Dr. Hans-Peter Löw,
Rechtsanwalt, Frankfurt a. M.*

Hat der Flächentarifvertrag noch Zukunft?

Das für die IG Metall desaströse Ende des Metaller-Streiks im Osten zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche ist nicht Anlaß, sondern Höhepunkt der Diskussion um die Zukunft des Flächentarifvertrags. Welche Merkmale des Flächentarifvertrags fesseln die Beteiligten? Die Problematik soll zunächst anhand zweier realer Beispiele demonstriert werden.

Beispiel 1 (Viessmann): Der Arbeitgeber plant die Eröffnung einer neuen Produktlinie in Tschechien. Dadurch sind mittelfristig auch Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet. Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbaren daher eine vorübergehende Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich gegen den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. Außerdem bleibt die Investition in die neue Produktlinie in Deutschland. Mehr als 96 % der Arbeitnehmer stimmt dieser Regelung zu. Das ArbG Marburg bezeichnet das Vorgehen des Betriebsrats auf Antrag der IG Metall als grobe Pflichtverletzung.

Beispiel 2 (Burda): Zur Sicherung eines konkret gefährdeten Standorts vereinbaren Arbeitgeber und Betriebsrat die vorübergehende Absenkung tariflicher Leistungen gegen eine Standortgarantie und den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen. 98,5 % aller Arbeitnehmer stimmen zu. Das BAG gewährt der Gewerkschaft ein Klagerecht gegen eine tarifwidrige Einheitsregelung und lehnt es ab, die Arbeitsplatzgarantie bei längerer Arbeitszeit als günstiger anzusehen als die kürzere Arbeitszeit. Man könne keine Äpfel mit Birnen vergleichen.

Die Fesseln des Flächentarifvertrags

Beide Beispiele veranschaulichen, daß die gesetzlichen Regelungen offensichtlich betriebliche Bündnisse für Arbeit, die von einer überwältigenden Mehrheit der Belegschaft getragen werden, nicht zulassen. Woran liegt das?

Tarifbindung und Günstigkeitsprinzip

Nach § 4 Abs. 1 TVG gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnisses ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Nach § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende Abmachungen nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Diese Vorschrift ist de lege lata die zentrale Norm zur Flexibilisierung des starren Flächentarifvertrags: Sie bietet zwei Möglichkeiten: Entweder gestattet der Tarifvertrag eine Abweichung von dem Inhalt seiner Rechtsnormen oder die Abweichung enthält eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers. Im ersteren Fall sprechen wir von Öffnungsklauseln. Im zweiten Fall ist die entscheidende Frage, wann eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers wirkt. Das BAG wendet hier seit Jahrzehnten den Sachgruppenvergleich an, wonach Arbeitszeit nur mit Arbeitszeit, Entgelt nur mit Entgelt und Kündigungsschutz nur mit Kündigungsschutz verglichen werden kann. Nach überwiegender Expertenmeinung handelt es sich dabei um einen folgenreichen ökonomischen Irrtum. Das Ergebnis der Rechtsprechung des BAG zum Günstigkeitsprinzip ist nach Auffassung des Sachverständigenrats der Bundesregierung "wurmstichiges Fallobst".

Tarifgebundenheit und Nachwirkung

Nach § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Das heißt, daß der Austritt aus dem Arbeitgeberverband einem Arbeitgeber nicht erlaubt, vom Tarifvertrag abzuweichen. Dies ist erst dann der Fall, wenn der Tarifvertrag endet, sei es durch Ablauf der Laufzeit, sei es durch Kündigung. Aber auch dann ist der Arbeitgeber noch nicht frei. Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen nämlich nach § 4 Abs. 5 TVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

Tarifvorrang

Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und andere Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dabei kommt es nach ganz h.M. nicht darauf an, ob ein Tarifvertrag für den jeweiligen Betrieb tatsächlich gilt oder nicht. Auch wenn der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist, kann er mit seinem Betriebsrat im Rahmen des Tarifüblichen keine Betriebsvereinbarung abschließen.

Outsourcing

Sofern sich das Outsourcen einzelner betrieblicher Funktionen als Betriebsübergang i.S.d. § 613a BGB darstellt, ist der neue Betriebsinhaber in der Regel an die bisher maßgeblichen Tarifverträge gebunden, sofern nicht die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags geregelt werden. Das setzt nach der Rechtsprechung beiderseitige Tarifgebundenheit voraus. Sofern sich durch die Outsourcing-Maßnahme und die damit verbundene Änderung des Unternehmensgegenstandes auch die Tarifzuständigkeit auf Gewerkschaftsseite verändert, die tarifgebundenen Arbeitnehmer aber nicht zu der jetzt zuständigen Gewerkschaft überwechseln, ist der jetzt nicht mehr fachlich einschlägige Tarifvertrag zementiert.

