17 / 2017

Prof. Dr. Christoph G. Paulus, LL.M., Berlin

Die Entdämonisierung des Scheiterns: Ein EU-Richtlinienentwurf greift Schuldnern unter die Arme

I. Die Wirkungskraft der Tradition

Als die Insolvenzordnung die Konkursordnung ablöste, geschah die Namensänderung auch zu dem Zweck, den Regelungsgegenstand des finanziellen Scheiterns zu entstigmatisieren und den Focus von den zusammenlaufenden Gläubigern (Konkurs, lat. concurrere) hin zu der Situation des Schuldners (Insolvenz) zu verlagern.

Diese gute Idee scheiterte jedoch an den Verharrungskräften alteingesessener Vorurteile, in diesem Fall also an dem seit Jahrtausenden in das Tiefenbewusstsein der Bevölkerung abgesunkenen Makel des Konkurses. Das neue Wort Insolvenz half nicht lange; bald schon sprach man vom Makel der Insolvenz.

Das 2012 in Kraft getretene ESUG trat da bedachtsamer auf. Es nannte seine neu gestaltete Eröffnungsvariante „Schutzschirmverfahren” und löste damit ganz neuartige Empfindungen aus: Schutz! Schuldner schritten zunächst wohlgemut zum Insolvenzgericht. Bis sie allerdings merkten, dass der Schutz nur temporär – und auch teuer – ist; danach geht es überdies noch in ein Insolvenzverfahren. Also ist auch dieser Versuch nicht wirklich erfolgsgekrönt. Das wird gerade evaluiert.

Der tief sitzende Argwohn kommt nicht von ungefähr – gerade in Deutschland. Denn hier leitet man das Insolvenzrecht schon immer vom Vollstreckungsrecht her. Während dieses dem einzelnen Gläubiger einen Zwangszugriff auf das Vermögen seines Schuldners eröffnet, tut es jenes Rechtsgebiet zugunsten aller Gläubiger. Es geht mithin (s. § 1 InsO) um die Befriedigung der Gläubiger. Das ist der Grundtenor des hiesigen Insolvenzrechts.

In anderen Ländern ist das anders. In Frankreich etwa ist primäres Bestreben des Insolvenzrechts, Unternehmen und Arbeitsplätze in größtmöglicher Anzahl zu retten. Da müssen dann schon mal die Gläubiger mit ihrem Anspruch zurücktreten und sich mit weniger begnügen, wenn das geringere Angebot den Erhalt einer höheren Anzahl von Arbeitsplätzen verspricht. In England geht man gar noch einen Schritt weiter und gestaltet das Insolvenzrecht zur Förderung von Unternehmertum aus.

In den USA schließlich ist man noch radikaler und überantwortet dem Insolvenzrecht die Aufgabe, dem Schuldner die Möglichkeit zu einem Neustart zu verschaffen. Damit dürfte man am anderen Ende des Spektrums angekommen sein: in Deutschland möglichst optimale Befriedigung der Gläubiger, in den USA Schaffung eines fresh start für den Schuldner.


II. Ein europäischer Richtlinienentwurf

Genau hier setzt seit einigen Jahren die EU-Kommission ein, die festgestellt hat, dass durch Insolvenzen unionsweit alljährlich weit über 1 Mio. Arbeitsplätze verloren gehen. Sie versucht bereits seit einigen Jahren, die US-amerikanische, ideengeschichtlich allerdings wohl eng mit dem Gründungsmythos der USA verbundene Vorstellung einer second chance auch innerhalb der Union populär zu machen. Die Kommission liegt damit im Trend der Zeit; haben doch in jüngst vergangenen Jahren zunächst die vielfach diskutierten Migrationsfälle stattgefunden, gefolgt von den preiswerteren Fällen der Nutzung eines scheme of arrangement. Und Frankreich hatte schon lange immer wieder neue Präventionsmaßnahmen eingeführt und erprobt.

