09 / 2018

Dr. Jens-Uwe Hinder, LL.M. und Alexander Feldhaus

Verfassungswidrigkeit der Vorschriften zur Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer

I. Hintergrund

Mit Urteil vom 10.4.2018 – 1 BvL 11/14 u.a. (abzurufen auch unter „www.gmbhr.de/volltexte.htm“) hat das BVerfG Vorschriften des Bewertungsgesetzes sowie des Bewertungsänderungsgesetzes zur Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig erklärt. Wegen der Bedeutung der Grundsteuer für die Gemeinden hat dieses Urteil erhebliche praktische Auswirkungen und stellt die Finanzverwaltung bzw. den Gesetzgeber vor gewaltige Aufgaben.

1. Rechtliche Entwicklung

Die Vorschriften zur Einheitsbewertung des Bewertungsgesetzes (BewG) wirken sich mittlerweile nur noch auf die Grundsteuer aus. Andere Steuern, für die der Einheitswert Bedeutung hatte (z.B. Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer) werden entweder nicht mehr erhoben (z.B. Vermögensteuer seit dem Urteil des BVerfG vom 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 = GmbHR 1995, 668) oder haben Sonderregelungen erfahren (Rz. 2 des Urteils). Für die Bestimmung dieses Einheitswerts unterteilen die §§ 19 ff. BewG je nach der Art des belegenen Grundstücks; gemäß § 21 Abs. 1 BewG soll der Einheitswert alle sechs Jahre durch Hauptfeststellung festgestellt werden. Eine solche Hauptfeststellung stellt für die Finanzverwaltung angesichts der rund 35 Mio. zu bewertenden Einheiten einen massiven Aufwand dar, den die Finanzverwaltung für die alten Bundesländer zuletzt zum 1.1.1964 und für die neuen Bundesländer zuletzt zum 1.1.1935 auf sich genommen hat (ermöglicht durch Art. 2 Abs. 1 S. 1 u. 3 des Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes (BewGÄndG) v. 22.7.1970 (BGBl. I 1970, 1118), wonach eine neue Hauptfeststellung durch besonderes Gesetz angeordnet werden muss).

2. Sachverhalt

In dem vorliegenden Urteil hat das BVerfG sowohl über drei konkrete Normenkontrollanträge des BFH als auch über zwei Verfassungsbeschwerden zu entscheiden gehabt. Diese betreffen verschiedene Sachverhaltskonstellationen, in denen jeweils gegen die Einheitswertfestsetzung vorgegangen worden ist. Diese betrafen die Jahre 2002, 2006, 2008 und 2009 (s. Rz. 26 – 28; 45 u. 49 des Urteils).

3. Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG

a) Das BVerfG hat verschiedene Normen des BewG sowie Art. 2 Abs. 1 S. 1 u. 3 des BewÄndG v. 22.7.1970 ab 2002 insoweit für verfassungswidrig erklärt, als sie bebaute Grundstücke außerhalb des Bereichs der Land- und Forstwirtschaft und außerhalb des in Art. 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiets (neue Bundesländer) betreffen.

Hinsichtlich der Normenkontrollanträge hat das BVerfG eine Erweiterung der Frage auf die §§ 33 – 62 BewG (Land- und forstwirtschaftliches Vermögen) und §§ 125 ff. BewG (neue Bundesländer) abgelehnt, weil diese separat zu würdigen seien. Eine Übertragung der Entscheidung auf diese wird aber ausdrücklich nicht ausgeschlossen (Rz. 81). Auch im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden wurde hierüber nicht entschieden (Rz. 160 f.).

b) In materieller Hinsicht wurde entschieden, dass ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Dieser ist immer dann gegeben, wenn Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich behandelt wird und hierfür kein hinreichender Rechtfertigungsgrund vorliegt (Rz. 92).

