BGH v. 7.7.2022 - IX ZR 144/20

Abstehen vom Urkundenprozess im Berufungsverfahren

Ein Abstehen vom Urkundenprozess ist im Berufungsverfahren auch nach Erteilung eines gerichtlichen Hinweises auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch Beschluss zulässig, wenn der Beklagte einwilligt oder das Gericht es für sachdienlich hält.

Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht der M-GmbH auf Rückzahlung eines Darlehens nebst Zinsen in Anspruch. Die M-GmbH, vertreten durch ihren früheren Geschäftsführer P, gewährte der Beklagten mit Darlehensvertrag vom 4.3.2013 ein Darlehen über 37.000 €. Der Darlehensbetrag wurde unstreitig in bar an die Beklagte ausgezahlt. Der Kläger behauptet, der Anspruch auf Rückzahlung des Darlehensbetrags sei ihm mit Abtretungsvertrag vom 30.12.2016 von der M-GmbH, vertreten durch ihren aktuellen Geschäftsführer B, abgetreten worden. Er machte seine Ansprüche im Urkundenprozess geltend. Zum Beweis der Abtretung legte er eine Kopie des Abtretungsvertrags vom 30.12.2016 vor und erklärte, das Original des Vertrags sei nicht mehr auffindbar. Die Beklagte bestritt die Abtretung und die Echtheit der Abtretungsurkunde. Daraufhin legte der Kläger zum Beweis der Abtretung der Forderung eine von ihm und B unterzeichnete Vereinbarung vom 9.1.2019 vor, mit der die nach wie vor bestehende Gültigkeit der Abtretung bestätigt wurde.

Das LG wies die Klage als im Urkundenprozess unstatthaft ab, weil der Kläger den ihm obliegenden Beweis für die Abtretung der Darlehensforderung nicht mit im Urkundenprozess zulässigen Beweismitteln angetreten habe. Nach Berufungseinlegung und -begründung durch den Kläger wies das OLG gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO darauf hin, dass nach zutreffender Ansicht des LG die bestrittene Forderungsabtretung vom Kläger nicht mit im Urkundenprozess zulässigen Beweismitteln nachgewiesen worden sei und die Berufung daher keine Aussicht auf Erfolg habe. Der Kläger erklärte daraufhin, vom Urkundenprozess Abstand zu nehmen. Das OLG wies darauf hin, dass die Abstandnahme vom Urkundenprozess nach Erteilung eines Hinweises gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO unzulässig sei und wies die Berufung mit weiterem Beschluss zurück.

Auf die Revision des Klägers, mit der er in erster Linie die Durchführung des Berufungsverfahrens im ordentlichen Verfahren erreichen will, hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat zu Unrecht die von dem Kläger nach Erteilung des Hinweises gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO erklärte Abstandnahme vom Urkundenprozess als unzulässig angesehen.

Gem. § 596 ZPO kann der Kläger, ohne dass es der Einwilligung des Beklagten bedarf, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung von dem Urkundenprozess in der Weise abstehen, dass der Rechtsstreit im ordentlichen Verfahren anhängig bleibt. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein Abstehen vom Urkundenprozess auch noch im Berufungsverfahren in entsprechender Anwendung der Vorschriften über die Klageänderung zulässig, wenn der Beklagte einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält, und zwar mit der Wirkung, dass der Rechtsstreit im zweiten Rechtszug im ordentlichen Verfahren anhängig bleibt.

Bislang ist höchstrichterlich nicht entschieden, ob die Abstandnahme vom Urkundenprozess in der Berufungsinstanz auch dann noch zulässig erklärt werden kann, wenn das Berufungsgericht - wie hier - beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, oder ob dem eine entsprechende Anwendung von § 524 Abs. 4 ZPO entgegensteht. Diese Rechtsfrage ist dahingehend zu beantworten, dass eine entsprechende Anwendung von § 524 Abs. 4 ZPO nicht in Betracht kommt.

Das OLG wird das Verfahren als ordentliches Verfahren fortzuführen haben, weil der Kläger das Abstehen vom Urkundenprozess erklärt hat und dies sachdienlich war. Das OLG hat die Sachdienlichkeit der Abstandnahme vom Urkundenprozess nicht geprüft. Die Frage der Sachdienlichkeit unterliegt dem tatrichterlichen Ermessen; das Revisionsgericht kann die Verneinung der Sachdienlichkeit grundsätzlich nur darauf überprüfen, ob der Rechtsbegriff der Sachdienlichkeit verkannt oder die Grenzen des Ermessens überschritten worden sind. Wenn sich der Tatrichter zur Sachdienlichkeit aber - wie hier - überhaupt nicht geäußert hat, kann das Revisionsgericht die Prüfung selbständig nachholen.

Gesichtspunkte, die vorliegend gegen die Sachdienlichkeit des Abstehens vom Urkundenprozess sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Kläger möchte im ordentlichen Verfahren sein ursprüngliches Klagebegehren weiterverfolgen. Der Streitgegenstand bleibt dabei unverändert; es ist auch nicht ersichtlich, dass das Ergebnis der bisherigen Prozessführung nicht verwertet werden kann.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:

Urkundsprozess: Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit
BGH vom 09.03.2021 - II ZB 16/20
MDR 2021, 636

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.08.2022 09:15
Quelle: BGH online

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