13 / 2016

Dr. Thomas Wachter, Notar, München

Welches ErbStG gilt seit dem 1.7.2016?

I. Entscheidung des BVerfG

Mit Urteil vom 17.12.2014 hat das BVerfG das bislang geltende ErbStG für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber zu einer verfassungskonformen Neuregelung aufgefordert (BVerfG vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. I 2015, 4 = BStBl. II 2015, 50 = GmbHR 2015, 88). Der amtliche Tenor der Entscheidung lautet (verkürzt) wie folgt:

  • 1. Mit Art. 3 Abs. 1 GG sind (seit dem Inkrafttreten des ErbStRG zum 1.1.2009) unvereinbar §§ 13a, § 13b ErbStG jeweils i.V.m. § 19 Abs. 1 ErbStG (auch in den seither geltenden Fassungen).

  • 2. 1Das bisherige Recht ist bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar. 2Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 30.6.2016 zu treffen.

II. Stand des Gesetzgebungsverfahrens

Die Frist für die Schaffung einer Neuregelung von über eineinhalb Jahren wurde allgemein als vergleichsweise großzügig angesehen. Gleichwohl hat es der Gesetzgeber nicht geschafft, diese Frist einzuhalten.

Der Bundesfinanzminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel und der Bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer haben sich am 20.6.2016 (dem Tag der Drucklegung dieser Ausgabe) doch noch auf die Eckpunkte einer Erbschaftsteuer-Reform verständigt (s. die „Gemeinsame Erklärung”, abzurufen unter www.gmbhr.de/volltexte.htm). Gleichwohl dürfte es noch ein weiter Weg bis ins Bundesgesetzblatt werden. Angesichts des jahrelangen Streits um die Erbschaft- und Schenkungsteuer ist die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat keineswegs eine bloße Formalität. Die Anrufung des Vermittlungsausschusses wäre alles andere als eine Überraschung. Die steuerpolitischen Diskussionen im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 (u.a. über die Wiedereinführung einer Vermögensteuer) werden das weitere Gesetzgebungsverfahren sicherlich nicht vereinfachen.

Angesichts der bevorstehenden (parlamentarischen) Sommerpause dürfte das Gesetzgebungsverfahren daher frühestens im Herbst 2016, vermutlich aber erst zum Jahresende 2016 abgeschlossen werden.

III. Fortgeltung oder Auslaufen?

Aufgrund der Fristversäumnis des Gesetzgebers stellt sich die Frage, welches ErbStG in Deutschland seit dem 1.7.2016 gilt. Das Thema wird in Wissenschaft und Medien kontrovers diskutiert. Dabei werden im Wesentlichen drei Auffassungen vertreten:

  • 1. Vollständige Fortgeltung: Das ErbStG bleibt auch nach dem 1.7.2016 in vollem Umfang (einschließlich auch der Verschonungsregelungen der §§ 13a, 13b ErbStG) weiter anwendbar.

  • 2. Partielle Fortgeltung: Das ErbStG bleibt auch nach dem 1.7.2016 weiter anwendbar, allerdings ohne die (verfassungswidrigen) Verschonungsregelungen der §§ 13a, 13b ErbStG, so dass der Erwerb von unternehmerischem Vermögen ab dem 1.7.2016 auf der Grundlage des gemeinen Werts und ohne jede Verschonung besteuert werden müsste (Reimer, BB 2016, Heft 14, Die Erste Seite).

  • 3. Vollständiges Auslaufen: Das ErbStG ist ab dem 1.7.2016 (mangels verfassungskonformer Tarifnorm) insgesamt nicht mehr anwendbar, so dass keinerlei Erbschaft- und Schenkungsteuer mehr erhoben werden kann (Drüen, DStR 2016, 643 ff.; Drüen, NJW-aktuell 2016/19, S. 15; Seer, GmbHR 2015, 113 [116]; Seer, GmbHR 2016, 673 ff. – in dieser Ausgabe).

Der zuständige Berichterstatter für die Entscheidung des BVerfG, Herr Prof. Dr. Michael Eichberger hat sich mehrfach dahin gehend geäußert, dass das ErbStG bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber (und nicht nur bis zum 30.6.2016) unverändert weiter anzuwenden ist (s. z.B. Tagungsbericht in FR 2015, 497 [499 f.]; ebenso Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom 6.7.2015 – WD4 - 3000 - 103/15; Guerra/Mühlhaus, ErbStB 2016, 146 ff.; Hannes/Reich, ZEV 2016, 316 ff.). Diese Auffassung wird vor allem damit begründet, dass der Tenor der Entscheidung des BVerfG insoweit bewusst in zwei voneinander getrennten Sätzen abgefasst worden sei. Die Weitergeltungsanordnung (Satz 1) sei unbefristet; befristet sei nur der Auftrag an den Gesetzgeber zur Schaffung einer Neuregelung (Satz 2). In den Tagesmedien wurde diese Auslegung der Entscheidung jüngst nochmals bestätigt (s. FAZ Nr. 75 vom 31.3.2016, S. 17: „Wenn sich die Politik nicht bis zum 1. Juli auf eine Reform der Erbschaftsteuer einigt, hat dies zunächst keine Konsequenzen. Die Normen sind dann erst einmal weiter anwendbar, sagte der Sprecher des Karlsruher Gerichts, Michael Allmendinger.”). Dem Vernehmen nach wird sich die Finanzverwaltung dem anschließen. Die Praxis kann (bzw. muss) sich somit darauf einstellen, dass das bisherige ErbStG auch nach dem 1.7.2016 unverändert weiter angewendet wird. Aber kann dies wirklich richtig sein?