Hierbei sei im vorliegenden Fall ein strenger Maßstab anzulegen. Art. 3 Abs. 1 GG verlange trotz des weiten Spielraums des Gesetzgebers ein realitätsgerechtes Bewertungssystem, insbesondere bei Steuern mit einheitlichem Steuersatz wie der Grundsteuer sei diese Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage besonders wichtig, weil Ungleichheiten nicht mehr auf Erhebungsebene kompensiert werden könnten. Daher gelte auch ein strenger Maßstab hinsichtlich der Rechtfertigung (Rz. 94 ff; 128).

Das BVerfG stellt zunächst klar, dass Art. 3 Abs. 1 GG auf die Grundsteuer für das gesamte Bundesgebiet anwendbar sei. Der Gleichbehandlungsgrundsatz könne sich nur gegen denselben Grundrechtsverpflichteten richten (BVerfG v. 7.11.2002 – 2 BvR 1053/98, BVerfGE 106, 225). Die Einheitsbewertung gelte bundesweit, das Hebesatzrecht der Gemeinden ändere daran nichts, da soweit die Regelungen der Einheitswerte vorgegeben seien und durch das Hebesatzrecht nicht verändert würden (Rz. 99 ff.).

Das Gericht legt ausführlich dar, dass die Aussetzung einer erneuten Hauptfeststellung über einen so langen Zeitraum zu Ungleichbehandlungen durch ungleiche Bewertungssysteme führe, weil sich ändernde Fakten (z.B. die Umgebung) nicht berücksichtigt würden (Rz. 103 ff.). Die Ungleichbehandlung ergebe sich nicht aus der allgemein fehlenden Genauigkeit der Werte hinsichtlich ihrer Beschreibung des Werts, sondern aus ihrer ungleichen Ungenauigkeit. Im Laufe der Zeit entfernten sich bei fehlender Aktualisierung alle Einheitswerte immer weiter von dem Wert der zu bewertenden Einheiten – dies täten sie jedoch nicht im gleichen Maße, bei manchen Grundstücken sei die tatsächliche Wertveränderung deutlich größer als bei anderen. Auf diesem Wege entstehe eine ungleiche Belastung der Steuerpflichtigen, die auch vom Zufall abhänge (Rz. 104 ff.).

Demgemäß führt das Gericht anhand einer Vielzahl von Beispielen aus, wieso sich aus dem Unterlassen von weiteren Hauptfeststellungen eine Ungleichbehandlung der genannten Art unter den Steuerpflichtigen bei Anwendung des Ertragswertverfahrens (§ 76 Abs. 1, §§ 78 ff. BewG) ergibt. Nach dem Ertragswertverfahren wird die Miete auf den 1.1.1964 bezogen geschätzt und ein Vervielfältiger darauf angewendet. Bauveränderungen seit 1964 werden somit nicht berücksichtigt. Es werden zur Ermittlung der Miete weiterhin die inzwischen veralteten Kriterien von 1964 angewendet (z.B. zentrale Warmwasserversorgung als besonderer wertbildender Faktor) und heutige wertbildende Faktoren würden nicht berücksichtigt (Rz. 111 ff.). Diese Problematik beträfe in gleicher Weise auch das Sachwertverfahren gemäß §§ 76 Abs. 2, 83 ff. BewG, da hierbei gemäß § 85 BewG die Baupreisverhältnisse des Jahres 1958 anzuwenden seien, die jedoch für neuere Gebäude und renovierte Gebäude ungeeignet seien (Rz. 123 ff.).

Diese Ungleichbehandlung ist nach Auffassung des BVerfG nicht gerechtfertigt, wobei es einen strengen Maßstab für die Grundrechtsverletzung anlegt, da die Wertverzerrungen flächendeckend, zahlreich und teilweise erheblich aufträten (Rz. 127 ff.).

