Dr. Jochen Blöse, MBA / Dr. Heike Wieland-Blöse*

 

Neufassung des Überschuldungsbegriffs in § 19 Abs. 2 InsO: Es lebe die Prognose

 

Durch Art. 5 des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes -- FMStG (BGBl. I 2008, 1982 ff.) hat § 19 Abs. 2 InsO eine neue Fassung erhalten. Danach liegt eine Überschuldung nunmehr nicht mehr vor, wenn "die Fortführung des Unternehmens ... nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich" ist. Dies entspricht dem Überschuldungsverständnis, das vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung vorherrschend war (zweistufig modifizierter Überschuldungsbegriff). Kennzeichnend ist, dass die Fortführungsprognose nicht lediglich die Bewertungsprämisse für die Wertansätze im Überschuldungsstatus liefert, sondern eigenständige Bedeutung neben der rechnerischen Überschuldung hat. Bei positiver Fortführungsprognose kann auf die Erstellung eines Überschuldungsstatus verzichtet werden, bei negativer Fortführungsprognose ist diese neben der rechnerischen Überschuldung kumulative Tatbestandsvoraussetzung einer insolvenzrechtlichen Überschuldung und gewinnt damit entscheidende Bedeutung für die Gesamtaussage einer Überschuldungsprüfung. In der Folge wird der Stellenwert der Fortführungsprognose deutlich gestärkt, die Relevanz des Überschuldungsstatus hingegen abgeschwächt. Die Reaktion auf diese Neuregelung ist durchaus geteilt: Während z.B. K. Schmidt, DB 2008, 2467 ff. sich zustimmend äußert und dafür plädiert, die Rückänderung in die bisherige Fassung ab dem 1.1.2011 zu verhindern, äußern sich z.B. Böcker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289 ff. -- in diesem Heft -- kritisch.

 

Verhinderung einer Insolvenzantragswelle -- und Zielkonflikt

Einigkeit wird darüber bestehen, dass es nicht wünschenswert ist, dass durch die aktuelle wirtschaftliche Situation eine neue Insolvenzantragswelle ausgelöst wird. Dies zu verhindern ist das explizite Ziel der Neuregelung. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom 14.10.2008 (BT-Drucks. 16/10600) führt dazu aus:

"Der Gesetzentwurf will das ökonomisch völlig unbefriedigende Ergebnis vermeiden, dass auch Unternehmen, bei denen die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie weiter erfolgreich am Markt operieren können, zwingend ein Insolvenzverfahren zu durchlaufen haben. ... Künftig wird es deshalb wieder so sein, dass eine Überschuldung nicht gegeben ist, wenn nach überwiegender Wahrscheinlichkeit die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig zur Fortführung ausreicht."

Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah i.Ü. noch vor, dass § 19 Abs. 2 InsO endgültig geändert wird. Erst durch die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (BT-Drucks. 16/10651) ist ein neuer Art. 6 angefügt und in dessen Abs. 3 die Rückänderung von § 19 Abs. 2 InsO vorgesehen worden. Diese Rückänderung tritt am 1.1.2011 in Kraft (Art. 7 Abs. 2).

Durch die jetzt vorgenommene Änderung des § 19 Abs. 2 InsO tritt ein Zielkonflikt wieder in aller Deutlichkeit hervor: Einerseits soll durch die Insolvenzantragspflicht verhindert werden, dass der Rechtsverkehr mit nicht mehr leistungsfähigen Rechtsträgern in Kontakt tritt, andererseits ist es nicht gewünscht, dass "zu früh" Insolvenzantrag gestellt werden muss. Der Gesetzgeber der Insolvenzordnung hatte diesen Zielkonflikt zugunsten des Gläubigerschutzes gelöst. In diesem Zusammenhang darf erinnert werden an den seinerzeitigen Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 15.4.1992 (BT-Drucks. 12/2443), in dem die Abänderung des damaligen Überschuldungsbegriffs, der heute wieder gilt, wie folgt begründet wurde:

"Eine positive Prognose für die Lebensfähigkeit des Unternehmens -- die leicht vorschnell zugrunde gelegt wird -- darf die Annahme einer Überschuldung noch nicht ausschließen; sie erlaubt nur, wenn sie nach den Umständen gerechtfertigt ist, eine andere Art der Bewertung des Vermögens. Die Feststellung, ob Überschuldung vorliegt oder nicht, kann also stets nur auf der Grundlage einer Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden getroffen werden."