Die sinnvolle Tarifanpassung bei Wechsel des Unternehmensgegenstands wird zusätzlich erschwert durch die in neuerer Zeit restriktivere Auslegung von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln. Während in der Vergangenheit die Tendenz bestand, solche Klauseln als Gleichstellungsabreden auszulegen, deren Inhalt sich mit einer Änderung des einschlägigen Tarifvertrags ebenfalls ändert, meint das BAG in jüngerer Zeit, aus der Erwähnung eines bestimmten Tarifvertrags auf eine konstitutive Bedeutung schließen zu müssen.

Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen

Nach § 5 TVG kann der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Einvernehmen mit einem Tarifausschuß auf Antrag einer Tarifvertragspartei einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 von 100 der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Auch der nicht tarifgebundene Arbeitgeber muß in einem solchen Fall den Tarifvertrag anwenden. Besonders die zuverlässige Ermittlung des Quorums bereitet in der Praxis Schwierigkeiten. Insofern ist eine großzügige Handhabung festzustellen. Die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung liegt in der Vervollständigung der Kartellwirkung des Tarifvertrags unter dem Vorwand der Verhinderung von "Schmutzkonkurrenz".

Besonderheiten am Bau

Im Baugewerbe ist das Tarifkartell durch gesetzgeberische Maßnahmen weiter perfektioniert. Das Arbeitnehmerentsendegesetz i.V.m. dem Tarifvertrag Mindestlohn stellt ein einzigartiges Instrument einer internationalprivatrechtlichen Kollisionsnorm dar. Die Vergabegesetze einiger Länder verpflichten öffentliche Auftraggeber, Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die eine Tariftreueerklärung abgegeben haben. Über die Europarechtskonformität beider Regelungen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Änderungen der tatsächlichen Rahmenbedingungen

Die wesentlichen Gründe für diesen unbefriedigenden Rechtszustand können hier nur skizziert werden.

Die Rechtsprechung des BVerfG zu Art.9 Abs. 3 GG, auf der heute noch die Rechtsprechung des BAG beruht, stammt aus einer Zeit, als mehr als 80 % der Arbeitnehmer gewerblich tätig waren und von diesen mehr als 90 % Gewerkschaftsmitglieder waren. Setzt man heute die Zahl der Mitglieder in den Gewerkschaften des DGB ins Verhältnis zur Zahl aller Beschäftigten, so ergibt sich ein durchschnittlicher Organisationsgrad von knapp über 20 %, unter Berücksichtigung von Arbeitslosen und Rentnern von unter 15 %.

Der Wandel von der industriellen Gesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft und die insbesondere in den letzten Jahren sprungartige Entwicklung der Datenverarbeitungstechnik erlauben individuelle Arbeitsorganisationsmodelle, die sich einer schematischen Regelung in der Fläche entziehen.

Während bis in die späten 80er Jahre die herrschende Unternehmensstrategie von Diversifizierung und Integration geprägt war, steht heute die Besinnung auf die Kernkompetenzen im Vordergrund. Dies mündet im Outsourcing und in der Ausdifferenzierung der Unternehmenslandschaft, die durch relativ wenige branchenbezogene Flächentarifverträge nicht angemessen erfaßt wird.

Ihre besondere Ausprägung findet diese Tendenz in der Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Das starre Korsett des Bundesangestelltentarifvertrags und besonders die Zusatzversorgung des öffentlichen Diensts erschweren angemessene Regelungen.

Die international arbeitsteilige Wirtschaft nimmt keine Rücksicht darauf, ob man Äpfel mit Birnen vergleichen kann oder nicht.

Politische Konsequenzen

In seiner Regierungserklärung vom 14.3.2003 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder folgendes erklärt:

"Art. 9 GG gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9 GG verpflichtet die Parteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.

Ich erwarte also, daß sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt -- aber in weit größerem Umfang -- auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben."

Konsequenterweise heißt es auch im OECD-Länderbericht Deutschland wie folgt:

"Current opportunities to deviate from collective wage contracts are not enough. The legislation governing wage determination should allow agreements between a company’s work force and the management to override collective agreements."

Diese Passage wurde allerdings "auf Anregung der Bundesregierung" durch eine weichgespülte Formulierung ersetzt.

Alle bisher diskutieren Reformvorschläge kreisen um § 4 Abs. 3 TVG, indem sie entweder durch gesetzliche Definition das Günstigkeitsprinzip vom Sachgruppenvergleich trennen wollen oder indem sie gesetzliche Voraussetzungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit definieren. Diese sollen danach möglich sein, wenn der Betriebsrat zustimmt und 75 % -- 90 % der Arbeitnehmer ihr Einverständnis erklären.

Wie aber gezeigt, ist § 4 Abs. 3 TVG nicht die einzige Fessel des Flächentarifvertrags.

Ausblick

In der jetzigen Ausprägung hat der Flächentarifvertrag keine Zukunft. Es bleibt abzuwarten, ob die ökonomische Vernunft eine fällige Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Flächentarifvertrags zuläßt, und zwar nicht nur durch Öffnungsklauseln, oder ob die starre Haltung der Gewerkschaften zu einer Verteidigung des Flächentarifvertrags auch unter Inkaufnahme seiner inhaltlichen Entleerung führt.

 

* LOVELLS.

 


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