Wie schwierig es ist, solche eine Idee umzusetzen, konnte die Kommission daran ermessen, dass ihre 2014 ausgesprochene Empfehlung an die Mitgliedstaaten, ein Insolvenzvermeidungsverfahren in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen einzuführen, unerhört im Sande verlaufen ist. Brüssel veröffentlichte daraufhin Ende 2016 den Entwurf einer Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen (COM[2016] 723 final). Er ist getragen u.a. von der Absicht, Arbeitsplätze zu erhalten, billige Restrukturierungsalternativen für KMUs bereitzuhalten und gerichtliche Interventionen zu vermeiden. Der Entwurf enthält ein Bündel von Maßnahmen:

1. So sollen aussagekräftige Daten zur besseren Effizienzüberprüfung erhoben werden (Art. 29); es sollen auch Maßnahmen ergriffen werden, die die Fortbildung von Richtern und Restrukturierungsberatern sicherstellen (Art. 24 – 28); und es sollen Frühwarnsysteme eingerichtet werden (Art. 3). Letzteres gibt es natürlich im deutschen Recht – etwa in § 49 Abs. 3 GmbHG; doch angesichts eines immer wieder zu beobachtenden Sich-Blind-Stellens gegenüber den Alarmzeichen (aufschlussreich dazu A. v. Unruh in return 02/17, S. 64 ff.) ist es durchaus sinnvoll, weitere Warnungen zumindest zu überdenken. In Frankreich ist die procédure d’alerte allein den Arbeitnehmern überantwortet – es ist keine schlechte Idee, andere Betroffene an die Alarmglocke heranzulassen!

2. Als zweite Chance werden die Vorschriften über die Restschuldbefreiung (Art. 19 – 23) bezeichnet. Die Maximalfrist soll drei Jahre betragen, die allerdings in einem durch ein allgemeines Interesse gerechtfertigten Fall auch verlängert werden kann. Für andere Mitgliedstaaten als gerade Deutschland ist es bedeutsam, dass die mit einem Insolvenzverfahren einhergehenden anderweitigen Einschränkungen wie etwa der Verlust, bestimmte Ämter ausüben zu dürfen, oder der Entzug bestimmter Privilegien – gelegentlich Quarantänevorschriften genannt – ebenfalls nur für eine eng begrenzte Zeit angewendet werden dürfen.

3. Der mit Abstand wichtigste Abschnitt des Richtlinienentwurfs umreißt den präventiven Restrukturierungsrahmen (Art. 4 – 18). Nach seiner derzeitigen Ausgestaltung sieht er eine Fülle von Regularien vor, die seit einigen Monaten Gegenstand einer intensiven Debatte zwischen den Ministerien der Mitgliedstaaten und der Kommission sind. Insofern ist also bislang das Endprodukt noch nicht wirklich vorhersagbar. Überblicksartig sollen aber gleichwohl wenigstens die wichtigsten Elemente des Entwurfs beschrieben werden.

Der Einsatz des neuen Instruments soll nur dem Schuldner vorbehalten sein, und zwar bei einer Wahrscheinlichkeit der Insolvenz; Gläubiger können das Verfahren nicht initiieren, zumindest nicht ohne Zustimmung des Schuldners (Art. 4). Die Durchführung obliegt dem Schuldner grundsätzlich in Eigenverwaltung, ein Restrukturierungsverwalter soll ihm nicht in jedem Fall beiseite stehen (Art. 5). Ziel des Verfahrens ist die Abstimmung über einen Restrukturierungsplan; um ihn entwickeln und mit den Gläubigern verhandeln zu können, ist die Möglichkeit zu einem Moratorium vorgesehen (Art. 6), dessen Länge maximal vier Monate (allerdings verlängerbar auf 12 Monate) und das gegen einzelne oder auch alle Gläubiger gerichtet sein soll. Während dieses Moratoriums soll eine eventuell entstehende Insolvenzantragspflicht ebenso ruhen wie auch die Möglichkeit der Gläubiger, einen Insolvenzantrag zu stellen (Art. 7). Unbeschadet dieses veritablen Schutzschilds soll der normale Geschäftsgang unbehindert weiterlaufen können.