Die ursprüngliche, seinerzeit noch in einem § 23 InsO vorgesehene Fassung des Überschuldungsbegriffs sah sogar -- anders als dann tatsächlich in § 19 Abs. 2 InsO Gesetz geworden -- nicht vor, dass eine Vermutung dafür aufgestellt wird, dass bei der Bewertung der Vermögensgegenstände im Zweifel Fortführungswerte anzusetzen sind.

 

Misstrauen in Fortführungsprognose

Der Gesetzgeber der Insolvenzordnung hegte ein nicht unerhebliches Misstrauen gegenüber der Validität der Aussagen in einer Fortführungsprognose. In der Tat erscheint dieses Misstrauen nicht ungerechtfertigt. In der Praxis sind solche Prognosen regelmäßig mit einer Vielzahl von einschränkenden Voraussetzungen versehen. Insbesondere dann, wenn Berater mit der Erstellung der Prognose beauftragt sind, neigen diese schon aus Gründen der Haftungsvorsorge dazu, den Aussagegehalt der Prognose dadurch drastisch zu reduzieren, dass die Basis der Beurteilung in die Formulierung von Voraussetzungen gekleidet wird. Die Aussage: "Wenn das nicht betriebsnotwendige Vermögen zu einem Preis von mindestens x Euro veräußert werden kann, die geplante Reduzierung der Arbeitnehmerzahl um x erreicht werden kann und die geplante Umsatzausweitung um x Euro erzielt werden kann, ist das Unternehmen überlebensfähig" ist aber ohne inhaltlichen Gehalt. Nur dann, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit der vorstehend beispielhaft genannten Voraussetzungen angegeben und gewichtet in das Ergebnis der Prognose einfließt, ist eine valide Aussage gegeben. Dies trägt im Grunde der Begriff Prognose bereits in sich, handelt es sich bei einer solchen doch um eine wissenschaftlich begründete Voraussage zukünftiger Entwicklungen, Zustände oder Ereignisse. Die Erstellung der Fortführungsprognose im Speziellen soll dabei bestimmten Regeln folgen (s. dazu Stellungnahme FAR 1/1996: Empfehlung zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen und auch IDW Prüfungsstandard 270: Die Beurteilung der Fortführung der Unternehmenstätigkeit im Rahmen der Abschlussprüfung). Und tatsächlich genügen auch die Planungen und Prognosen vieler Unternehmen diesen Anforderungen. Dies sind dann auch die im vorliegenden Zusammenhang unproblematischen Fälle; zum Schwur kommt es für die Neuregelung aber bei den eben auch zu beobachtenden anderen Fällen, in denen die Prognose den zu stellenden Anforderungen nicht genügt. Da durch die Neuregelung des § 19 Abs. 2 InsO ein Überschuldungsstatus ggf. entbehrlich ist, ist die Fortführungsprognose missbrauchsanfälliger.

 

Prognosehindernisse bzw. Aktualisierung von Fortführungsprognosen

Nicht auseinandergesetzt hat sich der Gesetzgeber offenkundig mit der Frage, welche Konsequenz es haben soll, wenn ein Unternehmen sich außerstande sieht, seine Geschäftsentwicklung für die nächste Zukunft zu prognostizieren. Vielleicht war der Gesetzgeber der Auffassung, sich mit dieser Konstellation nicht befassen zu müssen, da sie allzu unwahrscheinlich ist. Doch in Zeiten wie diesen, in denen große und größte Unternehmen erklären, die weitere Geschäftsentwicklung nur schwer abschätzen zu können, gilt es, sich auch mit einem solchen Szenario zu befassen. Soll ein ernsthafter Gläubigerschutz aufrechterhalten bleiben, kann Konsequenz nur sein, dass die rechnerische Überschuldungssituation alternativ zu Liquidations- und Fortführungswerten zu betrachten ist und im Falle des Vorliegens einer rechnerischen Überschuldung in beiden Szenarien in jedem Fall Insolvenzantrag zu stellen ist. Dies ist dann allerdings eine rechtliche Situation wie sie auch bislang bestand. Gleichfalls offen ist die Gestaltung des Übergangs, insbesondere wenn das Ende des Prognosezeitraums über das bereits heute bekannte Datum der Rückänderung hinausreicht.

