufwies, wieder ein Zustand der andauernden Liquidität eintrat. Zumindest bei der retrospektiven Feststellung einer Zahlungsunfähigkeit kann eine solche spätere Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit nicht unbeachtet bleiben. Nach der Begründung zum Regierungsentwurf ist eben eine eindeutig nur vorübergehende Illiquidität nicht mit einer Zahlungsunfähigkeit gleichzusetzen, ohne daß hier ein Zeitraum genannt wurde. Entscheidend hierbei muß sein, ob die wieder eingetretene Zahlungsfähigkeit bis zum Zeitpunkt der Betrachtung angehalten hat. Ist dies der Fall, kann die frühere Illiquidität nur als vorübergehend beurteilt werden. Im anderen Fall muß die wieder eingetretene Zahlungsfähigkeit als vorübergehend beurteilt werden, was eine Einstufung der früheren Illiquidität als nicht nur vorübergehend nach sich ziehen müßte.

Bei der Störung des finanziellen Gleichgewichts kann es sich um eine vorübergehende Erscheinung oder um eine solche von Dauer handeln. Im Falle einer zeitlich begrenzten und überschaubaren finanziellen Schwierigkeit (z.B. durch verspätetes Eintreffen von Einnahmen oder verzögerte Dispositionsmöglichkeit über verbindlich zugesagte Kredite) kann lediglich von einer Zahlungsstockung oder Unterliquidität gesprochen werden, die zwar eine momentane Zahlungsunfähigkeit darstellt, jedoch im Hinblick auf die Zeitkomponente nicht als Zahlungsunfähigkeit im Sinne der o.g. Definition anzusehen ist. Bei der Zahlungsstockung kann der Schuldner erwarten, daß er innerhalb eines Zeitraums, der nach der Verkehrsauffassung den Mangel an flüssigen Mitteln als nur vorübergehend erscheinen läßt, seine Gläubiger noch befriedigen kann (vgl. Uhlenbruck, Insolvenzrecht, 1983, S. 148, Rz. 391). Zahlungsunfähigkeit liegt demgegenüber erst dann vor, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen ist, daß der Schuldner seine Zahlungsverpflichtungen auf längere Sicht nicht erfüllen kann. Welcher Zeitraum dem Merkmal dauernd bzw. längere Sicht genügt, ist höchstrichterlich auch heute nicht festgelegt. Nach langjährigen Beobachtungen verschiedener Autoren ist jedoch nicht anzunehmen, daß ein Unternehmen, nachdem es ein viertel Jahr lang keine ausreichende Liquidität hatte, wieder aus der Unterliquidität herausgeführt werden kann. Eine dauernde Unterliquidität läßt sich aber zweifellos auch innerhalb eines kürzeren Zeitraums konstatieren, wenn die Liquiditätslage eine gleichbleibend schlechte oder gar eine sich noch verschlechternde Tendenz aufweist (vgl. Schlüchter, NWR 1978, 268).

III. Ernstliche Einforderung von Verbindlichkeiten

In seinen Urt. v. 30.4.1959 -- IX ZR 179/58, KTS 1960, 38 und v. 3.3.1959 -- IX ZR 176/58, WM 1959, 470 wollte der BGH ausschließen, daß fällige Verbindlichkeiten bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit berücksichtigt würden, die möglicherweise stillschweigend gestundet wurden. Diese Rechtsprechung wurde nicht verlassen. Auch in der inzwischen ergangenen Rechtsprechung zur Insolvenzordnung geschah dies nicht.

Nach der Begründung zum Regierungsentwurf zur Insolvenzordnung soll die neue Legaldefinition derjenigen Definition entsprechen, die sich in Rechtsprechung und Literatur für die Zahlungsunfähigkeit durchsetzte (vgl. Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 1999, S. 222). Zu dieser Definition gehört auch die ernstliche Einforderung. Die Nichtzahlung fälliger, aber nicht ernstlich eingeforderter Verbindlichkeiten ist insolvenzrechtlich irrelevant (vgl. Veit, ZIP 1982, 276, zitiert von Burger/Schellberg, BB 1995, 264). Wenn eine Schuld gestundet wird, verschiebt sich ihre Fälligkeit.

