BFH v. 22.5.2019 - I R 11/19 (I R 80/14)

Unionsrechtmäßigkeit der Hinzurechnungsbesteuerung im Drittstaatenfall

Die aufgrund des Steuersenkungsgesetzes vom 23.10.2000 am 1.1.2001 in Kraft getretenen Änderungen des Systems der Hinzurechnungsbesteuerung haben dazu geführt, dass die sog. Standstill-Klausel des Art. 57 Abs. 1 EG (jetzt: Art. 64 Abs. 1 AEUV) keine Anwendung mehr findet und die Hinzurechnungsbesteuerung im Zusammenhang mit Direktinvestitionen hinsichtlich einer in einem Drittstaat (hier: Schweiz) ansässigen Zwischengesellschaft sich fortan an der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 Abs. 1 EG, jetzt: Art. 63 Abs. 1 AEUV) messen lassen muss.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine im Inland ansässige GmbH. Sie war zu 30 % an der im Juni 2005 gegründeten Y-AG, einer schweizerischen Kapitalgesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in der Schweiz, beteiligt. Weitere Gesellschafterin war eine ebenfalls in der Schweiz ansässige anderweitige Kapitalgesellschaft.

Ende Juni 2005 hatte die Y-AG mit der (inländischen) Z-GmbH einen "Forderungskauf- und Übertragungsvertrag" abgeschlossen, mit dem sie Forderungen auf "Erlösbeteiligungen" gegenüber vier Sportvereinen erwarb. Den Kaufpreis für die Abtretung der "Erlösbeteiligungen" finanzierte die Y-AG in voller Höhe fremd. Die Klägerin gewährte der Y-AG im November 2005 ein Darlehen.

Das Finanzamt sah in der Y-AG eine Zwischengesellschaft für Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter i.S.v. § 7 Abs. 6 und 6a Außensteuergesetz i.d.F. des StVergAbG vom 16.5.2003 - AStG 2006. Es stellte zum 1.1.2006 gegenüber der Klägerin (für das Wirtschaftsjahr 2005) einen verbleibenden Verlustabzug für Verluste, die bei Einkünften entstanden sind, für die die ausländische Gesellschaft Zwischengesellschaft ist, i.H.v. 95.223 € gesondert fest (§ 18 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 3 Satz 5 AStG 2006, § 10d EStG). Zum 1.1.2007 stellte das Finanzamt gem. § 18 Abs. 1 AStG 2006 Einkünfte aus passivem Erwerb einer ausländischen Gesellschaft i.H.v. 546.651 € fest, die mit dem für das Vorjahr festgestellten Verlust verrechnet wurden.

Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hat der BFH das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschl. v. 12.10.2016 - I R 80/14. Daraufhin erging das EuGH-Urteil vom 26.2.2019 - C-135/17. Die Revision blieb im Ganzen erfolglos.

Gründe:
Die Hinzurechnung der Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter verstößt im Streitfall nicht gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 des Vertrags zur Gründung der EU i.d.F. des Vertrags von Nizza zur Änderung des Vertrags über die EU, der Verträge zur Gründung der EG sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, jetzt Art. 63 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die EU und des Vertrags zur Gründung der EG - AEUV.

Zwar wird die Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit auf den vorliegenden Fall einer in der Schweiz - einem Staat, der nicht Mitglied der EU oder Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ist (Drittstaat) - ansässigen Zwischengesellschaft nicht durch die sog. Standstill-Klausel des Art. 57 Abs. 1 EG (jetzt Art. 64 Abs. 1 AEUV) ausgeschlossen. Doch ist die in der Hinzurechnung liegende Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit unter den für den Streitfall maßgeblichen Umständen gerechtfertigt.

Die Prüfung, ob die Hinzurechnung der Zwischeneinkünfte mit den unionsrechtlichen Grundfreiheiten vereinbar ist, ist im Rahmen des Feststellungsverfahrens nach § 18 AStG 2006 und nicht im Rahmen der nachfolgenden Steuerfestsetzung durchzuführen. Art. 57 Abs. 1 EG steht der Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit auf die Hinzurechnung von im Jahr 2006 durch eine in der Schweiz ansässige Zwischengesellschaft erzielten Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter nicht entgegen. Gem. Art. 57 Abs. 1 EG berührt Art. 56 EG nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder, die am 31.12.1993 aufgrund einzelstaatlicher oder gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestehen.