Die Vermeidung zu großen Verwaltungsaufwands könne den Gleichheitssatzverstoß nicht rechtfertigen. Die Verwaltungsvereinfachung sei zwar ein gewichtiger Grund, aber hier nicht ausreichend, weil bei Ausnutzung des Spielraums des Gesetzgebers die Bemessungsregeln in der Lage sein müssten, den „Belastungsgrund realitätsgerecht abzubilden“ (Rz. 130 ff.).

Auch eine Rechtfertigung aus Gründen der Typisierung und Pauschalierung sei abzulehnen. Besonderheiten des Einzelfalls könnten zwar vernachlässigt werden, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sei, ein einleuchtender Grund bestehe und sich die Regelung am typischen Fall orientiere. Hier seien aber die Wertverzerrungen nicht auf den atypischen Fall beschränkt, sondern beträfen die Wertfeststellungen im Kern (Rz. 135 ff.).

Auch den Einwand von nur geringen und deshalb leichter zu rechtfertigen Belastungswirkungen lässt das BVerfG nicht zu. Es lässt offen, ob solche „Geringfügigkeitsargumente“ überhaupt verfassungsrechtlich zulässig seien und führt aus, dass unabhängig davon, dies zumindest dann ausscheide, wenn wie vorliegend substantielle und weit greifende Ungleichbehandlungen vorlägen. Art. 3 Abs. 1 GG gelte auch bei geringen Steuerbelastungen (Rz. 138 ff.).

Eine Rechtfertigung könne sich letztlich auch nicht aus §§ 22, 23 BewG ergeben. Diese seien zwar geeignet, einem Vollzugsdefizit entgegenzuwirken, aber nicht den beschriebenen Wertverzerrungen, weil auch bei §§ 22, 23 BewG gemäß § 27 BewG die Wertverhältnisse von 1964 zugrunde zu legen seien (Rz. 143 ff.). Im Weiteren wurde offen gelassen, ob überdies ein strukturelles Vollzugsdefizit bestehe. Da die Normen des BewG und des BewÄndG bereits materiell verfassungswidrig seien, könne eine Entscheidung darüber dahinstehen (Rz. 146).

In zeitlicher Hinsicht hat das BVerfG entschieden, dass die Verfassungswidrigkeit jedenfalls seit dem Jahr 2002 bestehe, was der für die vorliegende Entscheidung früheste streitrelevante Zeitpunkt sei. Für den Zeitraum davor wird keine Aussage getroffen (Rz. 147 ff.).

Das BVerfG hat nur die Verfassungswidrigkeit der Normen festgestellt, diese aber nicht für unwirksam erklärt. Die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften seien weiterhin gültig bis zum 31.12.2019. Bis dahin müsse der Gesetzgeber aber eine (bis 2002) rückwirkende Neuregelung schaffen. Die Übergangsfrist sei erforderlich, damit bis dahin noch weitere Einheitswertbescheide erlassen werden könnten. Diese Frist sei zumutbar, da der Gesetzgeber von der Angelegenheit nicht unvorbereitet getroffen werde (Rz. 164 ff.). Ab Verkündung der Neuregelung seien die Alt-Vorschriften dann weitere fünf Jahre anwendbar, längstens jedoch bis zum 31.12.2024, damit die Kommunen nicht in ernsthafte finanzielle Probleme gerieten (Rz. 169 ff.).


II. Stellungnahme

Das Urteil verdient Zustimmung, infolge der jahrzehntelangen unterbliebenen Neufeststellung der Einheitswerte ist eine gleichheitssatzgemäße Feststellung der Einheitswerte auf Basis der bestehenden Vorschriften nicht mehr möglich. Nicht zuletzt angesichts der derzeitigen Entwicklung der Immobilienwerte, kann die Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer nicht auf Werten von 1964 (alte Bundesländer) bzw. 1935 (neue Bundesländer) basieren. Da die schnelle Wertentwicklung nicht jede Immobilie in derselben Weise betrifft, ergeben sich zwangsläufig zum Teil überaus deutliche Unterschiede in der Belastung der Steuerpflichtigen. Bei manchen steigert sich der Wert dank Eröffnung eines nahe gelegenen Einkaufszentrums deutlich, bei anderen fällt er wegen einer nebenan eröffneten Autobahn ins Bodenlose; nichts davon wird in den Einheitswerten von 1964 bzw. 1935 abgebildet. Der Gesetzgeber hat dies „sehenden Auges“ tatenlos in Kauf genommen.

