03 / 2018

Matthias Hägele

Die einstweilige Verfügung auf Weiterbeschäftigung unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit!

I. Einführung

§ 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG kann ein „scharfes Schwert“ im Kündigungsschutzverfahren sein. Hat der Betriebsrat der ordentlichen Kündigung, sei sie betriebs-, verhaltens- oder personenbedingt, ordnungsgemäß widersprochen und hat der Arbeitnehmer Klage auf Feststellung erhoben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, so muss der Arbeitgeber grds. auf Verlangen des Arbeitnehmers diesen nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigen (§ 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG). Nun ist der Widerspruch des Betriebsrats gegen eine ordentliche Kündigung keinesfalls die Ausnahme, so dass der Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG über den sog. „allgemeinen Beschäftigungsanspruch“ hinaus geltend gemacht wird. Da ein Kündigungsschutzverfahren in erster Instanz schon einmal über ein Jahr dauern kann und gerade bei der betriebsbedingten Kündigung ggf. nach Wegfall des Arbeitsplatzes eine Beschäftigungsmöglichkeit erst neu geschaffen werden müsste, liegen die Risiken für den Arbeitgeber bei einstweiliger Weiterbeschäftigungsverfügung auf der Hand. Dies umso mehr, da die tatsächliche Beschäftigung nicht rückabgewickelt werden kann und die einstweilige Beschäftigungsverfügung so mit irreparablen Nachteilen für den Arbeitgeber verbunden sein kann. Dies führt dazu, dass die im Kündigungsschutzverfahren geführten Verhandlungen über einen Abfindungsvergleich zur (schnelleren) rechtssicheren Beendigung des Arbeitsverhältnisses, insbesondere durch den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG, geltend gemacht mit einstweiliger Verfügung, erheblich zugunsten des Arbeitnehmers beeinflusst werden können. Zwar kann der Arbeitgeber seinerseits direkt die Entbindung von der Weiterbeschäftigungsverpflichtung nach § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG beantragen, aber dieser nicht im Hauptsacheverfahren, nur im einstweiligen Verfügungsverfahren mögliche aktive Antrag hat enge, abschließende Voraussetzungen. Der komplizierte Entbindungsantrag kann mit h.M. nicht dem einstweiligen Weiterbeschäftigungsantrag des Arbeitnehmers als Einrede entgegengehalten werden (Rieble, BB 2003, 844 [849]). Da an die drei Entbindungsgründe, insbesondere „unzumutbare wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers“, sehr hohe Anforderungen gestellt werden, ist das Verfahren nach § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG selten erste Wahl. All dies lohnt einen Blick auf die streitigen, aber für den Arbeitnehmer gar nicht so leicht, wie vielfach unterstellt, erfüllbaren Voraussetzungen einer Leistungs-/Befriedigungsverfügung auf Weiterbeschäftigung.


II. Grundvoraussetzungen und Verfügungsanspruch

Grds. bedarf jede einstweilige Verfügung eines Verfügungsanspruchs und eines Verfügungsgrunds, mit welchem die Eilbedürftigkeit bzw. die Dringlichkeit der Anspruchsdurchsetzung, gerechtfertigt werden muss. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des gesetzlich geregelten Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG, abgesehen vom Widerspruch des Betriebsrats, erfüllt, wenn der Arbeitnehmer gegen die ausgesprochene ordentliche Kündigung form- und fristgerecht Klage i.S.v. § 4 KSchG erhoben hat und er seine Weiterbeschäftigung bis zum Abschluss des Kündigungsrechtsstreits verlangt. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass das Verlangen auch erst im Antrag auf Erlass einer entspr. Weiterbeschäftigungsverfügung liegen kann und der Antrag somit nach diesseitiger Beurteilung nicht aus dem Grund zurückgewiesen werden kann, dass der Arbeitnehmer außerprozessual die Weiterbeschäftigung nicht bereits verlangt hatte.

