FG Münster v. 19.12.2022 - 4 K 1158/20 L

Rechtswidrige Ermessensentscheidung aufgrund erstmals im Klageverfahren vorgetragener Umstände

Im Klageverfahren gegen einen Haftungsbescheid vom Haftungsschuldner (Hier: der Geschäftsführer einer GmbH) erstmals vorgetragene Umstände können dazu führen, dass sich die vom Finanzamt getroffene Ermessensentscheidung als rechtswidrig erweist.

Der Sachverhalt:
Der Kläger wurde vom Finanzamt als Geschäftsführer einer GmbH für deren Steuerrückstände nach § 69 AO in Haftung genommen. Nachdem er im Einspruchsverfahren gegenüber dem Finanzamt nicht den vollständigen Sachverhalt dargelegt hatte, gab er im Klageverfahren erstmals wahrheitsgemäß an, dass er lediglich als sog. Strohmann fungiert habe und tatsächlich von einem faktischen Geschäftsführer von der Geschäftsführung ausgeschlossen gewesen sei. Ferner stellte sich im Klageverfahren heraus, dass der Kläger seine Geschäftsführerstellung bereits vor Beginn des Haftungszeitraums aufgrund rechtskräftiger Verurteilung wegen Insolvenzverschleppung kraft Gesetzes verloren hatte.

Das FG gab der Klage statt. Die beim BFH anhängige Revision des Finanzamts wird dort unter dem Az. VII R 4/23 geführt.

Die Gründe:
Die streitgegenständliche Haftungsinanspruchnahme ist schon deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil die vom Finanzamt getroffene Ermessensentscheidung keinen Bestand haben kann.

Es konnte offenbleiben, ob bereits die Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftungsinanspruchnahme des Klägers wegen des Wegfalls seiner nominellen Geschäftsführerstellung entfallen sind. Jedenfalls hat sich die Ermessensentscheidung des Finanzamts nachträglich als fehlerhaft erwiesen. Dem Finanzamt ist zwar keine Ermittlungspflichtverletzung vorzuwerfen, weil vielmehr der Kläger versäumt hat, den Sachverhalt im Einspruchsverfahren vollständig und zutreffend darzulegen. Dies führt jedoch nicht dazu, dass nachträglich bekannt gewordene Umstände nicht mehr berücksichtigt werden dürfen.

Vielmehr ist der im Haftungsbescheid getroffenen Ermessensentscheidung im Klageverfahren in zweifacher Hinsicht der Boden entzogen worden. Durch die rechtskräftige Verurteilung des Klägers wegen Insolvenzverschleppung hat er sein Amt als Geschäftsführer kraft Gesetzes verloren. Der Rechtsschein des Handelsregisters, in dem er weiterhin als Geschäftsführer eingetragen war, reicht für eine Haftung nach § 69 AO nicht aus. Ferner hat das Finanzamt sein ihm wegen der Existenz eines faktischen Geschäftsführers zustehendes Auswahlermessen nicht erkannt. Diese neu bekannt gewordenen Umstände sind geeignet, eine für den Kläger günstigere Ermessensentscheidung zumindest zu ermöglichen.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Aktuelle Rechtsprechung zum Verfahrensrecht
Reinold Borgdorf, AO-StB 2022, 88

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.02.2023 11:09
Quelle: FG Münster NL vom 15.2.2023

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