Dabei hat das BVerfG erfreulicherweise den Einwand der Bundesregierung nicht gelten lassen, dass wegen der angeblich geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Frage nur ein verringerter Rechtfertigungsmaßstab bezüglich Art. 3 Abs. 1 GG gelten solle. Ein solcher Ansatz wäre mit dem Charakter der Grundrechte unvereinbar. Diese gelten auch bei wirtschaftlich weniger bedeutsamen Sachverhalten. Vielmehr ist der Gesetzgeber aufgefordert, bei Schaffung einer Grundsteuer die Einheitswerte regelmäßig zu aktualisieren. Der bisher immer wieder erfolgte Aufschub der Lösung dieser Frage rächt sich nun, da die Frage jetzt mit enger Frist schnell gelöst werden muss. Die Frist ist so bemessen, dass sie wohl eingehalten werden kann, sie setzt den Gesetzgeber aber erheblich unter Druck, denn ein Verfahren über die Dauer der neuen Hauptfeststellung wurde seitens der Finanzverwaltung auf einen mehrjährigen Zeitraum geschätzt (Rz. 56). Auch wenn das vorliegende Urteil nur bestimmte Aspekte betreffen mag (alte Bundesländer, keine Land-/ und Forstwirtschaft, nur bebaute Grundstücke), ist der Gesetzgeber gut beraten, sämtliche Regelungen, die auf dem Einheitswert basieren, zu reformieren, da die Verfassungswidrigkeit dieser Normen ebenfalls zu erwarten ist.

Da bereits die materiellen Normen des BewG für verfassungswidrig befunden wurden, musste über das darüber hinaus vorliegende strukturelle Vollzugsdefizit nicht entschieden werden. Dieses liegt jedoch zusätzlich zu der materiellen Verfassungswidrigkeit der Normen vor. Auch materiell verfassungsmäßige Normen können wegen eines strukturellen Vollzugsdefizits verfassungswidrig sein. Dies wurde vom BVerfG bereits in der Vergangenheit für die Besteuerung von privaten Spekulationsgeschäften bejaht (BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 = GmbHR 2004, 439 [LS] m. Komm. Altrichter-Herzberg). Die dort aufgestellten Grund- sätze lassen sich auf die Regelung des § 22 BewG übertragen (näheres hierzu bei Hinder/Broekmann, Das Grundeigentum 2015, 434 ff.).


'III. Fazit

Das Urteil ist in der Sache richtig, setzt den Gesetzgeber jedoch in deutlichen Zugzwang. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Grundsteuer für die Gemeinden bleibt zu hoffen, dass es rechtzeitig gelingen wird, innerhalb der gesetzten Frist eine Neuregelung mit entsprechender Hauptfeststellung durchzuführen. Anderenfalls dürften sich erhebliche Konsequenzen für die kommunalen Haushalte ergeben.

Auch bei der letzten Hauptfeststellung war es gelungen, diese in einem vergleichbaren Zeitraum durchzuführen und der letzte Reformentwurf aus September 2016 (BR-Drucks. 515/16) sah eine Mindestzeit von sechs Jahren ab Inkrafttreten des Gesetzes vor. Der nun anstehende Aufwand wird zwar angesichts der älteren Datenlage und den voraussichtlich ebenfalls zu bewertenden neuen Bundesländern größer als in den 60er Jahren ausfallen, allerdings stehen ungleich bessere informationstechnische Systeme zu deren Bewältigung zur Verfügung.

Verlag Dr. Otto-Schmidt vom 02.05.2018 10:22