Ebenfalls nicht angesprochen hat der Gesetzgeber die Frage, in welchem zeitlichen Abstand die Prognosen zu aktualisieren sind. In der Pressemitteilung des BMJ v. 13.10.2008 wird u.a. folgendes Beispiel dafür gegeben, wann die Neuregelung eine unnötige Insolvenz zu vermeiden hilft:

"Die vorgeschlagene Änderung nützt etwa auch einem Unternehmen, das ein neues Produkt zur Marktreife entwickelt hat, und bei dem sich schon bei der ersten Präsentation eine lebhafte Nachfrage abzeichnet."

Was nun, wenn die abzeichnende "lebhafte Nachfrage" nicht in einem überschaubaren Zeitraum zu Bestellungen führt? Anders gefragt: Wie konkret muss diese lebhafte Nachfrage sein und ab welchem Zeitpunkt oder bei Vorliegen welchen Umstands ist die positive Prognose der Unternehmensfortführung zu korrigieren? Darf der Antragsverpflichtete warten, bis sich Zahlungsunfähigkeit einstellt?

 

Identität der Fortführungsprognose mit drohender Zahlungsunfähigkeit

Die letztgenannte Frage führt zu einem anderen Problem. Wenn es zutrifft, dass die Fortführungsprognose im Rahmen einer Überschuldungsprüfung letztlich identisch ist mit der Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit (so Groß/Amen, WPg. 2003, 67 f., m.w.N.) so reduziert sich ohnehin die Funktion des Insolvenzantragsgrundes der Überschuldung auf eine Antragspflicht im Übergangsstadium zwischen drohender und tatsächlicher Zahlungsunfähigkeit.

Ist der vorstehende Befund richtig, dass Fortführungsprognosen letzten Endes häufig eine stark limitierte Aussage besitzen, so fragt sich, zu wessen Lasten dies geht. Einerseits sind, worauf vorstehend im Zusammenhang mit dem hervortretenden Zielkonflikt bereits hingewiesen wurde, Gläubigerinteressen tangiert. Andererseits sehen sich aber auch die Gesellschaftsorgane im Zweifel einem erheblichen Druck ausgesetzt. Wenn -- und so ist die Gesetzesbegründung und in viel deutlicheren Worten noch die o.g. Pressemitteilung des BMJ zu verstehen -- die Gesetzesänderung dazu führen soll, dass die Insolvenzantragspflicht bei positiver Fortführungsprognose -- jedenfalls zeitweise -- suspendiert werden soll, so lässt sich auf Ebene der Anteilseigner eine Neigung dahingehend vermuten, auf die Organe Druck auszuüben, bei der Anstellung der Fortführungsprognose einen Optimismus zu zeigen, der sich auf Grundlage der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Unternehmens nur schwer begründen lässt. Damit würde aber den Organen das Risiko des § 64 GmbHG und des § 15a Abs. 4 InsO aufgebürdet. Gerade im Hinblick auf die Haftungsverschärfung für GmbH-Geschäftsführer durch § 64 S. 3 GmbHG wird man dies dem Geschäftsführer nicht wünschen wollen.

Aber vielleicht gewinnt § 15a Abs. 3 InsO dadurch eine Breite in der Anwendung, die sich niemand vorzustellen vermochte.

 

*      Rechtsanwalt und Mediator (CfM) sowie Partner der Kanzlei Jacobs & Dr. Blöse, Köln bzw. Wirtschaftsprüferin und Steuerberaterin sowie Geschäftsführende Gesellschafterin der Warth & Klein GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Düsseldorf.

 



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