BGH v. 4.9.2019 - VII ZR 69/17

Überprüfung der erstinstanzlichen Überzeugungsbildung durch das Berufungsgericht

Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite wenn auch eingeschränkte Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin macht als Versicherer der V. GmbH & Co. KG aus übergeleitetem Recht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen eines Wasserschadens in einer Werkshalle geltend, der durch die mangelhafte Verlegung eines Kühlwasserschlauches einer Maschine entstanden sein soll.

Unter dem 4.11.2010 beauftragte die V. GmbH & Co. KG die Beklagte mit HLS-Arbeiten in ihrer Werkshalle zu einer Vergütung von netto rd. 128.000 €. Im Zuge dieser Arbeiten führte die Beklagte den Anschluss eines Kühlwasservorlaufschlauchs an das Temperier-Gerät der RTM-Presse aus. Am 3.4.2013 kam es zu einem Leitungswasserschaden in der Werkshalle. Der Kühlwasservorlaufschlauch des an der RTM-Presse befindlichen Temperier-Geräts hatte sich gelöst. Durch die Ablösung des Kühlwasserschlauchs traten erhebliche Mengen Leitungswasser aus, was zu einer Überschwemmung des Bodens in den Fertigungsbereichen führte und die RTM-Presse beschädigte. Auf dieser Grundlage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von rd. 128.000 € nebst Zinsen.

Das LG hat ein schriftliches Sachverständigengutachten zu der Frage der Ursächlichkeit der Ablösung des Kühlwasserschlauches eingeholt und den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört. Auf dieser Grundlage wies das LG die Klage ab, da die Klägerin eine mangelhafte Leistung der Beklagten beim Anschluss des Kühlwasserschlauchs an das Temperier-Gerät der RTM-Presse nicht habe beweisen können. Die Berufung der Klägerin hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Die Revision hat das OLG nicht zugelassen. Auf die Rechtsbeschwere der Klägerin hob der den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, da es die Ausführungen der Klägerin in der Berufungsbegründung zur Beweiswürdigung des LG nur eingeschränkt in die Bewertung der Erfolgsaussichten der Berufung einbezogen hat.

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Berücksichtigt das Berufungsgericht den Vortrag in der Berufungsbegründung aus rechtlichen Erwägungen nur eingeschränkt, verstößt dies gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn die rechtlichen Überlegungen des Berufungsgerichtes im Prozessrecht keine Stütze finden. So liegt es hier. Die Klägerin hat mit ihrer Berufungsbegründung dargelegt, welche Umstände die Beweiswürdigung des Landgerichtes in Frage stellen und deshalb beantragt, das landgerichtliche Urteil abzuändern und der Klage stattzugeben. Diesen Vortrag hat das OLG tragend nur unter dem Gesichtspunkt in seine Erwägungen einbezogen, ob damit Rechtsfehler in der Beweiswürdigung des LG zutreffend gerügt sind. Damit hat das OLG den Prüfungsmaßstab von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundlegend verkannt und die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Argumente der Berufungsbegründung unterlassen.

Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO).Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht. Daher hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen.

Diesen Prüfungsmaßstab hat das Berufungsgericht grundlegend verkannt. Das Berufungsgericht hat in seinem die Berufung zurückweisenden Beschluss vom 13. Februar 2017 die mit der Berufungsbegründung von der Klägerin gegen die Beweiswürdigung vorgetragenen Erwägungen tragend nur unter dem Ansatz geprüft, ob dem Landgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Berufungsgericht hat mehrfach ausgeführt, die Berufungsbegründung "ersetze … nur die gerichtliche Überzeugungsbildung durch ihre eigene". Das könne aber einen Rechtsfehler nicht begründen. Zwar hat das Berufungsgericht im Beschluss über die Zurückweisung der Berufung auf Seite 3 unten ausgeführt, die Argumentation der Klägerin überzeuge nicht. Auf Seite 4 des Beschlusses über die Zurückweisung der Berufung führt das Berufungsgericht aber sodann aus, es sei jedenfalls "nicht rechtsfehlerhaft", wenn das Landgericht gleichwohl zu dem Ergebnis seiner Beweiswürdigung gekommen sei.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.09.2019 17:04
Quelle: BGH online

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