Sorgfältig zu prüfen ist, ob der Widerspruch des Betriebsrats tatsächlich ordnungsgemäß erfolgt ist. Es kommt durchaus vor, dass beim Widerspruch des Betriebsrats die Schriftform nicht eingehalten wird (Fax/Mail wohl nach BAG-Rechtsprechung ausreichend, BAG v. 10.3.2009 – 1 ARB 93/07, AP Nr. 127 § 99 BetrVG; a.A. n. LAG Baden-Württemberg v. 1.8.2008 – 5 TaBV 8/07, DB 2008, 2260 mit Verweis auf § 126a BGB) oder aber die Wochenfrist überschritten wird. Ferner setzt ein ordnungsgemäßer Widerspruch voraus, dass sich dieser einem der Widerspruchsgründe des § 102 Abs. 3 Nr. 1 – 5 BetrVG zuordnen lässt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Betriebsrat bei einem Widerspruch mit der Begründung nach § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG, also der Außerachtlassung bzw. nicht ausreichenden Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers, aufzuzeigen hat, welcher vom Arbeitgeber bei der sozialen Auswahl nicht berücksichtigte Arbeitnehmer sozial weniger schutzwürdig ist als der letztlich gekündigte (vgl. BAG v. 9.7.2003 – 5 AZR 305/02). Trägt der Betriebsrat hierzu nicht ausreichend vor, so ist der Widerspruch nicht ordnungsgemäß (LAG München v. 9.4.2009 – 4 SaGa5/09). Ferner ist als Einwendung gegen den Verfügungsanspruch zu prüfen, ob die Weiterbeschäftigung rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers entfällt, wenn dem Arbeitgeber die tatsächliche Entgegennahme der Arbeitsleistung unmöglich ist (BAG v. 27.2.2002 – 9 AZR 652/00, NZA 2002, 1099). Unmöglich ist eine Leistung aber nur, wenn sie tatsächlich nicht mehr erbracht werden kann, der Leistungserfolg also weder vom Schuldner, noch von einem Dritten herbeigeführt werden kann (BAG v. 13.7.1990 – 5 AZR 350/89). Es wird mithin nur in Ausnahmefällen gelingen, sich auf die Unmöglichkeit zu berufen. So wird i.d.R. von der Rspr. verlangt, dass es sich bei vorgetragener Streichung eines Arbeitsplatzes um eine irreversible Streichung handelt und eine etwaige Umverteilung bzw. Verlagerung von Aufgaben im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht zurückverlagert wird (ArbG München v. 20.7.2016 – 5 Ga 101/16, n.v.).


III. Erfordernis eines Verfügungsgrunds

Es ist zwar noch streitig, ob überhaupt und wie bei der Weiterbeschäftigungsverfügung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG ein Verfügungsgrund darzulegen ist. Insbesondere in der älteren Rspr. wurde die Erforderlichkeit eines Verfügungsgrunds mit Verweis auf den absoluten Fixschuldcharakter des Beschäftigungsanspruchs vielfach verneint, da mit jedem Tag der Nichtbeschäftigung der Weiterbeschäftigungsanspruch unmöglich würde (vgl. LAG Berlin v. 15.9.1980 – 12 Sa 42/80, DB 1980, 2449; LAG München v. 17.8.1994 – 5 Sa 679/94; LAG Köln v. 2.8.1984 – 5 Ta 133/84, NZA 1984, 300; differenzierend LAG Hessen v. 3.7.2012 – 15 SaGa 243/12). Inzwischen wird zutreffend darauf verwiesen, dass die allg. Grundsätze zur Geltendmachung eines Verfügungsgrunds auch für die Zulässigkeit einer sog. Befriedigungsverfügung zur Durchsetzung des Weiterbeschäftigungsanspruchs nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG zu beachten sind (LAG München v. 17.12.2003 – 5 Sa 1118/03, BeckRS 2005, 40569; LAG München v. 25.2.2010 – 3 SaGa 4/10; ArbG Köln v. 3.3.2008 – 1 Ga 28/08, BeckRS 2008, 50967; ArbG Leipzig v. 7.6.2006 – 17 Ga 25/06; LAG Berlin-Brandenburg v. 30.3.2011 – 4 SaGa 432/11, BeckRS 2011, 75318; LAG Rheinland-Pfalz v. 24.6.2015 – 4 SaGa 2/15; LAG Nürnberg v. 18.9.2007 – 4 Sa 586/07, BB 2008, 217; ArbG München v. 4.5.2016 – 22 Ga 44/16, n.v.). Denn auch die gesetzliche Regelung in § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG rechtfertigt bei zutreffender Auslegung keine Abweichung von den allg. Grundsätzen für die Zulässigkeit einer einstweiligen Befriedigungsverfügung und erst recht keinen Verzicht auf den nach diesen Grundsätzen gemäß § 940 ZPO darzulegenden Verfügungsgrund. Vielmehr ergibt sich aus § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG im Umkehrschluss, der für die einstweilige Verfügung auf Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht enge Anforderungen aufstellt, dass es für den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG bei den allgemeinen Regeln des einstweiligen Rechtsschutzes verbleiben soll (LAG München 17.12.2003 – 5 Sa 1118/03, BeckRS 2005, 40569).

Zusätzlich ist bei begehrter vorläufiger Weiterbeschäftigung zu berücksichtigen, dass es sich um eine sog. Leistungs-/Befriedigungsverfügung i.S.v. § 940 ZPO handelt und diese nur dann in Betracht kommt, wenn sie im Interesse eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes die einzige Möglichkeit darstellt, das behauptete Recht durchzusetzen. So ist zu prüfen, ob die
Anspruchsinteressen nicht durch die Regelungen des Annahmeverzugs ausreichend gesichert sind.


