BGH v. 7.7.2022 - IX ZB 14/21

Insolvenz: Zuständigkeit der deutschen Gerichte bei Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in anderen Mitgliedstaat

Die deutschen Gerichte bleiben für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, wenn der Eröffnungsantrag bei einem örtlich unzuständigen Insolvenzgericht gestellt worden ist und der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Verweisung an das örtlich zuständige Insolvenzgericht den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt.

Der Sachverhalt:
Mit Schriftsatz vom 24.10.2018 beantragte die weitere Beteiligte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Der Antrag ging am 28.10.2018 beim AG - Insolvenzgericht - Cottbus ein. Mit Beschluss vom 12.6.2019 verwies das AG Cottbus die Sache an das AG - Insolvenzgericht - Charlottenburg.

Die Schuldnerin bezweifelt die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte. Im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags beim AG Cottbus wies das Handelsregister als Sitz der Schuldnerin eine Ortschaft im Bezirk des AG Cottbus aus. Die Schuldnerin war dort jedoch nie tätig geworden. Im März 2017 hatte sie vielmehr in Berlin ein Gewerbe angemeldet. Mit notariellem Vertrag vom 24.4.2019 übertrug der damalige Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Schuldnerin seine Anteile auf eine in Polen ansässige Person. Zugleich wurde der Sitz der Gesellschaft nach Berlin verlegt und eine weitere in Polen ansässige Person zur Geschäftsführerin bestellt. Diese teilte dem Insolvenzgericht unter dem 25.7.2019 mit, sie führe die Geschäfte der Schuldnerin ausschließlich von Polen aus.

Das AG - Insolvenzgericht - Charlottenburg wies den Eröffnungsantrag mit Beschluss vom 8.7.2019 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse ab. Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin blieb ebenso erfolglos wie die vorliegende Rechtsbeschwerde vor dem BGH

Die Gründe:
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte richtet sich nach Art. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 (Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren - EuInsVO). Nach Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 EuInsVO sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dabei kommt es, wie der EuGH zunächst zu der Vorgängervorschrift des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 (EuInsVO 2000) entschieden hat, auf den Zeitpunkt der Antragstellung an, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt. Nach Erlass der Entscheidung des LG hat der EuGH für Art. 3 Abs. 1 EuInsVO entsprechend entschieden (EuGH, Urteil vom 24.3.2022 - C-723/20, ZIP 2022, 698). Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist ebenfalls dahingehend auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird.

Im Zeitpunkt des Eingangs des Eröffnungsantrags beim AG Cottbus, am 28.10.2018, befand sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin im Inland, nämlich in Berlin. Die Geschäftsanteile wurden erst am 24.4.2019 an eine in Polen ansässige Person veräußert. Die in Polen ansässige Geschäftsführerin ist ebenfalls erst am 24.4.2019 bestellt worden. Erst nach diesem Zeitpunkt können die Geschäfte der Schuldnerin, deren satzungsmäßiger Sitz nach wie vor im Inland lag, von Polen ausgeführt worden sein.

Darauf, ob das AG Cottbus örtlich zuständig war, kommt es bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nicht an. Nach deutschem Recht lief seit dem 28.10.2018 ein Insolvenzantragsverfahren gegen die Schuldnerin. Ein Insolvenzantrag wird mit Eingang bei dem zuerst angerufenen Insolvenzgericht (vgl. § 2 Abs. 1 und 2 InsO) anhängig. Das Zulassungsverfahren beginnt. Stellt das zunächst angerufene Gericht seine fehlende örtliche Zuständigkeit fest (vgl. § 3 Abs. 1 InsO), verweist es die Sache auf Antrag an das örtliche zuständige Insolvenzgericht. Durch die Verweisung wird kein neues Eröffnungsverfahren begründet. Das bisher bei dem unzuständigen Gericht geführte Verfahren wird bei dem Gericht fortgesetzt, an welches es verwiesen worden ist, und zwar in dem Stadium, in welchem es sich im Zeitpunkt der Verweisung befand. Der europäische Bezug des vorliegenden Verfahrens ändert hieran nichts. Die EuInsVO regelt wie ihre Vorgängerverordnung nur die internationale Zuständigkeit eines angerufenen Gerichts. Dazu, welche Gerichte in den Mitgliedstaaten sachlich und örtlich zuständig sind, sagt sie nichts. Darüber entscheiden die Mitgliedstaaten selbst. Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit unabhängig von Einzelfragen der örtlichen und sachlichen Zuständigkeiten nach nationalem Recht entspricht i.Ü. auch dem Sinn und Zweck der EuInsVO.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Vertrauliche Restrukturierungspläne für ausländische Schuldner
Stephan Madaus, ZIP 2022, 1233

Rechtsprechung:
Zur internationalen Zuständigkeit für Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens bei Verlegung der Hauptverwaltung der Schuldnergesellschaft nach Antragstellung ("Galapagos BidCo.")
EuGH vom 24.03.2022 - C-723/20
ZIP 2022, 698

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.08.2022 11:26
Quelle: BGH online

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