OLG Düsseldorf v. 9.2.2022 - 12 U 54/21

Überschuldungsprüfung: Anforderungen an die Fortführungsprognose bei einem Start-Up Unternehmen

Bei einem Start-Up Unternehmen müssen im Rahmen der Überschuldungsprüfung die Anforderungen an die Fortführungsprognose im Lichte der Besonderheiten derartiger Unternehmen betrachtet werden. Ausreichend - aber auch erforderlich - ist, dass das Unternehmen mit überwiegender, d.h. mehr als 50%iger Wahrscheinlichkeit in der Lage ist, seine im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen aufgrund der Bereitstellung oder Zusage externer Finanzierungsmittel zu decken.

Der Sachverhalt:
Der Beklagte begehrt Prozesskostenhilfe für die Durchführung der Berufung gegen ein Urteil des LG, mit dem er kostenpflichtig verurteilt worden ist, an den Kläger ca. 60.000 € zu zahlen. In dem erstinstanzlichen Verfahren machte der Kläger als Insolvenzverwalter der X. UG (im Folgenden „Insolvenzschuldnerin“) Ansprüche gegen den Beklagten als deren ehemaligen Geschäftsführer geltend.

Die 2013 mit notarieller Vereinbarung errichtete Insolvenzschuldnerin war mit dem Vertrieb und der Entwicklung des Getränkes „X.“ betraut. Unter Ziffer 4 dieser Gesellschaftervereinbarung heißt es wie folgt:

„Die Gesellschaft wird sich mit der Weiterentwicklung, der Herstellung und dem Vertrieb des Getränkes „X.“ beschäftigen. Bei X. handelt es sich um ein fruchtiges Energy-Getränk, welches in geschmacklicher Hinsicht vornehmlich aus der brasilianischen Frucht Acai hergestellt wird. Aufgrund der Zusammensetzung der Inhaltsstoffe von X. gehen die Gesellschafter davon aus, dass X. eine erheblich alkoholabbauende Wirkung besitzt.“

Bevor X. in die endgültige Produktion ging, sollte die - erhoffte - alkoholabbauende Wirkung durch einen namentlich benannten Arzt mittels entsprechender medizinischer Untersuchungen und Studien untersucht werden. Dieser sollte im Gegenzug, sofern ihm dafür nicht 15.000 € von den Gesellschaftern zu gleichen Teilen gezahlt werden, berechtigt sein, einen im Rahmen einer Kapitalerhöhung neu zu schaffenden Geschäftsanteil zu zeichnen, so dass er nach Durchführung der Kapitalerhöhung 5 % an der Gesellschaft hält.

Gesellschafter der Insolvenzschuldnerin waren der Zeuge D., die E. GmbH (…, im Folgenden „E.“) sowie der Beklagte, welcher für den gesamten Zeitraum der Tätigkeiten der Insolvenzschuldnerin auch die Funktion ihres Geschäftsführers innehatte. Während der Laufzeit gewährte die E. - ihrerseits unter der Geschäftsführung des Zeugen K. - der Insolvenzschuldnerin mehrere Darlehen, deren Auszahlung streitig ist. Ferner leistete die E. verschiedentlich Zahlungen an die Insolvenzschuldnerin gegen eine Erhöhung ihres Anteils an dieser Gesellschaft.

Mit Jahresabschluss vom 31.12.2014 wurde ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag von ca. 31.000 € festgestellt. Die Gewinn- und Verlustrechnung für das Jahr 2014 ergab einen Verlust von ca. 70.000 €. Am 3.4.2017 stellte der Beklagte für die Insolvenzschuldnerin Insolvenzantrag, aufgrund dessen das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger als Insolvenzverwalter bestellt wurde.

Der Kläger behauptet, der Beklagte habe im Zeitraum vom 1.1.2015 bis zum 3.4.2017 masseschmälernde Zahlungen i.H.v. insgesamt ca. 60.000 € veranlasst.

Das LG gab der Klage auf Zahlung von ca. 60.000 € vollumfänglich statt.

Das OLG hat den Antrag des Beklagten auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen.

Die Gründe:
Die mit der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des LG beabsichtigte Rechtsverfolgung des Beklagten bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das LG hat der Klage rechtsfehlerfrei und mit zutreffender Begründung stattgegeben. Dem Kläger steht der geltend gemachte Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten aus § 64 Satz 1 GmbHG a.F. zu. Insbesondere ist mit dem LG davon auszugehen, dass keine positive Fortführungsprognose bestand.

Gemäß § 64 Satz 1 GmbHG a.F. sind die Geschäftsführer der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden. Überschuldung liegt nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO a.F. vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Ergibt die rechnerische Prüfung eine Überschuldung der GmbH, ist somit in einer zweiten Stufe eine Fortführungsprognose i.S. einer Prognose über die zukünftigen Geschäftsverläufe und die künftige - mittelfristige - Zahlungsfähigkeit des Unternehmens zu treffen.

Zunächst hat das LG zurecht festgestellt, dass jedenfalls ab dem 31.12.2014 eine Überschuldung gegeben war. Insbesondere lag weder ein qualifizierter Rangrücktritt noch eine harte Patronatserklärung vor, welche einer Überschuldung hätte entgegenstehen können.

