12 / 2017

Dr. phil. Dr. jur. Christian Schulte

EuGH Rs. C-106/16 – „Polbud”: Vor dem Gesetz steht immer ein Türhüter ...

I. Erster Akt: „Cartesio”

Es war einmal eine ungarische KG, die „CARTESIO Oktató ès Szolgáltató bt” mit Sitz in Baja (Ungarn), die wollte eine weite Reise, zunächst über Land, dann über das Meer, bis nach Italien antreten.

Im Gepäck wollte sie das ungarische Gesellschaftsrecht, das sie gewohnt war und auch liebgewonnen hatte, mitnehmen. Auch in Italien wollte sie eine ungarische KG bleiben. Doch als sie die ungarische Grenze passieren wollte, stand dort vor dem Ausgangstor ein Türhüter. Dieser sagte: „Wenn du hinaus gehst, wirst du sterben (Liquidation), denn das lässt unser Gesellschaftsrecht nicht zu.” Die KG versuchte es dennoch und verwies darauf, dass ihr dies in Wahrnehmung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) möglich sein müsse. Da sagte der Türhüter: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes ... Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter” (Franz Kafka, „Vor dem Gesetz”, Kap. 5, Berlin 1935). Das wollte die KG nicht akzeptieren; sie beschwerte sich bei den vorgesetzten Türhütern. Diese wollten aber nicht selbst über die Sache entscheiden und legten die Sache dem mächtigen obersten Türhütergremium in Luxemburg vor (Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV im Vorabentscheidungsverfahren).

Leider war die Nachricht aus Luxemburg nicht gut. Das oberste Türhütergremium entschied, dass der Türhüter in Ungarn zu Recht die Weiterreise unter Mitnahme der ungarischen Rechtsform und des ungarischen Gesellschaftsrechts untersagen durfte (EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 – Cartesio, GmbHR 2009, 86 m. Komm. W. Meilicke).


II. Zweiter Akt: „VALE”

Traurig reiste die KG wieder zurück nach Hause. Allerdings gab es einen Hoffnungsschimmer: Wenn man bereit wäre, auf die Mitnahme seines eigenen Gesellschaftsrechts und seiner ursprünglichen Rechtsform zu verzichten und am Ziel der Reise ein neues Leben im dortigen Gesellschaftsrecht beginnen würde, könnte es vielleicht klappen. Unsere ungarische KG war aber zu frustriert, um denselben Weg noch einmal zu versuchen; so bat sie eine Freundin, die italienische „VALE Construzioni srl” (italienische Gesellschaft mit beschränkter Haftung) mit dem Sitz in Rom, es doch einmal mit derselben Reise in umgekehrter Richtung zu probieren. Auch in Italien gab es einen Türhüter. Dieser war aber nicht so streng und grimmig wie sein ungarischer Kollege. Er nahm auf entsprechenden Antrag hin die Löschung der Gesellschaft im italienischen Handelsregister vor, versah die Eintragung mit dem Vermerk „Löschung und Sitzverlegung”, wobei er hinzufügte: „Die Gesellschaft hat ihren Sitz nach Ungarn verlegt” (Sachverhalt nach EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 – VALE, GmbHR 2012, 860 [LS]; abzurufen auch unter „www.gmbhr.de/volltexte.htm”); dann ließ er die Gesellschaft nach Ungarn weiterreisen. An der ungarischen Grenze begehrte unsere italienische srl nun Einlass und versprach dabei, sich im Rahmen eines Formwechsels in eine ungarische Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Firma „VALE Építési kft” zu verwandeln. Das fand der ungarische Türhüter nicht gut. Da das ungarische Gesellschaftsrecht eine solche Sitzverlegung unter Auswechselung des geltenden Gesellschaftsrechts und Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit nicht vorsehe und die ungarischen Vorschriften einen solchen Formwechsel auch nicht kennen würden, bekomme sie keinen Einlass. Da auch die beiden vorgesetzten Türhüter zu keiner anderen Entscheidung gelangten, kam es auf entsprechende Vorlage (Art. 267 AEUV) wieder zu einem Urteil des obersten Türhütergremiums in Luxemburg (EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 – VALE, GmbHR 2012, 860 [LS]). Dies entschied, dass die unionsrechtlichen Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften (Art. 49, 54 AEUV) so auszulegen seien, dass eine grenzüberschreitende formwechselnde Sitzverlegung („transformation transfrontalière”) möglich sein müsse. So bekam unsere italienische srl auch schließlich Einlass nach Ungarn und konnte unter Formwechsel in eine ungarische GmbH (kft) schließlich nach langer Reise ihre immer noch in Ungarn weilende Freundin, die „CARTESIO Oktató ès Szolgáltató bt”, besuchen.

„Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht” (Kafka, „Vor dem Gesetz”, Kap. 5, Berlin 1935).


III. Dritter Akt: „Die Checkliste ...”

Jetzt wussten alle, dass man als Gesellschaft in Europa auch umziehen darf, wenn man bereit ist, beim Überschreiten der Grenze seine alte Rechtsform aufzugeben und sich in eine zulässige Rechtsform des Zielstaats umzuwandeln; auch die Türhüter an den Grenzen waren insofern nun nicht mehr grimmig. Vor allem bei der Einreise in den Zielstaat stellte sich aber jetzt die Frage, welche „Einreiseformalitäten” denn beachtet werden müssten. Das wussten die Türhüter auch nicht so genau. Beim Handelsregister des AmtsG Charlottenburg wollte man dem innereuropäischen Gesellschafts-Reiseverkehr insoweit helfen und entwickelte hinsichtlich der zu beachtenden Formalia eine „Checkliste”, die aber keinesfalls die Passage erschweren sollte, sondern ein „Maximalprogramm” präsentieren sollte, bei dessen Erledigung man sicher sein konnte, auch von dem grimmigsten Türhüter hineingelassen zu werden („Checkliste” der Richterinnen und Richter des AmtsG Charlottenburg – Handelsregister – GmbHR 2014, R 311 f., abzurufen auch unter „www.gmbhr.de/gmbhr_arbeitshilfen.htm”). Das fanden einige reisende Gesellschaften aber zu kleinlich und beschwerten sich beim Obertürhüter in Berlin (Beschwerde zum Kammergericht, KG Berlin v. 21.3.2016 – 22 W 64/15, GmbHR 2016, 763). Der Berliner Obertürhüter verkannte dann aber, dass er die Sache auch dem obersten Türhütergremium in Luxemburg hätte vorlegen müssen (Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV) und entschied stattdessen nach eigenem Dafürhalten: Bei der Einreise einer fremden, dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterfallenden Gesellschaft nach Deutschland gäbe es jedenfalls dann, wenn es sich nicht um eine Aktiengesellschaft handelt, keine besonderen Formalia zu beachten. Es seien wie bei dem Formwechsel einer inländischen GmbH lediglich die §§ 190 ff. UmwG, hier analog, anzuwenden. Eine besondere Schutzbedürftigkeit von Gläubigern, Arbeitnehmern/innen oder Minderheitsgesellschaftern kam diesem Obertürhüter nicht in den Sinn. Schon gar nicht seien die an Art. 8 SE-VO orientierten Förmlichkeiten der „Checkliste” (aaO) anzuwenden (KG Berlin v. 21.3.2016 – 22 W 64/15, GmbHR 2016, 763).