Art. 8 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Muster für einen Restrukturierungsplan vorhalten sollen; in ihm müssen u.a. Angaben über die von der Restrukturierung betroffenen Gläubiger (das müssen keineswegs alle sein) ebenso enthalten sein wie eine (aus dem Insolvenzplanverfahren bekannte, § 222 InsO) Klasseneinteilung. Bei der Abstimmung ist eine – die Minderheit bindende – Zustimmung erreicht, wenn maximal 75 % der Forderungs- oder Anteilshöhe in einer Klasse zustimmt (Art. 9). Grundsätzlich ist die Zustimmung jeder Klasse erforderlich, doch sieht Art. 11 die Möglichkeit eines sog. cross-class-cram-down vor: Danach genügt sogar die Zustimmung einer einzigen Klasse, wenn nur das in diesem Fall einzuspannende Gericht überzeugt ist, dass der Plan dem Gläubigerinteresse entspricht, und wenn die sog. absolute priority rule eingehalten ist. Nach dieser Regel darf ein Anspruchsberechtigter nur und erst dann etwas erhalten, wenn die vorgehenden Anspruchsberechtigten zu 100 % befriedigt sind. Das ist wirklich problematisch üblicherweise dann, wenn es um das Verhältnis Gläubiger zu Gesellschaftern geht.

Die nachfolgenden Vorschriften sehen noch eine Reihe von weiteren Absicherungen für den Erfolg dieses präventiven Restrukturierungsrahmens vor, etwa die Zuführung von neuem Kredit. Dieser muss in einem eventuell nachfolgenden Insolvenzverfahren zum einen anfechtungsfest, und zum anderen müssen daraus resultierende Forderungen vorrangig sein (Art. 16). Und nach Art. 18 ändern sich die allgemeinen verkehrsrechtlichen Verhaltenspflichten einer Unternehmensleitung: Ist die Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz gegeben, ist der grundsätzlich zulässige Eigennutz durch eine Rücksichtnahme auf die Interessen der Gläubiger zu ersetzen, und es sind Maßnahmen zur Vermeidung der Insolvenz einzuleiten.


III. Die Chance

Man sieht, dass das neue Instrument sich anschickt, dem Schuldner ganz massiv Hilfe zu gewähren – und das, obgleich kein Insolvenzeröffnungsgrund vorliegt. Ein Moratorium entbindet von der Gefahr einer Insolvenzeröffnung, Akkordstörer können „ausgebootet” werden, und der Schuldner kann sich gezielt die Gläubigergruppe aussuchen, mit der er seine Restrukturierung durchführen will. Auf Grund dieser Zielsetzung tobt ein massiver Diskurs im Blätterwald, der vielfach Anstoß nimmt an der fehlenden Anbindung an das allgemeine Insolvenzrecht, an Missbrauchsmöglichkeiten durch Schuldner, an der Vernachlässigung der Gläubigerinteressen, etc.

Was demgegenüber selten thematisiert wird, ist die mit dem neuen Instrument einhergehende Chance. Sie liegt darin, dass die USA mit ihrem Chapter 11-Verfahren ein vergleichbares, höchst erfolgreiches Instrument haben; Singapur stattet sich gerade mit Ähnlichem aus, um zum Restrukturierungszentrum Ostasiens mutieren zu können, und das Vereinigte Königreich hat mit seinem scheme of arrangement hohe weltweite Popularität in der Restrukturierungsbranche erzielt, die allerdings durch den Brexit massiver Einbuße ausgesetzt sein könnte (dazu Paulus, ZIP 2017, 910 ff.).

Wenn man jetzt also statt destruktivem und ermüdend abwehrbetontem Nörgeln gegenüber dem Ungewohnten sich auf konstruktive Kritik verständigte, könnte man ein praxistaugliches europäisches Instrument schaffen. Dazu müssen nur einige der missbrauchsanfälligen Elemente entschärft werden – z.B. Verkürzung des Moratoriums, Erhöhung der Voraussetzungen für einen cross-class-cram-down, etc. –, und man könnte das ganze Vorgehen beispielsweise in ein Zwei-Stufen-Modell einbetten – erstens, gerichtsfreie Verhandlung zwischen Schuldner und Gläubigern, zweitens, Moratorium und vorsichtige gerichtliche Einbindung bei fehlender Einstimmigkeit (vgl. Dammann in FS K. Wimmer, erscheint demnächst). Mit einem solchen Verfahren könnte man sich in Europa und anderswo den Gang nach London ersparen und hätte ein von der Praxis mit großer Wahrscheinlichkeit intensiv nachgefragtes Restrukturierungsinstrument an der Hand. Die Prognose darf gewagt werden, dass damit ein am Horizont aufscheinendes Scheitern viel von seinem Schrecken für den Unternehmer verlieren wird.

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Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht sowie Römisches Recht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 28.08.2017 09:54