Die Entscheidung des BVerfG bliebe danach ohne praktische Konsequenzen. Die Steuer könnte unverändert weiter erhoben werden, obwohl der Gesetzgeber zunächst ein verfassungswidriges ErbStG verabschiedet hat und dann auch noch den Auftrag zu einer Neuregelung missachtet hat. Das verfassungswidrige Verhalten wird durch das BVerfG offenbar in keiner Weise sanktioniert. Damit bestehen für den Gesetzgeber kaum noch Anreize, sich dauerhaft um ein verfassungskonformes ErbStG zu bemühen.

Der formale Hinweis auf die sprachliche Trennung des Tenors in zwei Sätze ist zwar zutreffend, kann aber nicht wirklich überzeugen. Das BVerfG hat in seinem Urteil nur eine „begrenzte Fortgeltung” des ErbStG angeordnet (BVerfG vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. I 2015, 4 = BStBl. II 2015, 50 = GmbHR 2015, 88, Rz. 285). In der amtlichen Pressemitteilung des BVerfG (Nr. 116/2014 vom 17.12.2014) wird gleichfalls ausgeführt, dass die „Vorschriften (...) zunächst weiter anwendbar” sind und „bis 30. Juni 2016 fort(gelten)”. Diese Ausführungen deuten darauf hin, dass das verfassungswidrige ErbStG lediglich für eine Übergangszeit, nicht aber dauerhaft weiter angewendet werden darf. Andernfalls hätte das BVerfG die Frist im Tenor auch ganz weglassen können.

Nach hier vertretener Auffassung ist das ErbStG zum 30.6.2016 ausgelaufen und darf seit dem 1.7.2016 insgesamt nicht mehr erhoben werden. Es fehlt an einer gültigen Tarifnorm (§ 19 Abs. 1 ErbStG), so dass die Erhebung der Steuer insgesamt „blockiert” ist (s. BVerfG vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. I 2015, 4 = BStBl. II 2015, 50 = GmbHR 2015, 88, Rz. 284). In der Praxis sollten entsprechende Steuerbescheide in jedem Fall offen gehalten werden.

IV. Anordnungen des BVerfG

Vielfach wird erwartet, dass das BVerfG in diesen Tagen ergänzende Anordnungen zu seiner Entscheidung erlassen könnte. Neben allgemeinen Vollstreckungsanordnungen (s. § 35 BVerfGG, dagegen zu Recht Drüen, DStR 2016, 643 [647 ff.]) soll angeblich auch über eine Verlängerung der Frist oder eine Präzisierung der inhaltlichen Anforderungen für eine Neureglung nachgedacht werden. Für solche Anordnungen fehlt es allerdings an einer Rechtsgrundlage. Das Verfahren vor dem BVerfG ist rechtskräftig abgeschlossen (s. BFH vom 20.1.2015 – II R 9/11, ZEV 2015, 242). Ein Wiederaufnahmegrund liegt nicht vor. Eine Wiederaufnahme ist weder gesetzlich vorgesehen (s. §§ 61, 79 BVerfGG) noch wurde eine solche von den Beteiligten beantragt. Das BVerfG muss die Untätigkeit des Gesetzgebers somit hinnehmen und kann nicht etwa als „Ersatzgesetzgeber” tätig werden (Art. 20 Abs. 3 GG).

V. Inkrafttreten und Rückwirkung

Wahrscheinlich wird der Gesetzgeber seinen Verpflichtungen (mit etwas Verspätung) doch noch nachkommen und zum Jahresende eine Neuregelung schaffen. Dem Vernehmen nach will man die Neuregelung dann aber rückwirkend zum 1.7.2016 in Kraft setzen. Eine solche Rückwirkung erscheint rechtspolitisch fragwürdig und verfassungsrechtlich bedenklich. Das ErbStG ist streng stichtagsbezogen (s. §§ 9, 11 ErbStG). Der Gesetzgeber würde somit nachträglich in bereits abgeschlossene Steuertatbestände eingreifen. Ein sachlicher Grund dafür ist nicht ersichtlich. Ein Gesetzgeber, der sich mit seinen eigenen Pflichten in Verzug befindet, darf die Folgen seiner Säumnis nicht auf die Steuerpflichtigen abwälzen. Vielmehr kann der Steuerpflichtige darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber seinem verfassungsrechtlichen Auftrag nachkommt – und zwar fristgemäß. Andernfalls muss der Gesetzgeber die Folgen seines verfassungswidrigen Verhaltens selbst tragen (und zwar auch in Form von etwaigen Steuerausfällen).

VI. Fazit

Das aktuelle Gesetzgebungsverfahren ist der unrühmliche Höhepunkt einer jahrlangen Diskussion um die Erbschaft- und Schenkungsteuer. Ein Ende ist dabei noch lange nicht in Sicht – weitere Streitigkeiten und Prozesse sind bereits heute abzusehen. Vielleicht findet das BVerfG eines Tages doch noch den Mut, diesem Trauerspiel ein würdiges Ende zu bereiten.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 20.09.2016 14:32