Damit waren allerdings die Praxis beschäftigende Kernfragen wie etwa diejenige, ob und unter welchen Voraussetzungen der Weggang durch das Gesellschaftsrecht des „Wegzugstaats” beschränkt werden kann, wann eine solche Beschränkung gerechtfertigt wäre und ob die bloße Verlegung des Satzungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat, ohne dass dort nennenswerte Aktivitäten entfaltet werden, ausreicht, um sich auf die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 i.V.m. Art. 54 AEUV zu berufen, weiterhin ungeklärt. Es bedurfte daher mindestens eines weiteren „Türhütertests” um insofern ein weitergehendes Stück Klarheit und Rechtssicherheit für die gesellschaftsrechtliche Praxis zu bekommen.
„Was willst du denn jetzt noch wissen?”
fragt der Türhüter, „du bist unersättlich” (Kafka, „Vor dem Gesetz”, Kap. 5, Berlin 1935).


IV. Vierter Akt: „Polbud”

Diesen weiteren Test unternahm jetzt die „Polbud-Wykonawstwo sp. z.o.o” („Polbud”), indem sie ihren Satzungssitz von Polen nach Luxemburg verlegte, den Verwaltungssitz und den „Ort der tatsächlichen Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit” aber in Polen beließ (Sachverhalt nach Schlussanträgen der Generalanwältin Juliane Kokott v. 4.5.2017 – Rs. C-106/16 – Polbud, GmbHR 2017, 650 [LS] m. zust. Komm. Stiegler – in dieser Ausgabe). Der polnische Türhüter wollte die „Polbud” nicht weglassen, weil sie nur ihren Satzungssitz verlegt habe, dabei aber den „Schwerpunkt der geschäftlichen Aktivitäten” in Polen belassen habe. In dieser Konstellation könne eine Löschung der Gesellschaft im Handelsregister des Wegzugstaats erst nach Durchführung einer ordnungsgemäßen Liquidation erfolgen. Nach Beschwerde seitens der Gesellschaft folgte in der dritten Instanz (auf eine Kassationsbeschwerde hin) wiederum eine Vorlage nach Art. 267 AEUV und die Sache landete wiederum in Luxemburg. Die Generalanwältin Juliane Kokott positionierte sich in ihren Schlussanträgen vom 4.5.2017 vor allem zu der Frage, ob der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit auch dann eröffnet ist, wenn die Verlegung des Satzungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht mit einer Schwerpunktänderung bezüglich der geschäftlichen Tätigkeit einher geht. Dies soll wohl zu verneinen sein, wobei die Voraussetzungen an die Entfaltung einer Geschäftstätigkeit im Zielstaat nicht besonders hoch sein sollen. Dennoch stellt dies gegenüber der genannten Entscheidung des Kammergerichts eine Verschärfung in Richtung „Checkliste” dar. Weitere Erfordernisse und „Formalia” müssen beim Wegzug erfüllt werden, wenn dies aus Gründen den Schutzes von Gläubigern, Arbeitnehmern/innen und Gesellschaftern/innen geboten erscheint (vgl. hierzu instruktiv Stiegler, aaO) auch wenn die Forderung nach einem Liquidationsverfahren im Wegzugstaat sicher nicht das mildeste Mittel sein wird. Eine mit den §§ 122a ff. UmwG vergleichbare Lösung der „technischen Durchführung” des Wegzugs scheint nach den Schlussanträgen nicht ausgeschlossen.

Nach vorn schauend bleibt zu hoffen, dass das oberste Türhütergremium (EuGH) mit der bevorstehenden Entscheidung in der Rechtssache „Polbud” weitere Klarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der „technischen Anforderungen” an eine VALE-Sitzverlegung schafft. Noch besser für die schon lange wartende Praxis wäre der Erlass einer europäischen Sitzverlegungsrichtlinie, welche durch Transformation in das Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten ein mit der grenzüberschreitenden Verschmelzung (vgl. § 122a ff. UmwG) vergleichbares Maß an Rechtssicherheit auch in Detailfragen liefern würde.

Damit es dann nicht irgendwann heißt: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn” (Kafka, „Vor dem Gesetz”, Kap. 5, Berlin 1935).

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 28.08.2017 09:50