Liegt eine rechnerische Überschuldung der Insolvenzschuldnerin vor, ist eine positive Fortführungsprognose erforderlich. Nach der Rechtsprechung des BGH setzt eine solche in objektiver Hinsicht die sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept herzuleitende Lebensfähigkeit des Unternehmens voraus. Dem schlüssigen und realisierbaren Unternehmenskonzept muss grundsätzlich ein Ertrags- und Finanzplan zugrunde liegen, der für einen angemessenen Prognosezeitraum aufzustellen ist und aus dem sich ergibt, dass die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig zur Fortführung des Unternehmens ausreicht.

Die Voraussetzungen einer positiven Fortführungsprognose sind vorliegend nicht erfüllt. Zwar ist die Situation eines Start-Up-Unternehmens eine andere, als die eines Unternehmens in der Krise, da solche jungen Unternehmen in ihrer Ideenumsetzung, Marktetablierung und Expansion in der Regel auf Außenfinanzierungen angewiesen sind und der Rückgriff auf eine Ertragsfähigkeit ihnen daher die Überlebensfähigkeit absprechen und sie zum Marktaustritt zwingen würde, so dass in diesen Fällen die Anforderungen an die Fortführungsprognose im Lichte der Besonderheiten derartiger Unternehmen betrachtet werden müssen. Ausreichend - aber auch erforderlich - muss es daher sein, dass das Unternehmen mit überwiegender, also mehr als 50 %iger Wahrscheinlichkeit in der Lage ist, seine im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen aufgrund der Bereitstellung oder Zusage externer Finanzierungsmittel zu decken.

Dies setzt voraus, dass eine nachvollziehbare, realistischen (Finanz‑)Planung mit einem operativen Konzept vorlag, das die geplante Geschäftsausrichtung erfolgversprechend erscheinen ließ. Denn eine mittelfristige Liquiditätssicherung wird in der Regel nur dann erreicht werden, wenn durch das operative Geschäft auf Dauer ausreichend eigene Erträge erzielt werden können, weil bei einer andauernden Fremdfinanzierung perspektivisch zu erwarten ist, dass diese an entsprechende Grenzen stoßen wird. Eine erfolgversprechende Marktentwicklung stellt einen Umstand dar, aus dem sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine positive Fortführungsprognose ergeben kann.

Vorliegend erschien die Finanzierung durch weitere Darlehen des Investors bis zu einer erfolgversprechende Marktentwicklung nicht gesichert.

Nach dem „Konzept“, wie es sich aus Ziffer 9 des Gesellschaftsvertrages ergibt, sollte „X.“ zukünftig als Wellness-Drink platziert werden, der helfen soll, die unangenehmen Begleiterscheinungen des Genusses von Alkohol zu minimieren. Nach dem Inhalt des Gesellschaftsvertrages sollte seinerzeit die erhoffte alkoholabbauende Wirkung von X. im Vorfeld einer möglichen Produktion erst noch untersucht werden. Wie weit dies im Jahr 2015 gediehen war, ist weder mitgeteilt noch sonst ersichtlich. Überdies fehlt jeglicher Vortrag dazu, dass eine solche Produktentwicklung irgendwie erfolgversprechend erschien. Schon die Finanzierung der 15.000 € für die Untersuchung im Vorfeld, die von den Gründungsgesellschaftern zu je 1/3 aufgebracht werden sollte, war offenbar keineswegs gesichert, weil der beteiligte Arzt im Falle der Nichtzahlung berechtigt sein sollte, Gesellschaftsanteile zu erwerben.

Der als Investor fungierende Zeuge K. hat die Bereitstellung weiterer Mittel nach dem Vorbringen des Beklagten nicht vom Vorliegen einer fortzuschreibenden, nachvollziehbaren sowie realistischen Planung und damit von objektivierbaren und nachprüfbaren Kriterien (etwa das Erreichen bestimmter Meilensteine oder konkreter Umsatzvorgaben) abhängig gemacht, sondern - insoweit weitestgehend unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung der Insolvenzschuldnerin - von der Übertragung von Gesellschaftsanteilen.

Im Ergebnis stellt dies keine ausreichende Basis für die Feststellung dar, dass der Beklagte in dem hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1.1.2015 bis zum 3.4.2017 von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen konnte.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Keine Notwendigkeit eines rechtlich gesicherten Anspruchs auf Finanzierungsbeiträge für positive Fortbestehensprognose bei Start-Up
OLG Düsseldorf vom 20.7.2021 - 12 W 7/21
Andreas Henkel, EWiR 2021, 628

Aufsatz:
Das Unternehmen in der Krise: Haftungsrisiken im Zusammenhang mit Patronatserklärungen
Anne Wittmann / Marc-Philipp Lücke, DB 2022, 781

Alles auch nachzulesen im Beratermodul Insolvenzrecht:
Kombiniert bewährte Inhalte von C.F. Müller und Otto Schmidt zu Insolvenzrecht, Sanierung und Restrukturierung in einer Online-Bibliothek. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO.
4 Wochen gratis nutzen!
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.07.2022 15:29
Quelle: Justiz NRW online

zurück zur vorherigen Seite