Bei der im Streitfall gegebenen Beteiligung der Klägerin von 30 % an der Y-AG handelt es sich zwar um eine Direktinvestition i.S.d. Art. 57 Abs. 1 EG. Auch bestand zum Stichtag 31.12.1993 bereits ein System der Hinzurechnungsbesteuerung von Zwischeneinkünften mit Kapitalanlagecharakter. Die Anwendbarkeit der Standstill-Klausel scheiterte jedoch daran, dass jenes frühere System der Hinzurechnungsbesteuerung durch das StSenkG vom 23.10.2000 zwischenzeitlich in einer Weise grundlegend geändert wurde, dass die zum Stichtag bestehende Beschränkung des Kapitalverkehrs nicht ununterbrochen fortbestanden hat. Die Neuordnung der Hinzurechnungsbesteuerung durch das Steuersenkungsgesetz ist bei Prüfung der Voraussetzungen des Art. 57 Abs. 1 EG ungeachtet dessen zu berücksichtigen, dass die beschriebenen Änderungen der Rechtsfolgen der Hinzurechnung mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts v. 20.12.2001 wieder rückgängig gemacht wurde.

Die Hinzurechnung der festgestellten Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter führt zwar zu einer Beschränkung des Kapitalverkehrs mit einem Drittstaat i.S.v. Art. 56 EG, ist aber in der im Streitfall vorliegenden Konstellation (in der Schweiz ansässige Zwischengesellschaft für Zwischeneinkünfte des Wirtschaftsjahrs 2006) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses und insbesondere der Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerumgehung gerechtfertigt und verstößt daher nicht gegen Unionsrecht. Hierzu kann auf die EuGH-Rechtsprechung verwiesen werden, wonach Art. 63 Abs. 1 AEUV (Art. 56 Abs. 1 EG) dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die von einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft erzielten, nicht aus einer eigenen Tätigkeit dieser Gesellschaft stammenden Einkünfte wie die "Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter" i.S.d. Regelung anteilig in Hohe der jeweiligen Beteiligung in die Steuerbemessungsgrundlage eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen einbezogen werden, wenn der Steuerpflichtige zu mind. 1 % an der genannten Gesellschaft beteiligt ist und die Einkünfte im Drittland einem niedrigeren Besteuerungsniveau unterliegen als in dem betreffenden Mitgliedstaat, nicht entgegensteht, es sei denn, dass ein rechtlicher Rahmen besteht, der insbesondere vertragliche Verpflichtungen vorsieht, die es den Steuerbehörden dieses Mitgliedstaats ermöglichen können, die Richtigkeit der Informationen in Bezug auf die betreffende Gesellschaft zu überprüfen, die zum Nachweis dafür vorgelegt werden, dass die Beteiligung des Steuerpflichtigen an ihr nicht auf einer künstlichen Gestaltung beruht.

Da ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, Auskünfte zu den Tätigkeiten einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft, an der ein Steuerpflichtiger aus diesem Mitgliedstaat beteiligt sei, zu akzeptieren, ohne gegebenenfalls die Richtigkeit dieser Auskünfte überprüfen zu können, ist im konkreten Fall zu prüfen, ob zwischen Deutschland und der Schweiz insbesondere vertragliche Verpflichtungen bestehen, die einen rechtlichen Rahmen für die Zusammenarbeit und Mechanismen zum Austausch von Informationen zwischen den betreffenden nationalen Behörden begründen und die es den deutschen Steuerbehörden tatsächlich ermöglichen könnten, gegebenenfalls die Richtigkeit der Informationen in Bezug auf die in der Schweiz ansässige Gesellschaft zu überprüfen, die zum Nachweis dafür vorgelegt werden, dass die Beteiligung des Steuerpflichtigen an ihr nicht auf einer künstlichen Gestaltung beruht.

Sofern ein solcher rechtlicher, insbesondere vertraglicher Rahmen zwischen dem betreffenden Mitgliedstaat und dem betreffenden Drittstaat fehlt, ist davon auszugehen, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV den betreffenden Mitgliedstaat nicht daran hindert, eine entsprechende Regelung anzuwenden. Sollte sich dagegen herausstellen, dass ein solcher rechtlicher Rahmen besteht, muss der betreffende Steuerpflichtige in die Lage versetzt werden, die etwaigen wirtschaftlichen Gründe für seine Investition in dem betreffenden Drittland darzutun, ohne übermäßigen Verwaltungszwängen unterworfen zu werden. Maßgeblich ist demnach im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung, ob im Hinblick auf den im Streitfall zu beurteilenden Sachverhalt der Jahre 2005 und 2006 eine vertragliche Verpflichtung der Schweiz gegenüber den deutschen Steuerbehörden besteht, die es ermöglichen würde, die Richtigkeit der Angaben der Steuerpflichtigen in Bezug auf die Verhältnisse der Y - AG und die Umstände, denen zu folge die Beteiligung der Steuerpflichtigen an dieser Gesellschaft nicht auf einer künstlichen Gestaltung beruht, zu überprüfen. Dies war im Streitfall jedoch nicht gegeben.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.11.2019 13:12
Quelle: BFH online

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