IV. Darlegung und Glaubhaftmachung des Verfügungsgrunds

Es reicht mithin nicht, wenn der Antragsteller darauf hinweist, ein Verfügungsgrund sei nicht erforderlich weil mit jedem Tag der Nichterfüllung des Beschäftigungsanspruchs dieser als Fixschuld einzustufende Anspruch erlösche. Dargelegt werden muss im Gegenteil, dass die im einstweiligen Rechtsschutz beanspruchte Maßnahme zur Abwendung von sonst nicht zu verhindernden, erheblichen Nachteilen dringend erforderlich ist. Ein solcher Nachteil liegt aber nur vor, wenn vorgetragen wird, durch die Nichterfüllung entstünden Beeinträchtigungen, die über das bloße Interesse an der sofortigen Erfüllung des Beschäftigungsanspruchs hinausgehen, wie etwa der drohende endgültige Verlust von notwendigen Kenntnissen oder Geschäftsbeziehungen. Liegt hierzu keine Glaubhaftmachung vor, sind die Interessen grds. durch die Vorschriften des Annahmeverzugs gesichert. Zugunsten des Arbeitgebers muss berücksichtigt werden, dass die tatsächliche Beschäftigung nicht rückabgewickelt werden kann und die zur Beschäftigung verpflichtende einstweilige Verfügung mit irreparablen Nachteilen verbunden sein kann. Es muss bei Weiterbeschäftigungsverfügungen nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG ggf. zulasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, wenn dieser vor Geltendmachung längere Zeit (unwiderruflich) freigestellt war. Es kommt nicht selten vor, dass der einstweilige Verfügungsanspruch auf Weiterbeschäftigung erst kurz vor Ablauf der Kündigungsfrist und/oder längere Zeit nach, zumindest konkludent einvernehmlich, erfolgter Freistellung geltend gemacht wird. Bei solchen Fällen ist die Dringlichkeit der Weiterbeschäftigungsverfügung durch den Verzicht auf jeglichen Rechtsschutz gegen einen längeren Freistellungszeitraum vom Antragsteller grds. selbst widerlegt (LAG München 17.12.2003 – 5 Sa 1118/03, BeckRS 2005, 40569). Man kann dem Arbeitnehmer zumuten, binnen eines Monats nach Zugang der ordentlichen Kündigung darüber zu entscheiden, ob die Weiterbeschäftigung durchgesetzt werden soll oder nicht (vgl. Baur in Dunkl/Moeller/Baur/Feldmeier, Hdb. des vorläufigen Rechtsschutzes, 3. Aufl. 1999, Rz. B85). Die Eilbedürftigkeit ist grds. bei längerer Kündigungsfrist widerlegt, wenn ohne Grund (jedenfalls bei gleichzeitiger Freistellung) mit dem Eilantrag bis kurz vor Ablauf der Kündigungsfrist gewartet wird. Dies gilt auch für die Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist, weil eine diesbezügliche Selbstwiderlegung, gleich eines „venire contra factum proprium“, als Ausschluss des für die Weiterbeschäftigungsverfügung erforderlichen Verfügungsgrunds aus dem Verhalten des Arbeitnehmers vor Ablauf der Kündigungsfrist folgen kann, da gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG das bisherige Arbeitsverhältnis fortbesteht und somit der Anspruch auf Weiterbeschäftigung nach Ablauf der Kündigungsfrist inhaltlich mit dem Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung bis zu deren Ablauf übereinstimmt. Es wird mit dem Weiterbeschäftigungsanspruch der schon vor Ablauf der Kündigungsfrist bestehende Beschäftigungsanspruch durchgesetzt und insofern ergibt sich gerade kein eigener Sondertatbestand aus § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG. Nimmt also der Arbeitnehmer monatelang unter Verzicht auf Rechtsschutz die mit Kündigung ausgesprochene Freistellung hin, so führt dies zu einer Selbstwiderlegung im Hinblick auf die notwendige Eilbedürftigkeit und er müsste umso mehr ein besonderes Interesse an einer bestimmten, sofortigen Beschäftigung zur Vermeidung von schweren Nachteilen vortragen.

Ferner muss die Frage der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzes bei der Prüfung der Dringlichkeit insofern berücksichtigt werden, dass von Bedeutung ist, ob und insbesondere inwieweit bei Geltendmachung im Hauptsacheverfahren der Weiterbeschäftigungsanspruch tatsächlich verloren gehen würde. Hierbei ist einerseits zu berücksichtigen, ob ein (vorläufig vollstreckbares) erstinstanzliches Urteil jedenfalls nicht sehr lange nach Ablauf der Kündigungsfrist erwirkt werden kann. Andererseits ist entgegensetzt zu berücksichtigen, wie lange der Antragsteller schon seinen nunmehr sofort vollziehbaren Beschäftigungsanspruch ohne weiteres verloren gehen lassen hat.


V. Fazit

Der Praxis wird angeraten, präzise die Dringlichkeit eines nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG im einstweiligen Verfügungsverfahren geltend gemachten Weiterbeschäftigungsanspruchs zu prüfen. In vielen Fällen wird hier zu wenig vorgetragen oder gibt der Sachverhalt eine Selbstwiderlegung her, so dass das „scharfe Schwert“ doch nicht so scharf ist.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 24.01.2018 13:43