Burger/Schellberg, BB 1995, 264 sehen in der Normierung des Kriteriums der Fälligkeit in der Insolvenzordnung eine Abkehr von der Praxis, daß man mit der Erfüllung von fälligen Zahlungsverpflichtungen bis zum Eintreffen von Mahnungen oder Klagen zuwartet. Diese Praxis sehen diese Autoren hinter dem Begriff der "Stillschweigenden Stundung". Sie wollen von der Fälligkeit eines Anspruchs ausgehen, solange keine Stundung in intersubjektiv nachvollziehbarer Form vorliegt. Diese Auffassung erscheint nachvollziehbar und logisch. Allerdings steht sie nicht im Einklang mit der zitierten BGH-Rechtsprechung, nach der eben auch diese sog. stillschweigenden Stundungen bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen sind.

Es ist eindeutig, daß es bis zur Einführung der Insolvenzordnung keine Legaldefinition der Zahlungsunfähigkeit gab. Wenn nun die erstmalige Legaldefinition der Zahlungsunfähigkeit die ernstliche Einforderung einer Verbindlichkeit nicht als Kriterium für die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nennt, kann man nicht sagen, daß der Gesetzgeber gegenüber seiner früheren Auffassung eine Kehrtwendung gemacht hat. Eine frühere Auffassung war eben gerade nicht kodiert. In der Begründung zum Regierungsentwurf wird jedoch ausdrücklich dargestellt, daß die Definition zugrunde gelegt wird, die sich in Rechtsprechung und Literatur für die Zahlungsunfähigkeit durchgesetzt hat. Hierzu gehört die ernstliche Einforderung von Verbindlichkeiten. Man kann also keinesfalls aus der neuen Legaldefinition der Zahlungsunfähigkeit schließen, daß der Gesetzgeber -- anders als bei der früheren Definition der Zahlungsunfähigkeit -- auf das Merkmal der ernsthaften Einforderung der Verbindlichkeiten verzichtet hat. Wie früher auch, hat er dazu nur nichts gesagt.

Weshalb vor diesem Hintergrund nun das Kriterium der ernstlichen Einforderung weggefallen sein soll, wo es nicht einmal die im Regierungsentwurf relativierten Merkmale der Dauer und der Wesentlichkeit sind, erscheint nicht nachvollziehbar. Fällige Verbindlichkeiten können nach wie vor stillschweigend oder ausdrücklich gestundet werden.

IV. Vereinfachung für die Praxis?

Möglicherweise liegt dieser derzeit anscheinend h.M. eine erwünschte vermeintliche Vereinfachung zugrunde. Anstelle des mühsamen Heraussuchens von Mahnungen, Klagen, Mahnbescheiden, Pfändungsprotokollen und Anderem aus den Geschäftsunterlagen eines Schuldners könnte durch die einfache Bestimmung des Verzugseintritts nach 30 Tagen eine deutliche Vereinfachung eintreten. Allerdings wird hierbei verkannt, daß es sich dabei nur um die gesetzlich fixierte Fälligkeit handelt, daß dem gegenüber die vertraglich bestimmte Fälligkeit früher oder später eintreten kann. Die tatsächlichen Probleme, mittels Rechnungen und Schriftverkehr den Zeitpunkt der Fälligkeit von Verbindlichkeiten festzustellen, sind eindeutig größer (vgl. Burger/Schellberg, BB 1995, 264). Gerade für unternehmensexterne Personen wie z.B. Richter oder Sachverständige ist die Bestimmung des Zeitpunkts der sofortigen Erfüllung bzw. Fälligkeit anhand von Mahnungen usw. im Zweifel einfacher und eindeutiger als die Feststellung von vertraglich vereinbarten Fälligkeitsfristen.

Fazit: Bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners ist daher auch nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung lediglich von den ernstlich eingeforderten Verbindlichkeiten auszugehen, damit evtl. stillschweigende Stundungen nicht unberücksichtigt bleiben.